Warum die Kirche Ketzer braucht

Im Laufe der Jahrhunderte sahen Männer und Frauen immer wieder Widersprüche zwischen der Botschaft Jesu und der Lehre der Kirche. Ihre geäusserten Zweifel machten sie oft zu Ketzern.

Im Januar 2009 war die Aufregung gross: Papst Benedikt XVI. hatte die gegen vier Bischöfe der Piusbruderschaft Pius X. 1988 ausgesprochenen Exkommunikationsurteile aufgehoben. Als Reaktion hierauf meldeten sich zahlreiche Bischöfe und Theologen zu Wort, die diese Entscheidung als Fehlurteil klassifizierten. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel fühlte sich aufgerufen, den deutschen Papst aufs Schärfste zu kritisieren.

Sollte dies also eine Veränderung im Umgang mit Ketzern bedeuten? Die Kirchenleitung nun als vergebungsbereite Instanz, die kritischen Köpfe als Befürworter der Exkommunikation? Um diese Vorgänge nicht nur in einem durch das Drama des Holocaust bestimmten aktuellen Rahmen, sondern in einem historischen Rekurs angemessen würdigen zu können, sollte kritisch über die tiefere Bedeutung nachgedacht werden, die Ketzer für die Kirche haben.

Ketzer haben Heils-Funktion

Am Beginn des Christentums steht ein Abtrünniger: Jesus, der in den Augen der jüdischen Elite ein Gotteslästerer und in den Augen der Römer ein sozialer-politischer Aufrührer war – beides Kennzeichen, die im späteren Häresiekonzept der Kirche, dessen Systematik weitgehend von augustinischem Gedankengut gespeist war, weiter entwickelt wurden. Augustinus kannte zwar die neutrale Wortbedeutung (haíresis = Wahl, Schule), wendete sie aber nur selten an. Für den Kirchenvater ist ausschlaggebend, dass Häretiker die Kirche verlassen haben und somit ausserhalb der ecclesia stehen. Häresien seien zwar «von der Kirche geboren» und deshalb «Töchter der Kirche», aber eben nur malae filiae. Der Abfall der Häretiker ist für ihn ein beklagenswerter Verlust. Und doch hält er als letzte Möglichkeit auch Angst und Schrecken für erlaubt; Ziel dabei ist jedoch nicht die Bestrafung, sondern die heilsame Besserung der Irrenden. Doch noch herrscht die Grundüberzeugung vor – schon von Paulus (1 Kor 11,19) mit «Oportet esse haereses» prägnant auf den Punkt gebracht –, dass Ketzer in der Kirche zu dulden seien, da sie auch eine Heils-Funktion hätten. Bei Hrabanus Maurus und Wazo von Lüttich sind eschatologische Überlegungen führend, für die Schule von Laôn ein moralischer Aspekt: Häretiker befördern durch ihr Verhalten und ihre Lehre die Geduld und die Weisheit der Gläubigen. Damit sind die beiden Pole christlicher Existenz angeführt, die Orthopraxie und die Orthodoxie.

Umkehr der Verhältnisse

Aber unter dem Eindruck des erbitterten Kampfes zwischen weltlicher und geistlicher Macht um die Suprematie in der christianitas verschärfen sich die Positionen. Nun wird der zuvor eher unter dem Blickwinkel des gelehrten Kontrahenten gesehene Häretiker zum Ketzer, dessen Inkarnation im mittelalterlichen Katharer gesehen wurde. Verhängnisvoll erwies sich dabei die Zusammenarbeit von säkularen und kirchlichen Obrigkeiten: Die oft blutige Verfolgung von Ketzern durch Kreuzzüge und deren juristische Aburteilung durch die Inquisition waren nur wegen der guten Kooperation von Staat und Kirche möglich. Neben dem doktrinären und moralischen war immer auch der soziale Gesichtspunkt in der Frage der Ketzerei wichtig: Die Ausbreitung von Ketzereien schädigte nicht nur das Seelenheil Einzelner, sondern wurde als Bedrohung für die Seelen aller, und damit auch für die soziale Ordnung der christlichen Gemeinschaft verstanden.

Das Ende der Glaubenseinheit hat dann die Auffassung über Ketzerei und Ketzer verändert: Es entstand eine positive Ketzertheorie, die wegweisend wurde für die protestantische Geschichtsschreibung: Der Ketzer ist der wahre Nachfolger Christi. So ist es kein Zufall, dass 1934 der protestantische Theologe Walter Bauer das bis dato einhellig verfochtene Verhältnis zwischen Orthodoxie und Häresie radikal verkehrte: Bei ihm ist die Häresie die erste Manifestation des Christentums. In den grossen geistigen Zentren des Ostens, wie z. B. Alexandria, Edessa und Antiochia, waren Interpretationen vorherrschend, die durch die Kirchenväter als häretisch und später durch die Wissenschaftler als gnostisch apostrophiert wurden. Erst die Anstrengung der Kirchenväter, argumentativ dagegen vorzugehen, gab den Ausschlag für die heute als «orthodox» wahrgenommenen Auslegungen.

