Von der Theologie der Befreiung zur Befreiung der Theologie

Die Soteriologie der Befreiungstheologie

1. Eine ideologiekritische Hinterfragung theologischer Grundbegriffe

Die lateinamerikanische Befreiungstheologie beginnt in einem geschichtlichen Kontext von politischer Verfolgung und sozialer Unterdrückung. Als Antwort darauf formt sich eine Theologie, die im Namen Gottes die Überwindung unmenschlicher Herrschaftsstrukturen fordert. Bei der damit verbundenen Zuwendung zu den Armen als theologischem Subjekt entsteht jedoch bald die Notwendigkeit, auch die christlichen Begriffe von Rechtfertigung und Erlösung kritisch auf ihren ideologischen Hintergrund hin zu befragen. Dabei wird vor allem die im Kontext einer neoplatonisch inspirierten Theologie erfolgte "Spiritualisierung" der entsprechenden theologischen Grundbegriffe kritisch untersucht. Dies angesichts der Tatsache, dass die soteriologischen Kernelemente des Glaubens in der christlichen Theologie der Vergangenheit primär als "zeitlos und meta-historisch" verstanden wurden. Damit aber waren sie als geschichtlich verändernde Aktionsimpulse weitgehend entschärft. – Nun aber betonen sowohl päpstliche Texte aus der Entstehungszeit der Befreiungstheologie1 als auch die Dokumente aller Lateinamerikanischen Kontinentalen Bischofskonferenzen (von Medellin über Puebla bis zu Aparecida 2007) mit Insistenz die Notwendigkeit, sich für das Schaffen einer gerechten und menschlicheren Gesellschaft nach den Richtlinien der jesuanischen Reich-Gottes-Botschaft einzusetzen. Vor dem Hintergrund der so entstehenden Spannung zwischen dogmatischer Perspektive und pastoraler Herausforderung wird die Soteriologie und deren Konzentrierung auf die in Jesus erfolgte Inkarnation Gottes in die menschliche Geschichte zu einem der zentralen Themen der Befreiungstheologie.

2. Von der Reflexion über die "Bedingungen zur Erlösung" hin zur Reflexion über die "geschichtliche Dynamik der Erlösung"

Die kritische Rückbesinnung auf ideologische Elemente der theologischen Begrifflichkeit führt in ihrer Konsequenz zu einem eigentlichen Perspektivenwechsel auf dem Gebiet der Soteriologie. An ihrem Beginn steht die Feststellung, dass die leitende Grundidee der biblischen Offenbarung nicht im Aufzeigen statischer und legalistischer Regeln als "Bedingungen zur Erlösung " besteht, sondern vielmehr im Sichtbarmachen einer ungeheuren geschichtlichen Dynamik. Deren Verlauf beginnt mit der Schöpfung; sie setzt sich fort in der Geschichte Israels und kulminiert in Leben, Tod und Auferstehung des Jesus von Nazareth, in welchem sich der christlichen Überzeugung zufolge Gott in Person manifestiert. Im Verlauf des ganzen geschichtlichen Prozesses dieser Offenbarung wird immer deutlicher sichtbar, dass Gott sich in die Geschichte der Menschen parteiisch einmischt als ein Gott, dessen Interesse darin besteht, die Menschen zu einer immer volleren und umfassenderen Erfahrung dessen gelangen zu lassen, was menschliches Leben nach den Vorstellungen Gottes eigentlich sein soll. Einer der Kulminationspunkte dieser Offenbarung findet sich in dem von Johannes übermittelten Text von Joh 10,10. Dort nämlich wird Jesus die programmatische Aussage in den Mund gelegt: "Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben."

3. Gott ist "ein Gott des Lebens", der die Menschen aus Situationen der Unterdrückung befreit

Unter dem Eindruck der obigen Aussage, die Gott darstellt als ein "Gott des Lebens", der für die Menschen ein in allen Daseinsdimensionen voll zur Geltung gebrachtes Leben wünscht, vollzieht sich in der Befreiungstheologie schliesslich eine zweite Veränderung der Verstehensperspektive. In deren Konsequenz wird die biblische "Geschichte der Erlösung " Schritt für Schritt verstanden als Prozess einer "Erlösung der Geschichte". Erlösung nämlich aus all jenen Formen unmenschlicher Strukturen und todbringender Verhaltensweisen, durch welche die Lebensdimensionen der Menschen aus politischen, sozialen, wirtschaftlichen oder auch religiösen Machtinteressen eingeschränkt oder zugrunde gerichtet werden. In allen jenen geschichtlichen Situationen nämlich erweist sich Gott als ein "Goël"; ein Erretter, der die unterdrückten Menschen aus den Unterdrückungsmechanismen zu befreien trachtet;2 der sie "erlöst" aus den "Banden der Knechtschaft", seien diese strukturell oder individuell bedingt (vgl. Gal 5,1; 2,4–5; Joh 8,34–36). Der biblische Begriff für das Schaffen solcher "Bande der Knechtschaft" auf struktureller oder individueller Ebene ist jener der "Sünde"; und darum spricht die Befreiungstheologie neben der individuellen Sünde auch von der "strukturellen Sünde", aus welcher Gottes befreiendes Wirken den Menschen "erlöst" oder "befreit". Er befreit (erlöst) aus geschichtlich unterdrückerischen Strukturen und Situationen; er befreit (erlöst) durch die "Offenbarung seines innersten Wesens" in Jesus Christus auch aus der Unterdrückung durch archaische und angsteinflössende Gottesbilder; und er befreit (erlöst) aus der Gebundenheit durch individuelle Prägungen und negative Verhaltensweisen (Sünden), die das betroffene Individuum versklaven.

