Von Mimosen und Sanftheit

Mimosen

Alles hat seine Zeit (Koh 3,1–8). Die Substanz des Lebens besteht aus Freude und Trauer. Keimen und Wachsen, Blühen und Verblühen, Jugend und Alter sind Wegstrecken zur Ewigkeit. Der Mensch ist ein «Homo viator», immer auf dem Weg. «Ab hora diei ad horam dei.» Der Weg ist das Ziel, in jedem neuen Lebensanschnitt. Die rückwärtslaufende Uhr gibt es nur im Dom von Florenz.

Eine meditative Wanderung von Bormes-les-Mimosas hinauf in das Massif des Maures an der nahen Mittelmeerküste in der Provence, wo im Wintermonat Januar die Mimosen zu blühen anfangen, schenkt uns Momente der Zeitlosigkeit.

Blühende Mimosen öffnen uns den Blick zum Himmel. Der «Kleine Prinz» war es, der erkannte, dass es ausser dem Auge noch andere visuelle Organe gibt, nämlich das Herz: «Man sieht nur mit dem Herzen gut» (Antoine de Saint-Exupéry). Bei denen, die mit dem Herzen sehen, gipfelt das Aufblühen der Mimosen in einen Lobgesang an den Schöpfer wie beim greisen Simeon (Lk 2,29–31).

Hoffnung

Mimosen («Mimosa pudica») sind kleine Blumen, «schamhafte Sinnpflanzen», die während der kurzen Blütezeit mit ihrer Sanftheit versuchen, das Licht Gottes zu bewahren. Gegen Ende des Winters, wenn nichts zu keimen und zu wachsen scheint, wenn bei uns «der Sämann die Hände ringt und nach den Wolken schaut», überzieht sich in der Provence das Massif des Maures mit Mimosen: ein Teppich aus zarten goldenen Kugeln, bedeckt von Schneekristallen, welche unter der Sonne schmelzen. Ein Wunder der Natur, ein Symbol aus der Werkstätte Gottes, das über allen Verstand geht und das Herz höher schlagen lässt. «Das Tote wird lebendig, das verloren Geglaubte erholt sich, und tausend Blumen loben und preisen des Schöpfers allmächtige Kraft.» Friedliche Ruhe, beglückende Sanftheit. Dieser Anblick lädt uns ein, angesichts aller Vergänglichkeit jene Liebe zu suchen, die nicht stirbt, und von der die Bibel spricht (1 Kor 13). Mimosen schenken Hoffnung wie die Lilien des Feldes (Mt 6,28).

Ich durfte Bormes-les-Mimosas vor vielen Jahren, zunächst als Tourist, kennen und lieben lernen. Ein Gnadenort der globalisierten Liebe, an den ich als Freund immer wieder heimkehrte! Für einen Arzt ein Ort «Sans Frontières» (MSF)! Die Sonnenuhr an der Blumenfassade der Église Saint- Trophyme lädt uns ein einzutreten zum Beten, Singen und Danken (eucharistein): «AB HORA DIEI – AD HORAM DEI.»1

Jedes Jahr wird dem aufmerksamen Wanderer mitten im Winter die Vision geschenkt, dass hier alle Lebewesen die Mimosen gleichsam erwarten, wie eine Seele auf der Suche nach einer Begegnung. Denn: «Alles wirkliche Leben ist Begegnung» (Martin Buber). Meine Sprache ist zu arm und zu schwach, um diesen Eindruck in Worte zu fassen, dieses Gefühl, das sich den Worten entzieht; das rational machen zu wollen, was ausserrational und im Transzendenten angesiedelt ist. Bormes-les- Mimosas feiert dieses Naturwunder jedes Jahr mit dem «Corso Fleuri».

Blühende Mimosen. Sanftheit bedeckt das Dorf, angelehnt an eine Bergflanke, wo das Meer und der Himmel über die Schönheit des Blau streiten. «Ex oriente lux»: Mimosen offenbaren in der Morgenröte ihr Geheimnis. Gott möchte uns Wesentliches zeigen. Es bleibt jenen verborgen, die das Staunen verlernt haben.

