«Was wir initiieren, ist ein längerer Prozess»

Die aktuellen pastoralsoziologischen Entwicklungen sind vor allem in den Gottesdiensten sichtbar. Das Liturgische Institut will Seelsorgende in ihrer Antwort auf diesen Veränderungsprozess unterstützen und entwickelte hierfür eine besondere Werkstatt.

Präsentation der Ergebnisse der Gruppenarbeit an der «Werkstatt für Wandlung: Kirchenerneuerung durch Gottesdienst» im Mattli Antoniushaus. (Bild: zvg)

 

SKZ: Vom 23. bis 25. Oktober führten Sie, Frau Brüske, mit anderen Referenten die «Werkstatt für Wandlung: Kirchenerneuerung durch Gottesdienst»1 durch. Was war Ihre Motivation, dieses neue Format anzubieten?
Gunda Brüske*: Die Werkstatt hat eine längere Vorgeschichte. Die aktuellen, grossen pastoralsoziologischen Veränderungen betreffen auch die Liturgie. Wie reagieren wir als Liturgisches Institut auf diese Entwicklungen? Für uns ist klar: Wir möchten die Seelsorgerinnen und Seelsorger in den Pfarreien in diesem Veränderungsprozess unterstützen und begleiten. Wir haben dafür die Untersuchungen des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts St. Gallen analysiert. Wir wollten und wollen die Entwicklungen verstehen. Natürlich können wir nicht für alle Pfarreien und Seelsorgerinnen und Seelsorger in der deutschsprachigen Schweiz individuell da sein. Wir können über Pilotprojekte für sie da sein, in denen sie sich vernetzen, ihre Erfahrungen teilen, voneinander lernen und miteinander einen Weg gehen können. Darüber hinaus haben wir als Team des Liturgischen Instituts unsere Vision weiterentwickelt. Neu heisst sie: «Gott feiern verändert». Dazu müssen Gottesdienste kraftvoll sein. Mit Gottesdiensten meine ich verschiedene Feierformen: von der Eucharistiefeier bis zum Bibelteilen, das für mich ein einfacher kleiner Gottesdienst ist.

Wie sind Sie die Werkstatt konkret angegangen?
Es gibt schon verschiedene laufende Projekte hierzulande und an anderen Orten. Wir leiten das Projekt «Exemplarische liturgische Orte», dabei begleiten wir Pfarreien wie jene von Brig-Glis.2 In Deutschland und Österreich laufen an mehreren Orten Erneuerungsprozesse. Wir besuchten Orte, wo etwas Innovatives entsteht. So fuhren wir 2018 zusammen mit dem Freundeskreis des Liturgischen Instituts nach Hildesheim. Auch die Erzdiözese Wien ist im Blick auf Innovation und Erneuerung ein interessanter Ort. Sie geht schon seit mehr als zehn Jahren einen Weg der Erneuerung unter dem Titel «Diözesaner Entwicklungsprozess APG2.1».3 Dabei stand für mich stets die Frage der Inkulturation in den Schweizer Kontext im Raum. Ich bin dann auf Menschen zugegangen, die im Bereich Kirchenerneuerung tätig sind und denen die Liturgie ein Herzensanliegen ist. So kontaktierte ich Christian Hennecke in Hildesheim und den reformierten Theologen Ralph Kunz. Darüber hinaus ging ich auf den Dramaturgen und Regisseur Bernward Konermann zu. Mein Ziel war ein Projekt, in dem Kirchenerneuerung und Gottesdienst zusammengehen. Mit Hennecke, Kunz und Konermann habe ich die «Werkstatt für Wandel: Kirchenerneuerung durch Gottesdienst» entwickelt. Uns war klar, dass es ein Konzept braucht, das weit über einzelne Massnahmen hinausgeht und auf einen längeren Prozess hin angelegt ist. Es ging nicht darum, einen einzelnen Gottesdienst kraftvoller zu gestalten, so wertvoll das in sich ist. Doch einzelne Massnahmen erscheinen mir angesichts der grossen Veränderungen, in denen wir stehen, wie ein Tropfen auf einen heissen Stein. Wichtig war uns auch, dass wir einen Kurs für Gruppen und nicht für Einzelpersonen anbieten. Anmelden konnten sich Gruppen ab drei Personen, davon eine hauptamtlich, aus einer Pfarrei oder einem Pastoralraum. Die hauptamtliche Person gewährt die Vernetzung im Pastoralraum bzw. in der Pfarrei. Im Idealfall sind die Gruppen gemischt: Hauptamtliche, Nebenamtliche und Ehrenamtliche.