4. Jesus Christus als Dreh- und Angelpunkt der befreienden Erlösung

Die ungeheure Dynamik dieses befreienden Erlösungsprozesses ist für Zeit und Ewigkeit gebunden an die zweite Person der göttlichen Dreifaltigkeit. Sie wird in der Zeitdimension der Schöpfung wie in einem Kristallisationspunkt sichtbar und fassbar durch die in Jesus Christus vollzogene Inkarnation Gottes in die menschliche Wirklichkeit.

In dieser Wirklichkeit – und gleichzeitig weit über sie hinausgehend – vollzieht sich Erlösung durch Gottes unentgeltlich befreiendes Handeln. Und nach seinem Beispiel sind die Menschen eingeladen, ihrerseits im Sinne Gottes in der von ihm aufgezeigten Richtung zu wirken. Dies aber bedeutet, dass alle christlichen Gemeinschaften zu Trägerinnen der verändernden Hoffnung auf jene neue Wirklichkeit werden müssen, die in der Auferstehung Jesu Christi begründet und bereits vorweggenommen ist.

5. Reich Gottes als Vollendung der Erlösung

Aus dem Zusammenwirken des freigebigen göttlichen Handelns und der entsprechenden Antwort der Menschen entsteht so auf geschichtlicher, struktureller und individueller Ebene Schritt für Schritt eine neue Situation. Diese gelangt zu ihrer eschatologische Vollendung in jener neuen Wirklichkeit, welche in den biblischen Texten als "Reich Gottes" bezeichnet wird. Die damit gemeinte "Gottesherrschaft " hat schon begonnen, aber sie hat noch nicht ihre Vollendung erreicht. Soteriologische Hoffnung aber glaubt daran, dass jene Vollendung innerhalb des geschichtlichen Prozesses durch Mithilfe der Menschen und ein letztendliches Eingreifen Gottes einmal erreicht werden wird. Damit wirkt die eschatologische Erwartung als Motor, der die Menschen anspornt, bereits jetzt als Werkzeug Gottes an der Erreichung des von Gott gesetzten Ziels mitzuarbeiten, immer wissend, dass dessen letzte Vollendung nur durch das Wirken Gottes erreicht werden wird.

6. Erlösung beinhaltet im Zusammenhang mit dem universalen Heilswillen Gottes auch eine gesellschaftlich- politische Dimension

Die solcherart entstehende Ausweitung der soteriologischen Perspektive eliminiert dabei keineswegs die Dimension der Erlösung von persönlicher Schuld. Diese aber wird integriert in den grossen Zusammenhang des universalen Heilswillens Gottes, der den Menschen in allen seinen Dimensionen befreien will zu jener neuen Daseinsebene, die in den Texten der biblischen Offenbarung immer wieder unter dem Begriff der "Kinder Gottes" erscheint.

Im Gefolge der solcherart vollzogenen "soteriologischen Wende" wird auch die Theologie selbst aus ihrer jahrhundertealten Abhängigkeit von gnostisch- dualistischen und machtideologischen Einflüssen befreit: Begriffe wie Gnade, Sünde, Schuld, Rechtfertigung, Gericht und viele andere werden entideologisiert und verlieren so ihren in der Vergangenheit oft unterdrückerischen Drohcharakter. Damit aber gewinnt die Lehre von der Erlösung wieder jene Besonderheit, die sie als Konsequenz des universalen Heilswillens Gottes ursprünglich besass: beglückende, befreiende Botschaft von Absichten und Wirken Gottes im Menschen und in der Geschichte zu sein. Gleichzeitig aber wird angesichts dieses Gottes, der sich in Jesus Christus konkret in die menschliche Lebens- und Leidensgeschichte einlässt, mit erschreckender Radikalität auch die Kluft sichtbar, die sich öffnet zwischen den realen gesellschaftlichen Verhältnissen einerseits und dem auf ganzheitliches Leben aller Menschen ausgerichteten Heilsplan Gottes. Sie zeigt sich in besonderer Intensität in den Gesichtern der Millionen von Armen, Ausgestossenen, Ausgebeuteten und Unterdrückten in den je verschiedenen Gesellschaftsformen.

