Von der Christuswirklichkeit getragen

Die Theologie Dietrich Bonhoeffers findet auch bald 80 Jahre nach seiner Hinrichtung in Flossenbürg bei Menschen von heute grosse Beachtung. Weshalb? Das zeigt Christiane Tietz auf.

Dietrich Bonhoeffer gehört zu den grossen Theologen des 20. Jahrhunderts – und dies, obwohl er mit nur 39 Jahren von den deutschen Nationalsozialisten ermordet wurde. Seine Texte werden bis heute weltweit an Hochschulen erforscht und in Gemeinden gelesen. Wieso hat seine Theologie so grosse Resonanz ausgelöst?

Es war an erster Stelle Bonhoeffers glaubwürdige Existenz und die enge Verwobenheit von Biografie und Theologie. 1906 in Breslau im heutigen Polen als Kind grossbürgerlicher Eltern geboren, wuchs er in Berlin mit sieben Geschwistern auf. Der Tod seines Bruders Walter im Ersten Weltkrieg traf ihn sehr. Nach der Schule studierte er Evangelische Theologie und wurde nur 21-jährig mit einer Arbeit zur Soziologie der Kirche promoviert. Sein Vikariat machte er in einer deutschen Gemeinde in Barcelona. Im Anschluss an seine Habilitation ging er 1930 für ein Jahr ans Union Theological Seminary in New York. Dort wurden ihm, nicht zuletzt aufgrund einer Freundschaft mit einem afroamerikanischen Mitstudenten, die zerstörerischen Wirkungen des Rassismus bewusst. Bonhoeffer befreundete sich auch mit einem französischen Pazifisten und argumentierte in Vorträgen dafür, dass christliche Völker, weil sie den gleichen himmlischen Vater haben, nicht gegeneinander kämpfen dürfen. Die Einheit als Christen sei wichtiger als nationale Interessen. Nach seiner Rückkehr aus den USA engagierte sich Bonhoeffer (parallel zu seiner Tätigkeit als Pfarrer und Privatdozent in Berlin) in der noch jungen ökumenischen Bewegung, die sich um die Verständigung der weltweiten Christenheit bemühte.

Im Gespräch mit Karl Barth

Neben dem Reformator Martin Luther war der Schweizer reformierte Theologe Karl Barth für Bonhoeffers Denken wichtig. Barths Grundüberzeugung, dass man von Gott nur etwas wissen kann, wenn Gott sich selbst zeigt, theologisch gesprochen: sich offenbart, war auch die Bonhoeffers. Was also zeigt sich an Jesus Christus über Gott selbst? Und was zeigt sich an ihm über den Menschen? Das Nachdenken über Jesus Christus blieb für Bonhoeffer nicht abstrakt, sondern wurde handfest angesichts der nationalsozialistischen Herrschaft ab Januar 1933. Geprägt durch die politische Wachsamkeit seiner Familie, erkannte Bonhoeffer schnell, dass Hitler zum «Verführer» werden würde, weil viele Menschen sich selbst «nicht reif, stark, verantwortlich genug» fühlen. Die Entscheidung, ob der sogenannte «Arierparagraph», durch den Menschen jüdischer Herkunft aus dem Staatsdienst entfernt wurden, auch in die Kirche eingeführt werden sollte, verstand Bonhoeffer als Entscheidung darüber, ob die Kirche noch christlich ist. Bonhoeffers Meinung war klar: Über die Mitgliedschaft in der Kirche und die Rechtmässigkeit einer Pfarrperson entscheidet nur die Taufe, nichts anderes.

In radikaler kirchlicher Opposition

Nach der Einführung des Arierparagraphen durch die Kirche ging Bonhoeffer mit Martin Niemöller und anderen in die kirchliche Opposition. Wie Karl Barth betonte Bonhoeffer: Die Orientierung an Jesus Christus bedeutet, dass Christinnen und Christen nicht Adolf Hitler nachlaufen und seinen Befehlen gehorchen dürfen. Ihr Gehorsam muss sich allein und ohne Kompromisse auf Jesus Christus richten. Aufgrund seiner Radikalität fühlte sich Bonhoeffer sogar in der kirchlichen Opposition isoliert. Deshalb wechselte er im Herbst 1933 auf ein Auslandspfarramt in London. Von dort beobachtete er die Entwicklungen in Deutschland aufmerksam und mischte sich weiterhin ein. Er wurde Mitglied der 1934 gegründeten Bekennenden Kirche und wurde bald gefragt, ob er eines ihrer Predigerseminare übernehmen wolle. 1935 kehrte Bonhoeffer nach Deutschland zurück und wurde Direktor des Predigerseminars in Pommern. Nach einigen Wochen in Zingst an der Ostsee fand es seinen Standort in Finkenwalde nahe bei Stettin.

