Skandal als Chance

Cover (Bild: herder-verlag.de)

Als am 28. Januar 2010 in der «Berliner Morgenpost» ein Brief des Rektors des Canisius-Kollegs der Jesuiten erschien, worin er von erschütternden sexuellen Missbräuchen durch zwei Mitbrüder an unzähligen Schülern aus den 1970er- und 1980er-Jahren berichtete, ging ein Erdbeben durch die katholische Welt, und nicht nur durch sie. Dabei war der Brief (vom 20. Januar datiert) eigentlich nur an etwa 600 direkt betroffene ehemalige Schüler gerichtet, kam aber irgendwie in die Presse. Nachträglich muss man sagen: Gott sei Lob und Dank!

Drei Jahre später erzählt der damalige Rektor, P. Klaus Mertes, geboren 1954, Jesuit seit 1977, wie es zu diesem Brief kam und welches Erdbeben dieser auslöste. Er analysiert das Geschehen als eine weitere Ursache des weltweiten Vertrauensverlustes, den die römischkatholische Kirche seit langem schleichend erlebt. Aber er bleibt nicht bei der klaren, ungeschminkten Anklage stehen, er fragt sich auch, wie man unter diesen Umständen noch weiterhin katholisch sein kann. So heisst denn der Untertitel seines Buches «Katholisch sein in der Krise».1 Und er gibt nicht billigen Trost, sondern zeigt einleuchtende «Vertrauensressourcen » auf, für eine theologische und eine persönliche Vergewisserung. Was an diesem ersten Teil besonders berührt, ist die Schilderung dessen, was der Rektor alles erleben musste im Gefolge dieser Veröffentlichung, auch Verunglimpfung von der eigenen Seite (man wäscht ja keine schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit).

Machtproblematik

Nach diesem ersten Teil, worin er die Vertrauenskrise an diesem selbst erlebten Fall eingehend schildert, packt er das Grundproblem an: «das Problem mit der Macht». Gewiss, das Schlimmste an der Geschichte ist die Tatsache, dass Menschen (in diesem Falle Lehrer, die Priester sind) ihre Stellung missbrauchten, um sich Schüler zu sexueller Lustausbeutung zu unterwerfen. Aber genau so schlimm ist die Tatsache, dass die Verantwortlichen dies nicht zur Kenntnis nehmen wollten, sich nie um die Opfer kümmerten, sondern den Image-Schaden an der Fassade der Kirche mit Eifer verkleisterten, indem man die Täter häufig nur vorübergehend aus dem Verkehr zog, das heisst an eine andere Stelle versetzte. Nun, diese Tatsachen sind inzwischen genügend bekannt und müssen hier nicht wiederholt werden. Aber dass dies so geschehen konnte, hat seinen Grund sehr wohl in den Machtstrukturen der Kirche, und hier bringt Klaus Mertes die genau gleichen Vorwürfe an die Adresse der Machtin haber, die andere Kenner ebenfalls dringend und deutlich formuliert haben und die hier in dieser Zeitschrift mehrfach erwähnt wurden (z. B. Hermann Häring, Franz-Xaver Kaufmann, Hans Küng usw.). Höchst peinliches Verhalten von höchsten Würdenträgern, von Bischöfen über Kardinäle bis zu den Päpsten, wird ruhig und sachlich benannt.

Ich skizziere: Die entgegen allen klugen Traditionen der Kirche übereilt vorgenommene Seligsprechung (und die nun folgende Heiligsprechung) von Johannes Paul II., der verantwortlich ist an einer Menge von ganz unseligen Bischofsernennungen – eine Kanonisierung mit unheilvollen Folgen, etwa unansehnlichen Statuen und überdimensionierten Kirchen. Oder die weltöffentlichen Trostworte des tonangebenden Kardinals Angelo Sodano an den Papst am Osterfest 2010, er möge sich vom Geschwätz der Medien (wegen der Missbrauchsfälle) nicht einschüchtern lassen. Oder der überrissene Gehorsamsbegriff in der Kirche («Gehorsam des Willens und des Verstandes») gegenüber päpstlichen Denkverboten und weiteren beliebigen Vorschriften. Oder der unsägliche Zentralismus, in dem die Kurie mehr Macht hat als die Bischöfe in ihren Diözesen, durch den bis in den kleinsten Flecken der Welt hineinregiert wird über Dinge, die man in Rom einfach nicht richtig wahrnimmt. Oder die Selbstsakralisierung der Institution, die mit einer unantastbaren Aura versehen wird, der man nur in Ehrfurcht nahen kann (inklusive die Gewänder und Titulaturen).