Weshalb legen Sie den Fokus so stark auf Gruppen?
Um Entwicklungen in einer Pfarrei bzw. einem Pastoralraum zu initiieren, braucht es mehrere Menschen, die dieselbe Vision teilen. Zusammen geht der Weg leichter – die Widerstände werden kommen; in Gruppen können die Personen gemeinsam Lösungen finden, Ideen und Freude teilen und sich stärken. Was wir mit diesem neuen Format initiieren, ist ein längerer Prozess. Wenn er von mehreren Personen in einer Pfarrei getragen wird, hat er die grössere Chance, Gestalt anzunehmen und Entwicklungen in Gang zu setzen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass er zum Beispiel mit einem Personalwechsel aufhört. Während der Werkstatt haben wir viel Partizipation in den Gruppen erlebt und erfahren, wie sie gemeinschaftliche Kommunikationsformen entwickeln und leben.

Der erste Werkstatt ist erfolgreich vorbei. Wie geht es weiter?
Als die Gruppen am Dienstagvormittag an ihrer Vision arbeiteten, haben wir uns als Leitung zusammengesetzt und überlegt, wie es weitergehen kann. Unsere Idee von «Wandlungstagen» stiess bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf grosses Echo. Ziel dieser vierteljährlichen «Wandlungstage» ist die fachliche Begleitung und gegenseitige Unterstützung. Die Gruppen sollen sich untereinander stärken, beraten und vernetzen können. Die Tage sollen thematisch angelegt sein und in den Arbeitsformen genauso interaktiv und kreativ bleiben wie in der Werkstatt. Vierteljährlich tönt auf den ersten Blick sportlich. Wenn jemand an einem Treffen nicht teilnehmen kann, dann ist der zeitliche Abstand bis zum nächsten kleiner, als wenn wir nur halbjährliche oder jährliche Treffen anvisieren. Es ist ein Experiment und ein innovatives Gefäss, das sich mit den Projektgruppen zusammen entwickeln wird. Wir beginnen bereits am 21. Januar. Es wird weitere Kurse «Werkstatt für Wandlung: Kirchenerneuerung durch Gottesdienst» geben. Den nächsten sehen wir für 2024 vor. Für die am Kurs Teilnehmenden war am Schluss klar, dass sie als Gruppen grösser werden wollen. Ihr Ziel ist, dass mehr Personen aus der Pfarrei bzw. dem Pastoralraum Anteil nehmen an der erarbeiteten Vision, diese mittragen und mit ihnen auf dem Weg sind. Das erzeugt Kraft.

Was wünschen Sie sich für dieses neue Format in Zukunft?
Der Kurs war ökumenisch angelegt. Leider war keine Gruppe aus der reformierten Kirche dabei. Ursprünglich waren drei reformierte Gruppen angemeldet. Wir mussten wegen der Corona-Pandemie den Kurstermin zweimal verschieben. Ihnen ging das jetzige Datum nicht mehr. Ich hoffe, dass bei den Wandlungstagen auch Gruppen aus der reformierten Tradition dabei sein werden und vielleicht auch weitere Kirchen aus dem nahen Ausland. Jetzt war eine Gruppe aus dem Vorarlberg dabei. Potenzial sehe ich auch bei Gruppen, die ausserhalb der Pfarreistruktur zu verorten sind, so zum Beispiel Klöster. Ich wünsche mir, dass sich weitere Gruppen auf einen längeren Weg der Kirchenerneuerung durch Liturgie einlassen. Die Wege werden vielfältig sein. Das brauchen wir im Blick auf die Anforderungen der Zukunft.