Motiviert durch die Tatsache, dass die besondere Zuneigung Gottes zum erlösungsbedürftigen Menschen die Individuen immer ganzheitlich umfasst und keineswegs nur in ihrer geistig-seelischen Dimension, wendet die Befreiungstheologie ihr Interesse daher vorrangig jenen zu, die durch irgendeinen Grund ausgestossen oder an der Rand gedrängt worden sind. Daraus ergibt sich die vorrangige theologische Option für die Armen und Unterdrückten als unausweichliche Konsequenz der Tatsache, dass auch Gott in der ganzen Offenbarungsgeschichte eine solche Option getroffen hat.

7. Erlösung wird gesehen im evolutiv-geschichtlichen Rahmen des göttlichen Schöpfungsplanes

Als Folge eines solchen theologischen Perspektivenwechsels erfolgt dann beinahe zwangsläufig die Überwindung der jahrhundertealten Verengung der Bedeutung von Erlösung. Diese wird nicht mehr reduziert auf eine primär individuelle Rechtfertigung und die Errettung des sündigen Menschen vor den durch Gott verhängten Strafen. Gleichzeitig wird auch deutlich Abstand genommen etwa von der Satisfaktionstheorie des Anselm von Canterbury und der oft wörtlichen Interpretation von in Wirklichkeit figurativen Aussagen über den erlösenden Opfertod Jesu Christi. Stattdessen versteht die Theologie Erlösung wieder primär in einem evolutiv-geschichtlichen Rahmen; und die in der Vergangenheit meist nur individuell verstandene Erlösungsthematik wird ausgeweitet auf die sozio-politische Dimension der ganzen Menschheit.

Eine Analyse dieser Dimension macht dann immer neue Formen einer je verschiedenartigen sündhaften Distanz zum eschatologischen Projekt des von Jesus verkündeten Gottesreiches sichtbar. Sie zeigt aber auch deutlich die direkte Verbindung auf, welche zwischen dem Erlösungsplan Gottes und seinem Schöpfungsplan besteht. Schöpfung und Erlösung werden in der Folge nicht mehr punktuell als einmalige Ereignisse verstanden und ebenso wenig meta-historisch auf eine nur das Individuum betreffende spirituelle Ebene reduziert. Stattdessen erweisen sie sich als dynamische Prozesse innerhalb der Geschichte Gottes mit den Menschen. Leben und Sterben des menschgewordenen Gottes wird unter solcher Perspektive verstanden als "Fülle der Offenbarung" über den Heilswillen dieses Gottes. Gleichzeitig macht es aber auch deutlich, wie Menschen sich dem Heilswillen widersetzen können und wie selbst solche Auflehnung im Zeichen der Auf- erweckung des Gekreuzigten überwunden wird.

8. Erlösung als prozesshaft-dialektisches Geschehen hin zur Vollendung

Jeder Schritt in Richtung auf eine Gesellschaft, die mehr den Prinzipien des von Jesus verkündeten Gottesreiches entspricht, ist damit auch ein Fortschritt in dem auf ihn hin konzentrierten Prozess der Erlösung – Erlösung von der Sünde, wobei diese Sünde interpretiert wird als Widerstand und gegenläufige Tendenz zum Heilsplan Gottes. Solches aber bedeutet gleichzeitig auch Störung der Schöpfung. In diesem Sinn umfasst die in Jesus Christus sich vollziehende Erlösung als prozesshaft-dialektisches Geschehen eine dynamisch im Verlauf der Geschichte sich vollziehende Konversion dieser Schöpfung. Sie findet ihre Vollendung im Erreichen jenes eschatologischen Ziels, das Gen 1,31 – das Ende schon vorwegnehmend – mit den folgenden Worten beschreibt: "Gott sah alles an, was er gemacht hatte; und siehe, es war sehr gut." 

 

 

1 Vgl. z. B. Papst Paul VI.: Enzyklika "Populorum Progressio " vom 26. März 1967.

2 Als paradigmatisches Ereignis wird dabei immer auf das Exodusgeschehen Bezug genommen, im Speziellen auf Ex 3,7–10.

Renold Blank

Renold Blank

Der Schweizer Renold J. Blank war bis zu seiner Emeritierung 28 Jahre lang Professor an der Päpstlichen Theologischen Fakultät von São Paulo. Daneben lehrte er als Gastprofessor an mehreren anderen Universitäten und theologischen Hochschulen. Er ist Autor von mehr als 20 Büchern und wirkt auch na ch seiner Emeritierung weiterhin in Lehre und Forschung.