Getragen hat Bonhoeffer in dieser Zeit, neben den engen Bindungen an seine Familie und einige Freunde, sein Hören auf die Bibel. Er meinte, dass man in der Bibel, obwohl sie aus von Menschen geschriebenen Texten besteht, Gott hören kann. Bonhoeffer übte das in Finkenwalde regelrecht ein. Jeden Morgen mussten die Kandidaten über einen biblischen Text meditieren. Für Bonhoeffer stand fest: «Die Bibel kann man nicht einfach lesen wie andere Bücher. Man muss bereit sein, sie wirklich zu fragen […] Das liegt eben daran, dass in der Bibel Gott zu uns redet. Und über Gott kann man eben nicht so einfach von sich aus nachdenken, sondern man muss ihn fragen.»

In Finkenwalde entstand eines der berühmtesten Bücher Bonhoeffers, die «Nachfolge». Bonhoeffer legte darin die Nachfolge-Geschichten aus den Evangelien und die Bergpredigt aus. Im Hintergrund stand die Problematik, dass Vikare und Pfarrpersonen der Bekennenden Kirche überlegten, sich «legalisieren» zu lassen, also zur nationalsozialistisch orientierten Reichskirche zurückzukehren. Bonhoeffer war überzeugt, dass sie mit einem solchen Schritt aus der Nachfolge Jesu ausschieden. Ihren Argumenten stellte er entgegen: «Der Ruf [Jesu] ergeht, und ohne jede weitere Vermittlung folgt die gehorsame Tat des Gerufenen. […] Aus den relativen Sicherungen des Lebens heraus in die völlige Unsicherheit (d. h. in Wahrheit in die absolute Sicherheit und Geborgenheit der Gemeinschaft Jesu) […] ist der Jünger geworfen.»

In ethischer Verantwortung

1937 wurde das Predigerseminar in Finkenwalde durch die Gestapo geschlossen. Weil Bonhoeffer angesichts der deutschen Kriegsvorbereitungen zur Kriegsdienstverweigerung (eine Tat, die damals Gefängnis und Schlimmeres nach sich zog) entschlossen war, reiste er 1939 in die USA aus. Doch er wurde vom Gefühl gequält, sich so der Verantwortung für Deutschland zu entziehen – und kehrte kurz vor Kriegsende zurück.

Durch Vermittlung seines Schwagers Hans von Dohnanyi arbeitete er nun in einer Gruppe von Verschwörern im deutschen militärischen Geheimdienst mit. Zur Reflexion der Lage begann er, eine «Ethik» zu schreiben. Er unterstrich darin, dass die Wirklichkeit der Welt nicht unabhängig von der Wirklichkeit Gottes verstanden werden kann; die Weltwirklichkeit ist durch die «Christuswirklichkeit» getragen, gerichtet und versöhnt. Er diskutierte ethische Probleme der damaligen Zeit wie die Euthanasie: «Die Idee, ein Leben, das seinen socialen Nutzwert verloren hat, zu vernichten, entspringt der Schwäche, nicht der Stärke.» Und er beschrieb ausserordentliche Situationen, in denen man, ganz gleich wie man handelt, schuldig wird. Verantwortlich handeln kann man dann nur, wenn man auf Gottes Vergebung vertraut.

Im Vertrauen auf Gott

1943 wurde Bonhoeffer wegen Devisenunregelmässigkeiten im Rahmen seiner Tätigkeit für den militärischen Geheimdienst gefangengenommen. Fast zwei Jahre verbrachte er im Gefängnis. Kurz vor Kriegsende, nachdem seine Beteiligung an den Umsturzbemühungen bekannt geworden war, wurde er im Konzentrationslager Flossenbürg auf persönlichen Befehl Hitlers erhängt.

Im Gefängnis durfte Bonhoeffer Briefe schreiben, die nach seinem Tod als «Widerstand und Ergebung» veröffentlicht wurden und ihn berühmt machten. Die Briefe an seinen Freund Eberhard Bethge zeigen schonungslos, wie sehr Bonhoeffer unter der Situation litt – und wie ihn das Vertrauen auf Gott trug. Bonhoeffer entwickelte darin neue theologische Gedanken. Ausgehend von der Frage, wer Christus für uns heute ist, skizzierte er eine «nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe», um das Christentum von religiösen Überkleidungen zu befreien. Denn der moderne Mensch ist mündig geworden und kommt ohne Gott mit seinem Leben zurecht. Gott lässt das zu, hat er sich doch schon am Kreuz Jesu Christi an den Rand der Welt drängen lassen. Dennoch ist die Welt Gott nicht los. Denn Gott hat sich am Kreuz als ein leidender Gott gezeigt, der – anders als es der religiöse Mensch erwartet – nicht auf der Seite der Erfolgreichen, sondern auf der Seite der Leidenden steht.

Christiane Tietz

 

Buchempfehlung: «Dietrich Bonhoeffer. Theologe im Widerstand». Von Christiane Tietz. München 22019. ISBN 978-3-406-73889-0, CHF 15.90. www.chbeck.de


Christiane Tietz

Prof. Dr. Christiane Tietz (Jg. 1967) studierte Mathematik und Evangelische Theologie in Frankfurt am Main und Tübingen. Sie ist seit 2013 Ordentliche Professorin für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich.