Und reichst du uns den schweren Kelch

Wie sind die Verse Dietrich Bonhoeffers im Weihnachtsbrief an seine Verlobte zu verstehen? Für Heinz Angehrn sind sie ein spiritueller Ausdruck im Umgang mit Gewalterfahrungen und einer ungewissen Zukunft.

Der Weihnachtsbrief Bonhoeffers mit «Von guten Mächten treu und still umgeben» (Autograf Dietrich Bonhoeffers; links). Dietrich Bonhoeffer in London auf dem Rückweg aus Amerika im August 1939. (Bilder: Wikipedia)

 

In seiner Zelle im Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin verfasste Dietrich Bonhoeffer im Dezember 1944 das Gedicht «Von guten Mächten». Er sandte es in einem Brief an seine Verlobte Maria von Wedemeyer. Zusammen mit der Sammlung von Texten und Briefen Bonhoeffers unter dem Titel «Widerstand und Ergebung», herausgeben vom Empfänger etlicher dieser Texte, Eberhard Bethge, erstmals erschienen 1951, prägt uns dieser Text bis heute und ist sogar in unser Alltagsvokabular eingegangen. Ebenso ist die Vertonung des Textes durch Siegfried Fitz im Jahr 1977 populär geworden und hat seinen Eingang in die evangelischen Gesangbücher gefunden.

An Neujahr und bei Beerdigungen

Wenn ich mir Text und Melodie in Erinnerung rufe, dann sind es vor allem zwei Seelsorgesituationen, die von ihnen geprägt wurden. Zum einen sind es die Gottesdienste am Neujahrsmorgen. Menschen, die in der vorangegangenen Nacht entweder in Feststimmung oder auch in ernster Sorge auf ein ausgehendes Jahr zurückblickten, die Wünsche und Hoffnungen mit ihren Liebsten austauschten, die Vorsätze fassten, deren Umsetzung sich nun am 1. Januar bewähren sollten, hören den Text Bonhoeffers bzw. singen ihn mit. Aus den vielen Jahren meiner Tätigkeit als Pfarrer kommen mir etwa die Neujahrstage nach 09-11 oder nach der Wahl von Papst Franziskus in den Sinn. Und ich frage mich, wie der Text in der Pandemiezeit oder gerade jetzt angesichts der militärischen Aggression Russlands zum Tragen kommt.

Zum anderen und noch viel prägender war der häufige Einsatz von Text und Lied in Trauer- und Abschiedsfeiern. «Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand» – dies gemeinsam gesungen nach einem Unfalltod, nach einem langen Krebsleiden oder gar bei einem Suizid. Immer wieder habe ich mich als Seelsorger gefragt, ob diese Worte Bonhoeffers uns nicht überfordern, ob wir unser Geschick wirklich «ohne Zittern» aus einer «guten und geliebten» Hand entgegennehmen können. Die einzige akzeptable und die Autonomie des Menschen respektierende Antwort auf diese Frage ist die, dass das jede und jeder selber entscheiden muss und wird. Wenn hingegen ein alter Vater oder eine alte Mutter nach einem erfüllten Leben gegangen war, dann schien der Einsatz des Liedes obsolet, dann war wirklich eher ein «Nun danket alle Gott» am Platz.

Spirituelle Antwort auf Gewalterfahrungen

Und wie hat wohl Bonhoeffers Verlobte Maria den Text gelesen? Mitten in den Gräueln der letzten Kriegsmonate, im sicheren Wissen, dass Hitler und Goebbels nicht nur den «totalen Krieg», sondern bewusst auch den «totalen Untergang» des ganzen Volkes in Kauf zu nehmen bereit waren? Mitten in einer totalen geistigen Verwirrung, die etwa Magda Goebbels so den Mord an ihren Kindern rechtfertigen liess: «Sie sind zu schade für das nach uns kommende Leben und ein gnädiger Gott wird mich verstehen, wenn ich selbst ihnen die Erlösung geben werde.» Die noch in letzter Minute vollstreckten Todesurteile stehen in ähnlichem Kontext.

«Von guten Mächten» ist für mich kein romantisch verklärender Text, sondern vielmehr eine brutale spirituell-theologische Ausdrucksform, wie Christinnen und Christen mit dem Einbrechen von Gewalt und Terror, mit jeglichem Unvorhersehbaren, umgehen sollten. Der zehn Jahre nach Bonhoeffers Hinrichtung in Flossenbürg geschriebene Text des damaligen Lagerarztes Hermann Fischer-Hüllstrung ist selber bezüglich des Wahrheitsgehaltes umstritten1 und ist uns doch eine Art Antwort:
«Durch die halbgeöffnete Tür eines Zimmers im Barackenbau sah ich vor der Ablegung der Häftlingskleidung Pastor Bonhoeffer in innigem Gebet mit seinem Herrgott knieen. Die hingebungsvolle und erhörungsgewisse Art des Gebetes dieses außerordentlich sympathischen Mannes hat mich auf das Tiefste erschüttert. Auch an der Richtstätte selbst verrichtete er noch ein kurzes Gebet und bestieg dann mutig und gefasst die Treppe zum Galgen […] Ich habe in meiner fast 50jährigen ärztlichen Tätigkeit kaum je einen Mann so gottergeben sterben sehen.»2

Ortung in der Deutschen Geschichte

Wenn wir Bonhoeffers Lebensdaten (1906–1945)3 in einen grösseren Zusammenhang stellen, muss vorgängig der beiden folgenden Artikel von Professorin Christiane Tietz und Dr. Christine Schliesser ein Gang durch die deutsche Geschichte der ersten Jahrhunderthälfte gewagt werden.4 In Bonhoeffers Lebenszeit fallen nämlich alle Schicksalsjahre dieser Epoche: 1914, 1918/19, 1932/33, 1939 und 1945. Sie haben sein Leben nicht nur geprägt, sondern in wesentlichen Entscheidungen bestimmt, bis hin zum Todeszeitpunkt. Dietrich Bonhoeffer hätte als angesehener Professor mit einem theologischen Oeuvre über Jahrzehnte in Berlin oder in New York emeritiert werden können und wäre uns trotzdem nicht in dem Ausmass, auch als theologisch-spirituelles Vorbild, bekannt geworden. Er ist ein «Kind» und ein Opfer dieser Epoche.

