Von der Selbstsorge

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«In der kommenden Welt wird man mich fragen: ‹Warum bist Du nicht Sussja gewesen?›», lehrt Rabbi Sussja von Hanipol. Wir sind eingeladen, den eigenen Namen einzusetzen: Warum bist du nicht Gabriele gewesen? Und darin die Aufforderung: Werde Gabriele! «Die Frage der Fragen» steht über diesem Lehrabschnitt. Es ist auch die Frage der Fragen der sinnvollen Selbstsorge, wie sie hier gemeint ist, und der Schlüssel zum Leben in vielfältiger Hinsicht.

Aber bin ich nicht längst Gabriele seit meiner Geburt am 31.5.1962? Erich Fromm widerspricht mit einem dynamischen Bild von Geburt: «Die Geburt ist nicht ein augenblickliches Ereignis, sondern ein dauernder Vorgang», sagt er. «Das Ziel des Lebens ist es, ganz geboren zu werden, und seine Tragödie, dass die meisten von uns sterben, bevor sie ganz geboren sind.» Menschen wachsen also zeitlebens in sich erst hinein, meint Fromm, wachsen hinein in das, was sie werden können, werden sollen, in ihr Tiefstes und Bestes.

Wie finden die Menschen das? Die Internationale Schule der Persönlichkeitsentwicklung PRH, zu der ich gehöre, beschäftigt sich genau damit. «Was muss geschehen, damit sich Menschen in ihrem Inneren aufrichten und ganz sie selbst werden?», fragt sich ihr Gründer André Rochais und entdeckt dabei Zusammenhänge, Methoden, Haltungen. Ein Angelpunkt dieser Entdeckungen ist die Entdeckung des «Tiefen Gewissens», das er mit dem Kompass eines Reisenden vergleicht, der immer verfügbar ist und den einzuschlagenden Weg anzeigt: In ihrem tiefen Inneren kann jede Person eine verlässliche Intuition vorfinden, die sie auf dem Weg des Wachstums sicher geleitet. Es ist das Hauptanliegen seines Lebens, Menschen darin zu unterstützen, die Stimme dieser verlässlichen Intuition in sich zu finden, auf sie hören zu lernen und ihr zu folgen. Darin ähnelt er Rabbi Sussja und Erich Fromm.

Alle drei brennen für diese Vision von Menschen, die ganz sie selber werden. Sie ahnen – auch das ist ihnen gemeinsam – das enorme Potenzial zur Weltgestaltung, das hier zu finden ist. Mit André Rochais gesagt: «Wir schlafen über Schätzen, über Energiequellen, über einem Vulkan der Kreativität, über unglaublichen Reserven echter Liebe. Es ist alles da in der Tiefe der Menschen. Es gibt alles, was wir brauchen, um eine menschlichere Welt zu schaffen.» Selbstsorge ist eine Art Schatzsuche. Und es hängt viel davon ab, dass wir ihn entdecken und heben.

Gabriele Kieser*

 

* Dr. Gabriele Kieser (Jg. 1962) ist Theologin, Logotherapeutin und Ausbildnerin der PRH-Persönlichkeitsentwicklung (PRH – Personnalité et Relations Humaines). Sie arbeitet als Seelsorgerin der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, als Seelsorgerin für Seelsorgende im Bistum Basel sowie als Seminarleiterin und Personal Coach in der Schweiz, in Österreich und Deutschland.