Was ist im siebten Himmel?

22. Sonntag im Jahreskreis: Hebr 12,18–19,22–24a (Sir 3,17–18.20.28–29; Lk 14,1.7–14)

Die Sehnsucht nach Glück ist eine Grundkonstante des menschlichen Daseins. Erlebte Glücksmomente werden umgangssprachlich gerne als «himmlisch» bezeichnet. Das Faustische im Menschen lädt diese Augenblicke zum Verweilen ein. Wie aber dauerhaftes himmlisches Glück aussehen soll, ist nur schwer zu greifen und zu definieren. Statt der Antwort, was Glück ist, wird oft nur die Abwesenheit von Unglück – keine Krankheit, kein Leid, kein Krieg, kein Hunger, keine Not usw. – beschrieben. Aber was soll im siebten Himmel sein, in den wir uns so oft wünschen?

Was in den Schriften steht

Auch die Verfasserin des Hebräerbriefs greift bei der Beschreibung von dem, was sein soll, nochmals zu diesem Stilmittel der Schwarzweissmalerei, wo auf der dunklen Folie der Vergangenheit die helle Zukunft erstrahlen soll. Die den ganzen Brief durchziehende Unterscheidung zwischen dem Alten und dem Neuen Bund wird hier noch einmal verschärft durch die Gegenüberstellung der beiden Berge Sinai (Hebr 12,18–21) und Zion (Hebr 12,22). Der Sinai ist der irdische, greifbare Berg; der Zion steht für die Stadt Gottes, das himmlische Jerusalem.

Bei der Schilderung des Sinais greift die Verfasserin auf die entscheidende Stelle zurück, die grosse Theophanie zur Übergabe der Gesetzestafeln an Mose (Ex 19). Positiv lässt sich aus der Anspielung auf diese Stelle herauslesen, dass es nun um den entscheidenden Moment geht. Was jetzt erzählt wird über die Gegenwart und nahe Zukunft, ist so entscheidend und einschneidend wie die Übergabe der Bundestafeln am Sinai. Auch ist klar, dass es nun um die Beziehung von Gott zu den Menschen geht: «Ihr sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören» (Ex 19,6).

Dann muss aber der Sinai als die negative Folie dienen: Er ist der irdische Berg, «den man anrühren konnte» (Hebr 12,18), es ist ein Berg des Schreckens, des Feuers, der Dunkelheit und des Sturms (Hebr 12,18). Dort am Sinai fand ein Geschehen mit Schall und Posaunen statt, «bei denen die Hörer flehten, diese Stimme soll nicht weiter mit ihnen reden» (Hebr 12,19). So deutet die Verfasserin die Stelle aus Exodus: «Gott soll nicht mit uns reden, sonst sterben wir» (Ex 20,19). Der Sinai ist der Ort, dem man sich nicht nähern darf, sonst begibt man sich in Gefahr, getötet zu werden. «Keine Hand soll den Berg berühren. Wer es aber tut, soll gesteinigt oder mit Pfeilen erschossen werden; ob Tier oder Mensch, niemand darf am Leben bleiben» (Ex 19,13). So referiert die Verfasserin des Hebräerbriefes das Geschehen am Sinai weiter: «Denn sie konnten die Anordnung nicht ertragen: Selbst wenn nur ein Tier den Berg berührt, soll es gesteinigt werden. Ja, die Erscheinung war so furchtbar, dass sogar Mose sagte: Ich habe Angst und zittere!» (Hebr 12,20–21 – in der Lesung ausgelassen). Mit der Mose zugeschriebenen Angst wird eigenwillig die tatsächliche Sinai-Erzählung uminterpretiert und verändert, denn die Angst des Mose in Dtn 9,19 bezieht sich nicht auf die Erscheinung, sondern sie bezieht sich auf den Zorn Gottes wegen der Verfehlungen des Volks. Die Verfasserin deutet es durch ihre Zusammenstellung von zwei nicht zusammenhängenden Zitaten aber anders, um den Sinai als Berg des Todesschreckens darzustellen.