Ich werde mit folgenden beiden Autoren den Durchgang wagen: Mit Golo Manns inzwischen klassisch gewordenem Monsterwerk zur Geschichte Deutschlands ab 17895 und mit dem erst kürzlich erschienen Band von Michael Wildt, Professor für Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin, der historische Erkenntnisse mit unzähligen Tagebucheinträgen von uns unbekannten Zeitzeugen unterlegt.6 Die grosse zeitliche Spanne zwischen dem Erscheinen der beiden Werke, damit verbunden auch unser heutiges (gegenüber Golo Mann) Mehrwissen um den Zerfall des Ostblocks 1989/90, ermöglicht es, besser zu verstehen und, wenn überhaupt erlaubt, zu werten.

Bonhoeffer stammte aus der Oberschicht des Kaiserreiches, wurde in Schlesien, das in der Folge eine wechselvoll-brutale Geschichte erleben musste, geboren und wuchs dann in der Haupt- und Kaiserstadt auf. Der von den untereinander verwandten Staatsoberhäuptern sinnlos vom Zaun gerissene Erste Weltkrieg brachte 1918 das abrupte Ende aller preussisch-grossdeutschen Träume und zum Schrecken der Welt der Familie Bonhoeffer eine von Sozialdemokraten erzwungene Demokratie, die «Weimarer Republik». In dieser Republik machte er sein Abitur und studierte Theologie im Schnelldurchlauf, wie es Hochbegabten geschenkt ist. Doch Weimar war ein brüchig-anfälliges System mit ständig wechselnden politischen Mehrheiten und Putschversuchen von links und rechts. Der aus heutiger Sicht absolut ungerecht-brutale Versailler Vertrag, der Deutschland die alleinige Kriegsschuld zuschob und es ausbluten wollte, die daraus folgende Hyperinflation der frühen 20er-Jahre und die Weltwirtschaftskrise zu Ende des Jahrzehnts führten zur ungewollten historisch-politischen Reaktion, dem Aufkommen der Extremparteien KPD und NSDAP und schliesslich den eklatanten Wahlresultaten der letzteren nach 1930. Bonhoeffer war nun Akademiker und hätte in seine Karriere starten können.

Doch dann ernannte Reichspräsident Hindenburg 1933 Hitler zum Reichskanzler. Es brannte der Reichstag, und Hitler und Göring nutzten die Ereignisse zum Errichten einer Diktatur in nur einmal einem Jahr. In der evangelischen Welt Bonhoeffers gab es genug Sympathisanten für das «neue Denken», ja es wurde bald offen darüber disputiert, das Alte Testament in grossen Teilen als jüdisch-minderwertig aus dem Kanon zu entfernen. (Die katholische Welt, Bayern und das «Zentrum», zwar reaktionärer im Ansatz, blieb unbeeindruckt und machte nur unter Zwang und Drohungen mit.) Nebst anderem machte Bonhoeffers Kritik am «Führer»-Begriff ihn in kürzester Zeit zur Persona non grata; vorbei war es mit der Karriere, sein späteres Schicksal ist schon ab 1933 absehbar.

Mit der Erkenntnis, dass nun eine menschenverachtende Ideologie an die Macht gekommen war, mit dem frühen Judenboykott, den ersten KZs und den Bücherverbrennungen erfolgte die Emigration breiter akademischer Kreise. Karl Barth ging, Hannah Arendt floh, Karl Jaspers verstummte. Ja selbst Thomas Mann, der Grossbürgerliche par excellence, ging. Doch Bonhoeffer blieb, betreute seine Studierenden, unterstützte die Bekennende Kirche und kooperierte mit dem Widerstand. Konsequent bis zum Ende. So haben wir das Gedicht zu deuten.
Solche Menschen sind es, die den totalitären Systemen bis heute die Hauptfeinde bleiben: Mahatma Ghandi, Nelson Mandela, Oscar Romero, Kirill Serebrennikov. Wir verdanken ihnen viel.

Heinz Angehrn

 

1 Der dänische Mithäftling Jorgen L. F. Mogensen berichtet von einer qualvollen Exekution durch Erhängen. Vgl. Glenthoj, Jorgen, Zwei neue Zeugnisse der Ermordung Dietrich Bonhoeffers, in: Mayer, Rainer / Zimmerling, Peter (Hg.): Dietrich Bonhoeffer aktuell. Biografie – Theologie – Spiritualität. Giessen-Basel 2001, 84–96, hier 92 ff.

2 Fischer-Hüllstrung, Hermann, Bericht aus Flossenbürg, zitiert in: Zimmermann, Wolf-Dieter, Begegnungen mit Dietrich Bonhoeffer, München 1964, 192.

3 Vgl. tabellarische Übersicht s. Bonusbeitrag.

4 Die Beiträge von Christiane Tietz und von Christine Schliesser finden sich ebenfalls in dieser Ausgabe.

5 Mann, Golo, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt, erstmals erschienen 1958.

6 Wildt, Michael, Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 bis 1945, München 2022.

 


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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