Von Epilog zu Prolog: Jes 55 und Joh 1

1. Der Prolog des Johannes-Evangeliums

Die Weihnachtsliturgie liest nicht nur die Kindheitsevangelien von Matthäus und Lukas, sondern auch den Prolog des Johannesevangeliums (Messe am Tag des Weihnachtsfestes). In seinem Mittelpunkt steht das Wort Gottes, der Logos. Über die Herkunft des Titels Logos, Wort, für Jesus Christus wird in der Exegese von jeher diskutiert. Es scheint mir am wahrscheinlichsten, das Vorbild für diese ungewöhnliche Gleichsetzung der geschichtlichen Person Jesu mit einem Baustein der Sprache, dem Wort, im Epilog des zweiten Teils des Buches Jesaja, des sog. Deutero-Jesaja zu sehen (Jes 55). Warum?

Dort steht die einzige Stelle im Alten Testament, wo das Wort Gottes nicht nur personifiziert ist, sondern eine schöpferische Sendung hat. Der Prophet umreisst seine Laufbahn vom Anfang bis zum Ende dieser Sendung. Das entspricht der Sendung Jesu im Johannesprolog, zumal wenn die ersten Verse von Joh 13 (Fusswaschung) und Joh 17 (hohepriesterliches Gebet) hinzugenommen werden: Er entfaltet die Sendung des Wortes von seinem Ausgang aus Gott bis zu seiner Rückkehr mit dem Gewinn, den es mitbringt, nämlich die Gemeinschaft aller, die an ihn als den Gesandten des Vaters glauben und glauben werden.

2. Der Epilog Jes 55

Die Bedeutung des Epilogs von Jes 55 tritt sowohl in seiner Stellung am Ende des ganzen Buches Jes 40–55 als auch in seinem Gehalt klar zutage. Als Abschluss fasst er in der Tat Absicht und Botschaft des Prophetenbuchs zusammen. Obwohl es ganz unglaublich scheint, wird Gott durch Vergebung einen Freiraum für eine neue Schöpfung öffnen. Dafür sendet er sein Wort in die Welt. Es soll wie Regen Nahrung hervorbringen und Leben ermöglichen.

Der Epilog gestaltet die Sendung des Wortes in vier Phasen. Zuerst wird in grösster Eindringlichkeit Vergebung ausgerufen. Das Gewicht liegt auf dem Jetzt: «Sucht den Herrn, solange er sich finden lässt! Ruft ihn an, solange er nahe ist. Der Gottlose soll von seinem Weg lassen, der Frevler von seinen Plänen. Er kehre um zum Herrn: Er wird mit ihm Erbarmen haben – zu unserem Gott, denn er ist gross im Verzeihen» (Jes 55,6–7). Dann folgt ganz unerwartet ein Rückschlag: Das kann nicht sein! Das kann Gott gar nicht meinen. Menschliche Vorstellungen sind eng. Sie vermögen sich nicht zu Gott emporzuschwingen: «Meine Pläne sind nicht eure Pläne und eure Wege sind nicht meine Wege, Spruch des Herrn. Denn so hoch der Himmel die Erde überragt, so hoch überragen meine Wege eure Wege und meine Pläne eure Pläne» (Jes 55,8–9).

Auf die Unfähigkeit hin, Gott in seinen Plänen zu erfassen, entschliesst er sich, sein Denken in Person in die Welt zu senden. Es soll sein Herz verlassen und durch das Tor seiner Lippen in die Welt hinaustreten. Als vernehmbares Wort soll es Gottes Denken unmittelbar zu den Bewohnern der Erde bringen, wie Regen und Schnee in unmittelbarem Kontakt mit der Erde die darin schlafende Fruchtbarkeit wecken. Auf vergleichbare Weise soll auch das aus dem Innern Gottes hervorgehende Wort hinab auf die Erde fallen und sie befruchten, um erst dann zu Gott zurückzukehren, wenn es seine Sendung erfüllt hat. Im Gesamtzusammenhang des Deutero-Jesajabuches ist klar, dass das auf die Erde niedertauende Wort Gottes im Volk Israel und in den Gottesknechten für die ganze Welt wirksam wird: «Denn wie Regen und Schnee vom Himmel niedersteigt und nicht wieder zurückkehrt, es sei denn, es habe die Erde getränkt, fruchtbar gemacht und zum Keimen gebracht, sodass sie dem Sämann Samen gibt und Brot zum Essen, so ist es mit meinem Wort, das aus meinem Mund hervorgeht: es wird nicht mit leeren Händen zu mir zurückkehren, es sei denn, es habe bewirkt, was ich will, und es habe erreicht, wozu ich es ausgesandt habe» (Jes 55,10–11).

Wozu wurde es denn ausgesandt? Was will Gott? Das verstreute Volk soll aus seiner Verbannung in fremden Ländern heimkehren dürfen, und die ganze Schöpfung soll ihm bei seiner Heimkehr wunderbar helfen: «Denn in Freude werdet ihr fortziehen und in Frieden werdet ihr geleitet. Berge und Hügel brechen vor euch in Jubel aus, und alle Bäume im Land werden in die Hände klatschen. Statt Dornen ragen Zypressen empor, statt Brennnesseln wachsen Myrten» (Jes 55,112–113a). Das Wort Gottes erfüllt seine Sendung, indem es die Schöpfung von Grund auf umgestaltet. Die Erde wird in ein Paradies verwandelt, damit das verbannte Volk sicher heimkommt und zuhause wieder vereint wird. Damit wird Gott auf Erden ganz anders bekannt werden. Die letzte Zeile sagt das als Schlusswort des Buches Jes 40–55: «Das wird am Herrn gerühmt werden als sein ewiges Zeichen, das niemals getilgt wird» (Jes 55,13b). Es ist wie das Siegel oder die Unterschrift unter Gottes Handeln durch sein auf die Erde gesandtes Wort.

