«Was ihr seid, das waren wir»

Seit über 1200 Jahren ist die kleine Kirche St. Peter in Mistail GR mit den drei eine fast magische Kraft ausübenden Apsiden unverändert geblieben und lädt geradezu zur Meditation ein.

Blick ins Beinhaus von St. Peter zu Mistail. Der rätoromanische Name «Mistail» stammt vom lateinischen «Monasterium», was Kloster bedeutet. (Bild: Adrian Michael)

 

Ich fürchte mich. Die Totenschädel starren mich stumm und drohend an. Mühsam entziffere ich als Dreikäsehoch die Inschrift, die auf einer Holztafel steht, und lese laut vor: «Was wir sind, das werdet ihr. Was ihr seid, das waren wir.» Meine kleine Hand ruht in der grossen, warmen meines Vaters. Ich schaue zu ihm auf. Er nickt langsam, fügt aber nichts zu diesen zwei Sätzen hinzu.

Erst viel später begann ich mich für die Geschichte des Kirchleins zu Mistail zu interessieren, genetisch vorbelastet von meinem Vater, der zeitlebens eine Schwäche für die Burgen und Kirchen Graubündens hatte und uns Kinder an Sonntagen in manchmal halsbrecherischen Touren zu jeder auch noch so kleinen Ruine führte. Kein Ort vermochte mich aber derart zu beeindrucken wie Mistail, dessen gedrungen wirkendes Kirchlein samt Beinhaus aus karolingischer Zeit stammt und eines der ältesten der Schweiz ist. Es liegt versteckt auf einer Kuppe. Das nächste Dorf ist Alvaschein, das erste am oberen Ausgang der (auch schon gehörig «gfürchigen») Schynschlucht. Unten auf einer Waldlichtung am Rande der Schlucht lag einst ein Frauenkloster, zu dem das Kirchlein gehörte. Das Kloster wurde aber bereits im Jahr 1154 aufgehoben. Erbaut wurden Kirche und Kloster vermutlich ums Jahr 800 herum zur Zeit Karls des Grossen. Charakteristisch sind bei der Kirche der ungegliederte, flach gedeckte Kirchen- saal sowie die drei Apsiden, die original erhalten sind. Auch das Kircheninnere (14 × 12 m) fasziniert mit seiner schlichten Architektur und Ausstattung. Aber es gibt Farben: Im 9. Jahrhundert wurde die Kirche vollständig ausgemalt. Diese erste Malschicht ist jedoch nur in spärlichen Fragmenten erhalten. Die heute sichtbaren Fresken und Malereien eines vermutlich Einheimischen wurden ums Jahr 1400 geschaffen.

Eine wechselvolle Geschichte

Erstmals erwähnt wird Mistail 823 in einem Klagebrief von Bischof Victor aus Chur an Ludwig den Frommen. Erstmals urkundlich erwähnt wird das Kloster 926 in einer Schenkungsurkunde Heinrichs I. an Bischof Walde. Eine gemeinsame Nennung und das gleiche Patrozinium mit dem Frauenkloster in Cazis lässt die Vermutung zu, dass die Gründung von Mistail vom Kloster Cazis ausging. Nach dem Zerfall des karolingischen Reiches trat ein Niedergang ein, der zur Vertreibung der Nonnen durch Bischof Wido kurz nach 1100 führte. Endgültig aufgehoben wurde das Kloster Mistail 1154 durch Bischof Adalgott, und die Güter wurden dem Kloster St. Luzi in Chur geschenkt. 1282 gelangte Mistail, jetzt nur mehr die Kirche, tauschweise an Bischof Konrad von Belmont; im 14. Jahrhundert kam es in den Besitz der Gemeinde Alvaschein. Am Gallustag 1397 fand eine Neuweihe der Kirche statt, Pfarrkirche war jedoch immer noch die Kirche von Tiefen- castel. 1739 wurde die Kirche von Alvaschein zur Pfarrkirche erhoben und damit Mistail von Tiefencastel abgelöst. Bis 1679 war Mistail Bestattungskirche von Alvaschein.