Anstoss zu neuen Wegen

Und tatsächlich: Erst als die baldige Erwartung des Königreiches von Gott zugunsten des realen Ausbaus einer übergeordneten Institution aufgegeben wurde, verfestigte sich ein Einheitsdenken, das folgerichtig auch die sakramentale Form für diese Einheit herausbildete: die communio als Ort der gemeinschaftlichen Begegnung mit Gott. Nun erst konnte auch die ex-communicatio an Form gewinnen. Dabei waren die Vertreter der Kirche zum überwiegenden Teil weder angstgesteuerte Fanatiker noch machtbesessene Sadisten. Sie agierten vielmehr aus der Überzeugung heraus, verantwortlich für das Seelenheil der Menschen zu sein. Bei den Ketzern ging es um einen Autoritätskonflikt, insofern, dass sie nicht Autorität als solche ablehnten, sondern dass sie Anforderungen an Autorität stellten, die für keine Institution erfüllbar sind. Für Ketzer erwies sich erst dann eine Autorität als wahr und berechtigt, Folgsamkeit zu verlangen, wenn es keine Kluft zwischen Anspruch und Realität gab.

Den meisten Ketzern ist eine auffallende Spannung zu eigen: Sie waren fast immer radikale Rückwärtsgewandte - die aber neue Impulse transportierten. Meist nahmen sie Anstoss an den neuen Wegen, die die Grosskirche beschritt, etwa sich auf die Kooperation mit der weltlichen Macht einzulassen. Doch gerade in ihrer Weigerung, die neuen Wege mitzugehen, entfalteten sie neue Sichtweisen, die sich etwa in der Frage nach der Beziehung zwischen Macht und Armut, zwischen Mann und Frau, zwischen Klerikern und Laien zeigten. In der historischen Dimension fragten sie stets nach der Berechtigung der herrschenden Meinung und waren eher zurückhaltend, was den Beweis durch Masse betrifft. Selbstverständliches wurde mit grossem Elan und Einsatz hinterfragt; Diskussionen, die längst beigelegt schienen, brachen unter veränderten historischen Einflüssen wieder radikal auf. Der Blick wurde auf die Tiefendimension einzelner Glaubenslehren gelenkt und so verhindert, dass eine allzu schnelle «Harmonisierung» des Systems stattfand. Damit wurden Ketzer zum Störfaktor in Kirche und Gesellschaft.

Fehlende Ketzertheologie

Auf diesem Hintergrund gibt die jüngste Entwicklung Anlass zum Nachdenken: Wie aus den Vorgängen um die Piusbruderschaft – auf die vieles aus dem historischen Befund zutrifft –, aber auch schon aus dem päpstlichen Dokument «Erinnern und Versöhnen» aus dem Jahr 2000 deutlich wird, ist man nun offenbar von einer Überstrapazierung des Ketzerbegriffs ins andere Extrem verfallen: Ketzerzuschreibungen gibt es heute offiziell nicht mehr. Aber spricht das, was auf den ersten Blick so positiv als Abkehr von der blutigen Vergangenheit erscheint, nicht gerade auch wieder von einem kirchlichen Dilemma? Da nämlich keine eigene katholische «Ketzertheologie» entwickelt wurde, die auf die Bedeutung der Wechselwirkung von Häresie und Orthodoxie für das Heil abzielt, kann der Ketzer in säkularen Zeiten fast nur noch «totgeschwiegen» werden. Die Vorgänge um die Bischöfe der Piusbruderschaft widerlegen eine allzu idealistische Toleranz-Vorstellung. Nun ist es – paradox genug – die «öffentliche Meinung», die auf Exkommunikation beharrt, der gängigen Kirchenstrafe für Ketzerei. Die öffentliche Meinung, sonst immer schnell bei der Hand, wenn es Mittelalterliches, Menschenverachtendes oder Demokratiefeindliches in der Kirche zu entdecken gibt, scheut nicht davor zurück, formal und inhaltlich zu einer anachronistischen Sprache zurückzufinden, um lautstark den Kirchenausschluss für die zu fordern, die gegen die geltenden Normen verstossen. Die Aussenseiterposition des Ketzers sagt aber noch nichts über seinen Beitrag in der Heilsgeschichte aus. Um diesen Beitrag aber muss es der Kirche gehen, um damit auch dem Ketzer sein Recht zukommen zu lassen: ihn theologisch ernst zu nehmen, ihn mit hineinzunehmen in die Geschichte Gottes mit den Menschen. Das Grundmotiv christlicher wie jüdischer Religion ist der Exodus, und niemand kann dieses Grundmotiv im Spannungsfeld des Glaubens zwischen Wahrheit und Freiheit besser darstellen als die aus der Kirche Verstossenen.

Daniela Müller

 

Buchempfehlung

Bei der Frage des Verhältnisses von Norm und Dissidenz geht es um äusserst komplizierte und pluriforme Verflechtungen. Die Autorin zeigt auf, dass dieser Mechanismus keinesfalls eine Sache der Vergangenheit ist.
«Ketzer und Kirche. Beobachtungen aus zwei Jahrtausenden». Von Daniela Müller. Münster 2014. ISBN 978-3-643-12271-1, CHF 71.90. www.lit-verlag.de


Daniela Müller

Prof. Daniela Müller (Jg. 1957) studierte Theologie, Geschichte und Germanistik in Würzburg (D) und ist seit 2009 Professorin für Kirchengeschichte und Geschichte des Christentums an der Fakultät für Religionswissenschaften und Theologie der Radboud Universität (NL). Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Häresien und der dissidenten Bewegungen sowie die kirchliche Rechtsgeschichte.

 

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