Was war die Motivation der Gruppen, diese Werkstatt zu besuchen?
Die Situationen der teilnehmenden Gruppen sind recht unterschiedlich und daher auch ihre Motivation. Eine Gemeinde ist zum Beispiel mitten in einem Erneuerungsprozess und sieht im Bereich Liturgie weitere Möglichkeiten. Andere arbeiten verschiedentlich an einer Erneuerung der Liturgie und wollen nun intensiver am Thema arbeiten und vor allem ins Handeln kommen. Ich beobachte allgemein, dass der Gottesdienst den Menschen unter den Fingernägeln brennt. In Gottesdiensten ist der Rückgang der aktiven Gläubigen sehr stark sichtbar. Viele Seelsorgerinnen und Seelsorger verspüren den Impuls, an dieser Stelle zu arbeiten und etwas in Bewegung zu bringen. Hinzu kommt: Der Gottesdienst prägt die öffentliche Wahrnehmung von Kirche. Kirche ist im Gottesdienst erkennbar. Es gilt einerseits, die Einbrüche der Mitgliederzahlen anzuerkennen. Es gilt andererseits zu sehen, dass wir über den Gottesdienst immer noch viele Menschen erreichen. Ein Vertreter der evangelisch-lutherischen Kirchen in Bayern erzählte bei einem Fachgespräch von einer Untersuchung bei aus der Kirche Ausgetretenen. Befragt wurden Personen, die vor einem halben Jahr, einem Jahr und zehn Jahren die Kirche verlassen haben. Eine Frage lautete: «Wenn Sie sich der Kirche wieder annähern wollten, wo würden Sie mitmachen?» Es gab eine Aufzählung von Möglichkeiten. Der Gottesdienst wurde von den Befragten am meisten angekreuzt. Das hat mich überrascht. Ich vermute, dass hier eine Rückbindung an frühere Gottesdiensterfahrungen wirksam wird. Es gibt eine langfristige Bindung an den Gottesdienst. Obwohl Gottesdienste in mancher Hinsicht anspruchsvoll sind, scheinen sie eine Chance für die Rückkehr zu sein.

Der Werkstatt geht es um Kirchenerneuerung. Sie verbinden Erneuerung und Gottesdienst. Was hat es damit auf sich?
Theologisch gehen das Gottesdienstbild und Kirchenbild zusammen. In der frühen Kirche gab es Hausgemeinden und entsprechend feierten sie ihre Gottesdienste anders als wir heute. Wenn Sie in die Kirchengeschichte schauen, finden Sie eine Reihe von Beispielen, wo das Liturgie- und das Kirchenbild einander prägen und bedingen. Das Zweite Vatikanische Konzil stellte neu die Kirche ins Zentrum – Kirche als Gemeinschaft und Volk Gottes. Das Erleben von Gemeinschaft in Gruppen und von Gemeinschaft im Gottesdienst wurde wichtiger. Mit der Entwicklung der Kirche verändert sich die Liturgie, neue Kirchenbilder führen zu neuen Bildern von Liturgie. Die Treue zum Ursprung bleibt selbstverständlich. Aus diesem Grund ist es für mich ein sehr fruchtbarer Ansatz, gleichzeitig am Kirchen- und Liturgiebild zu arbeiten. Das habe ich in verschiedenen Zusammenhängen erlebt, unter anderem an den exemplarischen liturgischen Orten. Abgesehen von der Arbeit mit Projektgruppen haben wir uns als Team des Liturgischen Instituts gefragt, was grundsätzlich überall eine Hebelwirkung entfalten kann. Wir sehen drei Hebel: Der erste Hebel ist die Predigt. Die Gläubigen erwarten eine gute Predigt, und wir wollen etwas mitgeben. Der zweite Hebel ist der Gemeindegesang. Gemeinsames Singen ist ein sehr starkes gemeinschaftsförderndes Element und prägt durch die Inhalte der Lieder unseren Glauben. Als dritten Hebel haben wir die Willkommenskultur identifiziert. Das ist der anspruchsvollste Hebel. Es geht darum, dass alle zu einer Willkommenshaltung finden und diese nicht an eine kleine Gruppe delegiert wird. Willkommenskultur und Gastfreundschaft sind starke Faktoren in Erneuerungsprozessen. Ich erzähle Ihnen ein Beispiel: In England forderte ein Pfarrer die Gläubigen auf, je eine Person für einen bestimmten Sonntagsgottesdienst einzuladen. Am besagten Gottesdienst waren ein paar Menschen mehr dabei. Entscheidend waren nicht die paar Personen mehr, sondern was in der Gemeinde passierte. Was passiert, wenn wir andere einladen? Was passiert, wenn ich eine Bekannte zum Gottesdienst einlade? Es setzt eine Identifizierung mit dem Gottesdienst und mit der Pfarrei voraus. Ich frage mich, wen ich einladen könnte und auch warum. Ich weite meinen Blick. Inzwischen gibt es in den meisten englischen Diözesen die sogenannten Back-to-Church-Sundays. Kirchenerneuerung durch Gottesdienst wirkt auf die Kirchenbilder und auf die Partizipation aller.