3. Der Johannes-Prolog als Echo auf den Jesaja-Epilog

Der Prolog des 4. Evangeliums entspricht dem Epilog von Deutero-Jesaja, nicht so sehr in gemeinsamen sprachlichen Signalen als in inhaltlicher Hinsicht. An beiden Stellen ist das Wort zuerst im Innern Gottes. Es ist bei Gott und ganz mit ihm eins, in gewisser Weise ununterscheidbar von ihm, wie jeder Gedanke im Innern eines Menschen ganz mit ihm eins ist, bis er dann als Wort hörbar über seine Lippen tritt und in die Welt hineinzuwirken beginnt, losgelöst von seinem Urheber und doch immer noch in seinem Herzen verweilend. So tritt das Wort Gottes heraus und wird auf die Erde gesandt, um dort zu wirken.

Es kommt in die Welt hinein, es verkörpert sich als Mensch, «als Fleisch», und nimmt so bei den Menschen Wohnung, um ihnen in ihrer Sprache zu erklären, was Gott denkt und will: Joh 1,17–18. Das ist ein unerhörter Vorzug, eine Gnade: Joh 1,18. Aber das Wort wird von vielen nicht aufgenommen: Joh 1,10–11. Dies ist das gemeisame Paradox im Epilog Jes 55 und im Prolog des Johannes. Das Wort Gottes wirkt unglaubhaft!

4. Was macht denn das Wort Gottes so schwer glaubhaft?

Woran liegt es, dass das von Gott in die Welt gesandte Wort so schwer glaubhaft wirkt? Der Grund dafür scheint seine Fremdheit in dieser Welt zu sein. Die Welt ist anders, als sie im Spiegel des Wortes Gottes erscheint. Unsere Wirklichkeitserfahrung deckt sich nicht mit dem, was wir aus dem Wort Gottes vernehmen. Ist die Natur, der wir um uns herum und in uns selber begegnen, nicht unbarmherzig und hart? Dieser Natur können wir nicht entfliehen. Wir sind in ihrem unerbittlichen «Werde und stirb!» gefangen. Im Wort Gottes überwiegt dagegen die Botschaft von der Vergebung, vom Leben und von der neuen Schöpfung mit ihrer unglaubhaften Relativierung des Todes. Was sollen wir denken? «Die Botschaft hör ich wohl, doch mir fehlt der Glaube?»

5. Was spricht denn für das Wort Gottes?

An dieser Wegscheide stehen wir und müssen uns entscheiden. Welchen Weg wollen wir wählen? Es kommt alles auf eine Erfahrung an, die wir alle machen. Es ist die Erfahrung, dass es in uns das gibt, was wir das Menschliche nennen. In ihm zeigt sich eine andere Welt als die des ewigen Kampfes der Natur. Es ist uns klar, ohne dass es uns gesagt werden muss, dass das Menschliche in uns besser ist als das Harte und Grausame in der blinden Natur. Nicht Instinkte und Triebhaftes machen das Leben auf Dauer anziehend. Was wäre unser Leben ohne Frieden im Inneren und im Zusammenleben? Wir können solchen Frieden wollen und ein Stück weit auch schaffen und in die Welt bringen. Es liegt in unserer Macht. Wir sehen, dass wir Raum für das Gestalten der inneren und äusseren Dinge des Lebens haben. Humor, Freude und Spiel wollen und können sich entfalten, wenn uns daran gelegen ist und wir Sinn dafür haben wollen. Es gibt den Platz für Freundschaft und Zuneigungen, bei aller Brüchigkeit und Gefährdung menschlicher Beziehungen. Dem Bedürfnis nach Klarheit der Verhältnisse und der Schönheit von Gegenständen und Umgebung kommen wir gerne entgegen und entdecken schöpferische Möglichkeiten, im Kleinen wie vielleicht auch im Grossen darauf hinzuwirken.

Das Wahre gefällt besser als das Verlogene, und in der Güte liegt ein eigener Zauber, dem wir nachgeben können, wenn wir es wollen. Das sind die Erfahrungen, die dem Wort Gottes entsprechen und mit ihm verwandt sind. So ist es doch nicht ganz fremd in dieser Welt! Es hat darin seine unübersehbare Wirklichkeit, wenn wir die Welt nicht durch eine Brille wahrnehmen wollen, die sie verformt. Wir brauchen bloss die Augen aufzutun und zu fragen, was unser Leben schön macht. Das Wort, das Gott in die Welt sendet, ist dazu gekommen, uns das Menschliche – und das ist nichts anderes als das Göttliche – zu zeigen, welches dem Leben seinen bleibenden Glanz verleiht. Von ihm spricht das Wort Gottes. 

Adrian Schenker

Adrian Schenker

P. Dr. Adrian Schenker OP ist emeritierter Professor für Altes Testament an der Universität Freiburg i. Ü. Er beschäftigt sich weiterhin mit Arbeiten über Textkritik und biblische Theologie des Alten Testaments und ist als Seelsorger tätig.