Die kleine Kapelle Saint-François-de-Paule, hoch oben in Bormes-les-Mimosas, überragt das Dorf, nicht bloss durch die Statue dieses heiligen Mannes, sondern durch sein Lebenswerk: Barmherzigkeit. «Am Fest der Mimosen errichtet die aufgehende Sonne in dieser Kapelle einen Regenbogen des Friedens, der gegen elf Uhr seltsamerweise über dem grossen Kruzifix steht und den Leib Christi wie ein Leichentuch des Lichts umhüllt und freudig umarmt. Pfarreiangehörige haben vor dem Chor bereits die ersten Mimosenzweige hingelegt, deren Duft dem Weihrauch den Hof macht» (Didier Hascoët).

Vergebung

«Hoffen heisst, an das Abenteuer der Liebe zu glauben, Vertrauen zu den Menschen zu haben, den Sprung ins Ungewisse zu tun und sich ganz Gott zu überlassen» (Dom Helder Camara). «Hoffnung kann nur keimen, wo Menschen um Verzeihung bitten und die Vergebung des anderen annehmen können» (Hascoët). Mimosen schenken Hoffnung. Am «Corso Fleuri», inmitten der bunten Menschenmenge sowie der vorbeiziehenden Blumenwagen und der Musik, könnte es sein, dass der Urgrund («arché») des Festes in Vergessenheit gerät. Es sind die Mimosen, die von Sanftheit künden und uns Hoffnung spenden möchten. Um einzelne Mimosen zu betrachten, muss man sich niederbeugen. «Für dieses Hinschauen, Betrachten, Sehen steht im Griechischen das Wort «kata-manthánein»; «katá» heisst «herunter» und «manthánein» «lernen, verstehen, kennenlernen» (Schwank). Es geht um ein demütiges, sich herabbeugendes Betrachten, um mit dem Herzen zu sehen und zur Quelle der Sanftheit und der Hoffnung zu gelangen. Der Blumenteppich aus zarten goldenen Kugeln, den der Schöpfer mit sanfter Hand über dem Massif des Maures ausgelegt hat, hilft unsere Ängste abzubauen, Ängste vor der Wirklichkeit.

Liebe

«Es ist die Liebe der Sanftmut, Grund und Wurzel, die Liebe, die ausharret und den Glauben nicht verliert; es ist die Demut der Sanftmut Stütze und Stab» (Jeremias Gotthelf). Die Sanftmut («lenitas») Jesu war es, welche Petrus das Schwert in die Scheide stecken liess (Joh 18,11). «AB HORA DIEI»: Das heilige Tagwerk beginnt im Morgenlicht, wenn die Mimosen ihr Geheimnis offenbaren. «AD HORAM DEI»: Das heilige Tagwerk beginnt beim Läuten der Kirchenglocken, wenn Menschen auf dem Weg, Gläubige und Suchende, zum Gottesdienst in die Kirche einziehen, um das Wort Gottes zu hören und Jesus zu begegnen: «Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Land besitzen» (Mt 5,5). 

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Verwendete Literatur

Jeremias Gotthelf: Kalenderpredigten. Riehen bei Basel 1986;

Benedikt Schwank: Blumen schenken Hoffnung. Beuron (2005);

Didier Hascoët: Das Abenteuer des Glaubens. Hrsg. von Roland W. Moser. Berlin 2014.

Roland W. Moser

Roland W. Moser

Dr. med. Roland W. Moser, Facharzt FMH für Gynäkologie und Geburtshilfe, absolvierte nach seiner Pensionierung 2002 den Studiengang Theologie STh in Zürich. Er beschäftigt sich in Wort und Schrift mit Medizinethik und Spiritualität im Spannungsfeld von Wissen und Weisheit