Die Chance nutzen

Das sind die institutionellen Sünden; dazu kommen innere Haltungen, die Mertes aufzählt: Herzlosigkeit, eine pathologische Fixierung auf Unkeuschheit, Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Sprachlosigkeit, neue Bewegungen, die zwar viel Geld bringen, aber eigentlich Sektencharakter haben und häufig mit sexueller Ausbeutung gekoppelt sind, am besten bekannt die «Legionäre Christi».

Doch bleibt Klaus Mertes nicht an einer Aufzählung der Schattenseiten der Kirche hängen. Er holt zu tiefgründenden Erwägungen aus, um in dieser Krisensituation Rechenschaft darüber abzulegen, wie er trotzdem – und erst recht – katholischer Christ bleibt. Er will aber katholisch nicht abgrenzend konfessionell und auch nicht einschränkend römisch verstanden wissen, sondern an Christus orientiert, der als Gottessohn Mensch geworden ist, «Mensch-Werdung» – dies im Gegensatz zum Islam, wo Gottes Wort im Koran Buch geworden ist. Er möchte nicht «Reich Gottes» gegen «Kirche» ausspielen (nach dem Vorgang eines isolierten und falsch verstandenen Satzes von Alfred Loisy) und betont vielmehr, wie sehr im Reich Gottes/in der Kirche die Frauen und die Kinder und die Armen allgemein Vorrang haben.

Dankbarkeit für die Kirche

Ganz wichtig für den Wiedergewinn von Vertrauen ist eine Vergewisserung über fundamentale Einstellungen, an erster Stelle die Dankbarkeit für alles, was man in der Kirche an Positivem erfahren und erlebt hat und auch heute noch finden kann. «Dankbarkeit ist nicht irgendeine Tugend, sondern die grundlegende Tugend des geistlichen Lebens», sagt er mit Hinweis auf Ignatius von Loyola. «Katholisch sein in der Vertrauenskrise beginnt mit der Übung der Dankbarkeit. Ich begebe mich also an Orte, an denen ich den Schätzen der Kirche begegne: insbesondere Menschen, die nach Gott fragen und suchen» (S. 186).

Wichtig ist darum die Anerkennung der Sehnsucht, die einen selbst heimsucht oder die man bei andern findet und die man schätzen und fördern soll: Sehnsucht nach dem «Ganz Andern», nach Gott, nach dem Guten und Schönen. Glauben verlangt aber auch Willen zum Glauben. Man denke an den Spruch eines koptischen Diakons: Geduld mit Gott heisst Glauben, Geduld mit dem andern heisst Liebe, Geduld mit sich selbst heisst Hoffnung. Entscheidend aber ist die Einwurzelung in der Eucharistie. Dabei berührt Mertes auch einen wunden Punkt: Wenn die Diskrepanz zwischen der Feier, die immer gültig ist, zur Würde des Zelebranten (und der Institution, die er darstellt) allzu gross wird, kann es geschehen, dass ein durchaus Gläubiger nicht mehr mitfeiern mag – er hat solches schmerzlich miterlebt. Darum plädiert er für eine «Eucharistie auf der Strasse», das Teilen des Brotes, die Begegnung mit dem Nächsten. Diese schlichte Form der konkreten Mitmenschlichkeit findet man oft an ganz unerwarteten Orten.

«Eucharistie der Strassen»

Wer mit der rituellen Eucharistie heute seine Mühe hat, leidet nicht unbedingt an Glaubensverlust. Der Weg über die «Eucharistie der Strasse» könnte dann wieder einen neuen Zugang zur Liturgie der Eucharistie bahnen (S. 196).

Es geht Mertes sehr darum, dass man das Evangelium und den lebendigen Jesus Christus ernst nimmt. Von «Regelsystemen» hält er wenig. Allzu häufig werden heute noch von Kirchenverantwortlichen Leute mit abweichenden Ideen, Einstellungen, Lebensformen verdächtigt, ausgegrenzt, entlassen. Mit Papst Franziskus hofft Klaus Mertes darauf, dass die Kirche merkt, «unter welchen Vorzeichen sich auch eine Erneuerung des Vertrauens in der Kirche tatsächlich vollziehen könnte» (S. 204).

 

1 Klaus Mertes: Verlorenes Vertrauen. Katholisch sein in der Krise. (Herder Verlag) Freiburg-Basel-Wien 2013, 224 Seiten.

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).