Wallfahrt – ein Weg der Wandlung

Die Grabeskirche in Jerusalem. (Bild: Berthold Werner, Wikimedia)

 

Der Mensch ist unterwegs, er ist ein «homo viator». Er fährt zur Arbeit und geht Freunde besuchen. Er reist, um Gegenden zu erkunden. Es kann ein Spaziergang zur Erholung sein. Expeditionen führen ihn in entlegene Kontinente. Abenteuerlust lässt aufbrechen. Oft werden Menschen auch in die Flucht getrieben. Ganze Völker «wandern». In der globalisierten Welt hat die Mobilität ein noch nie da gewesenes Ausmass erreicht.

Seit je ist der Mensch auch gepilgert, hat sich aufgemacht zu einer heiligen Stätte. Der Pilgerort steht für die letzte Zielbestimmung des menschlichen Unterwegsseins. Er symbolisiert die «axis mundi», die Mitte der geistigen Welt, auf die hin ein Mensch lebt. Er steht für das Heilige. Eine Spiritualität des Pilgerns unterfüttert jedes Auf-dem-Weg-Sein mit einem tieferen Sinn. Denn wie die Seele nach Augustinus unruhig ist, bis sie ruht in Gott, so ist der «homo viator» letztlich auf dem Weg zu einem Ruheort, zu einer ewigen Heimat. Der Pilgerort steht also auch für den Tod – aus dem neues Leben entsteht. Das gilt für Jerusalem, wo Christinnen und Christen in der Auferstehungskirche das Kreuz auf Golgotha verehren und zum leeren Grab des Auferstandenen hintreten. Es gilt auch für Mekka, denn die Rituale des Hadsch vertreiben nicht nur alle Todeskräfte und steinigen den Satan, sondern feiern auch die Neugeburt eines jeden Pilgers.

«Worauf wir blicken, dahinein werden wir verwandelt», ist eine zentrale spirituelle Weisheit. Daher ist es nicht gleichgültig, zu welcher Stätte hin der Mensch pilgert. Für mich als Jesuiten und Liebhaber der Heiligen Schrift konnte es nur Jerusalem sein. Wer nach Rom pilgert, ist nicht zuerst zu Vatikan und Papst hin unterwegs, sondern zu den Gräbern der Apostelfürsten Petrus und Paulus. Wer auf dem Jakobsweg pilgert, sollte sich bewusst machen, dass Santiago als Teil der Reconquista entstanden ist. Stand der Camino einst für den Sieg über den Islam, sollte er heute im Dienst für den Dialog mit dem Islam stehen.

Obwohl der Weg nicht einfach das Ziel ist, so ist der Weg doch von zentraler Bedeutung. Johannes vom Kreuz empfiehlt, sich allein und zu Fuss aufzumachen. Der Pilgerweg ist nämlich ein spiritueller Übungsweg, geprägt von Gebet und Verzicht, von innerer Transformation und Ausrichtung auf Gott. So liess gerade mein Pilgern nach Jerusalem vor zehn Jahren mein Vertrauen wachsen, dass wir während der sieben Monate jeden Abend eine Unterkunft fanden. Obwohl ich auf dem ganzen Weg gesund und heil bewahrt wurde, spürte ich meine Verletzlichkeit tagtäglich. Oft an lärmigen Verkehrsstrassen entlang, die von Abfall bedeckt waren, nahm ich die Umwelt zerstörenden Kräfte unserer Zivilisation hautnah wahr. Das langsame Gehen, dem Wetter und den Jahreszeiten ausgesetzt, liess mich mehr und mehr achtsam werden. Vor allem aber wurde mir bald klar, dass 4900 Kilometer zu bestehen weniger eine sportliche Leistung war als vielmehr eine mentale. Was der Pilgeralltag auch brachte, das innere Auge immer auf Jerusalem ausgerichtet, wurde ich getragen und stets neu beflügelt.

Christian M. Rutishauser*

 

* P. Dr. Christian M. Rutishauser (Jg. 1965) ist Delegat für Schulen und Hochschulen der Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten. Seine Fusswallfahrt nach Jerusalem beschreibt er in seinem Buch «Zu Fuss nach Jerusalem. Mein Pilgerweg für Dialog und Frieden», Ostfildern 2012.