Sie haben mir geschrieben, dass Sie zu einer Studienreise in Wien waren. Worum ging es auf dieser Studienreise?
Die Tage in Wien waren sehr reich an Erfahrungen. Der Erneuerungsprozess in der Erddiözese Wien APG2.1 ist nicht nur ein Strukturprozess, sondern biblisch-geistlich orientiert. APG2.1 ist ein Wachstumsweg in die Tiefe. Die Verantwortlichen von APG2.1 führten mit uns einen Tag durch, so wie sie es zum Beispiel bei Konferenzen mit ihren Dekanen machen. Ausserdem kamen Feiern wie ein Taufgedächtnis dazu, das es auch bei den Diözesanversammlungen mit über 1000 Personen gab. Wir – das Liturgische Institut und Asipa4 – wollten miterleben, wie sie arbeiten. Inhaltlich haben sie uns gezeigt, welchen Weg sie mit APG2.1 gegangen sind. Methodisch haben sie uns Elemente und Schritte aus ihren Veranstaltungen gezeigt. Nach dem Begrüssungskaffee traten wir in einen mit blauem Licht erhellten Raum. Eine Person trug eine rote Schwimmweste. Wir hörten in Abschnitten den Bericht von der Reise des Paulus nach Rom mit dem Schiffbruch vor Malta. Dazu gab es ein Video mit Bildern von Meer, Landung, Gebäuden, Personen – alles in schnellen Schnitten. Für mich war das eine sehr eindrückliche sinnliche Inszenierung. Es war, als wäre ich dabei gewesen: mit Paulus im Sturm, mit ihm gerettet und ich erlebte ihn als Persönlichkeit. Daraufhin gab es einen Austausch über das Erlebte und die gegenwärtige Situation der Kirche. Die Verantwortlichen erzählten uns von verschiedenen Projekten im Laufe des mehr als zehnjährigen APG2.1-Weges. Es gab eine Reise nach Rom und auch eine Kreuzfahrt auf den Spuren des hl. Paulus. Auf dem Schiff gab es keinen Gottesdienstraum. So entwickelten sie beispielsweise einen tragbaren Ambo aus ultraleichtem Alu und Plexiglas. Der passt in eine Umhängetasche und kann überall aufgestellt werden. Das ist eine der Innovationen im Bereich der Liturgie, die der APG2.1-Weg anstiess.

Was haben Sie aus Wien mitgenommen?
Alles, was ich bzw. wir erlebt haben. Die Tage waren sehr eindrücklich: Mich beeindruckte, wie stark sich die Gruppe auf den Prozess eingelassen hat und was in der Gruppe durch die gemeinsamen Erlebnisse entstanden ist. Und dann gefällt mir der mobile Ambo, so einen wünsche ich mir. Die Studientage in Wien haben meine Überzeugung bekräftigt, dass wir als Liturgisches Institut den Weg nur gemeinsam mit anderen gehen können. Das gemeinsame Unterwegssein ist so wichtig und zentral. Deshalb arbeiten wir mit Projektgruppen in der Werkstatt für Wandlung und bald an den Wandlungstagen, deshalb die Studienreise und der Weg mit exemplarischen liturgischen Orten. Ein afrikanisches Sprichwort lautet: «Wenn du schnell gehen willst, geh' alleine. Wenn du weit kommen willst, geh‘ gemeinsam.»

Interview: Maria Hässig

 

* Dr. theol. Gunda Brüske (Jg. 1964) studierte in Göttingen, Jerusalem und München Theologie. 1998 promovierte sie mit einer Arbeit über Romano Guardini. Seit 2004 arbeitet sie im Liturgischen Institut der deutschsprachigen Schweiz. Neben der Leitung sind ihre Schwerpunkte liturgische Aus- und Weiterbildung, die Website liturgie.ch und die Wort-Gottes-Feier. Sie ist u.a. Dozentin im Studiengang Theologie (TBI).

1 Den Bericht zur ersten Werkstatt finden Sie unter: www.liturgie.ch

2 Mehr zu diesem Projekt in Brig-Glis finden Sie in dieser Ausgabe auf S. 527.

3 Mehr Informationen: www.erzdioezese-wien.at

4 Mehr Informationen: www.asipa.ch