1968/69 und 1983/84 wurden archäologische Untersuchungen durchgeführt, was zeigte, dass der Dreiapsidensaal um 800 auf den Grundmauern eines Vorgängerbaus errichtet worden war. Im Süden der Kirche wurden Grundmauern eines weiteren Sakralgebäudes gefunden, die auf eine Entstehungszeit vom 7. zum 8. Jahrhundert hinweisen. Der Zeitpunkt des Abbruchs der Vorgängerbauten ist nicht bekannt. Auch kam im Süden der Anlage ein kleines Mausoleum zum Vorschein, bei dem es sich möglicherweise um das Grab einer Äbtissin oder eines Stifters handelte. Wann das Beinhaus angebaut wurde, ist unklar. «Der Innenraum von St. Peter steht immer noch so da wie vor zwölf Jahrhunderten und erscheint in seinem gelassenen Zusammenspiel mit drei sphärischen Raumkörpern als ein in seiner Art vollkommenes, ausgeglichen in sich ruhendes Raumgebilde», schrieb der Kunsthistoriker Erwin Poeschel (1884–1965). Je zwei hochliegende karolingische Rundbogenfenster im Westen und Süden belichten den Kirchenraum. Zwei weitere Fenster im Norden wurden vermauert. Ostwärts schliessen sich etwas erhöht die drei hufeisenförmigen Apsiden an, von denen die mittlere etwas höher und breiter ist. Sie enthalten je einen karolingischen Blockaltar und werden je von einem Fenster im Scheitel der Rundung erhellt. Die flache Holzdecke wird von einem Hängewerk getragen und zeigt die Jahreszahl 1642.

Fresken aus drei Epochen

Natürlich zogen auch die verschiedenen Wandmalereien mein kindliches Gemüt in ihren Bann. Etwas steif und ungelenk kamen mir die abgebildeten Personen vor, besonders die gotischen, deren Hauptteil in der mittleren Apsis und an der Nordwand (entstanden um 1400 bis 1410) auszumachen sind. Aus karolingischer Zeit stammen Reste der Fresken in der südlichen Apsis. Aus dieser Zeit sind auch die Blockaltäre in den Apsiden. Schliesslich wurde im Barock (17. Jh.) die Kalotte ausgestaltet, wo Christus, umgeben von den vier Evangelisten, nicht mit einem Buch, sondern mit einem Reichsapfel thront: Der Herrscher tritt an die Stelle des Lehrers. Darunter stehen in einem Fries die zwölf Apostel, alternierend vor rotbraunem und grünem Hintergrund. In der untersten Zone sind Fragmente des Kampfes des heiligen Georg zu erkennen. Sitzen und lauschen, in sich gehen. So sassen wir, mein Vater und ich, ganz still. Die Ruhe, die sich ausbreitete, war versöhnlich. Reinigend. Zentrierend.

Bis heute übt St. Peter zu Mistail eine ganz besondere Anziehungskraft auf mich aus. Wann immer ich in der Gegend bin, kehre ich ein an diesem Ort, um meine Seele in ihrem Stück kindlicher Heimat einen Moment zur Ruhe kommen zu lassen. Dann schaue ich ins Beinhaus. Und lese die Inschrift auf der Holztafel. Ich nicke und weiss, was mir mein Vater sagen wollte ...

Brigitte Burri*

 

* Brigitte Burri ist Produzentin und Geschäftsführerin der SKZ, Bündnerin und lebt seit zwölf Jahren im Unterland.

Info zu Mistail
Die Kirche St. Peter in Mistail liegt abgeschieden auf einem kleinen Felsplateau am Eingang zur Schynschlucht. Sie ist von einem Parkplatz nahe der Hauptstrasse in Richtung Tiefencastel bei der Abzweigung nach Alvaschein über einen Waldweg oder per ÖV vom Bahnhof Tiefencastel aus in gut zehn Minuten erreichbar. Öffnungszeiten: 8 bis 18 Uhr. Weitere Informationen: www.lenzerheide.com

Die Redaktorinnen und die Redaktionskommissionsmitglieder der SKZ berichten in loser Folge über ihre Lieblingsorte geistiger Einkehr.