Dagegen nun der Berg Zion, als ein himmlischer Berg. Seit Deuterojesaja ist Zion, obwohl es diesen Berg als Hügel in Jerusalem ja tatsächlich gibt, ein theologischer Begriff. «Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle Völker. Viele Nationen machen sich auf den Weg. Sie sagen: Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs. (…) Denn von Zion kommt die Weisung des Herrn, aus Jerusalem sein Wort. Er spricht Recht im Streit der Völker, er weist viele Nationen zurecht. Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg» (Jes 2,2–4).

Das ist jetzt erfüllt: «Ihr seid hingetreten zum Zion» (Hebr 12,22), wird bereits als eine vollendete Handlung geschildert. Der Zion ist «die Stadt des lebendigen Gottes, das himmlische Jerusalem» (Hebr 12,22). Mit dem Stichwort «Stadt» schliesst die Verfasserin den Bogen ab, den sie in Hebr 11,16 begann: «Gott hatte für sie [Abraham, Isaak, Jakob] eine Stadt vorbereitet» (vgl. hierzu die Auslegung zum 19. Sonntag im Jahreskreis in: SKZ 181 [2013], Nr. 29–30, 447).

Das himmlische Jerusalem ist im Neuen Testament ein wichtiger Begriff in der (ungefähr zeitgleich mit dem Hebräerbrief entstandenen) Offenbarung des Johannes. Dort wird es ausführlich geschildert (Offb 21).

Eingeführt wird der Begriff im älteren Galaterbrief. «In Gal 4,21–31 steht das Motiv im Kontext einer allegorischen Auslegung, die das Verhältnis zwischen dem gesetzesfrommen Judentum und den Christusgläubigen beschreiben möchte. Hagar, die Mutter von Abrahams erstgeborenem Sohn Ismael, wird auf den Bundesschluss am Sinai bezogen, ‹der zur Knechtschaft gebiert›; sie ist ein ‹Gleichnis für das jetzige Jerusalem, das mit seinen Kindern in der Knechtschaft lebt›. Damit ist Hagar Symbol für das gegenwärtige Jerusalem. Dieser Stadt wird ‹das Jerusalem, das droben ist›, gegenübergestellt. Dieses himmlische Jerusalem wird als die ‹Freie› und ‹unsere Mutter› bezeichnet, d. h. die Mutter derer, die Kinder der Verheissung sind.»1 In der jüdischen Literatur dieser Zeit wird mit dem Gedanken eines himmlischen Jerusalems versucht, den Schock der Zerstörung des Jahres 70 zu überwinden und theologisch einzuholen. Dass Gottes Thron, dort wo er gegenwärtig ist, und der konkrete Tempel nicht gleichzusetzen sind, ist ein nachexilischer Gedanke, den schon das Tempelweihegebet Salomons aufgreift: «Aber sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?» (1 Kön 8,27).

Im babylonischen Talmud, Traktat Chagiga, stellt Resh Lachisch ein System von sieben Himmeln auf, die er genau beschreibt. Im vierten Himmel befinden sich das himmlische Jerusalem und der Tempel, im fünften die Engel, und im siebten dann ist Gerechtigkeit und Gnade, Leben, Friede und Segen, und der Thron des lebendigen Gottes.

Mit der Verfasserin des Hebräerbriefs im Gespräch

So sieht der siebte Himmel aus, zu dem Israel und die Christinnen und Christen durch den ganzen Hebräerbrief hindurch unterwegs waren. Es sind die Attribute des Reiches Gottes, das Reich der Wahrheit und des Lebens, das Reich der Heiligkeit und der Gnade, das Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens (so die Christkönigspräfation in Anspielung an 1 Kor 15,24–28). Das war die Idee und Botschaft des «Mittlers eines neuen Bundes» (Hebr 12,24) – heute noch immer aktuell.

 

1 Beate Eco: Himmlisches Jerusalem (2007), in: WiBiLex www.wibilex.de . Dort auch weitere Informationen zu diesem Begriff.

Winfried Bader

Winfried Bader

Dr. Winfried Bader ist Alttestamentler, war Lektor bei der Deutschen Bibelgesellschaft und Programmleiter beim Verlag Katholisches Bibelwerk in Stuttgart und arbeitet als Pastoralassistent in Sursee