Vom Wert des Kirchenasyls

Bereits das Konzil von Serdica schrieb eine Verpflichtung der Kirche zum Schutz von ungerecht Verfolgten fest; diese galt selbst für gerichtlich Verurteilte.1 Seit dem 19. Jahrhundert wird die Rechtsordnung eines jeden Staates jedoch auch in kirchlichen Räumlichkeiten uneingeschränkt angewendet.2

Kirchenasyl ist in einem modernen Rechtsstaat nicht vorgesehen, denn das Asylrecht ist eine staatliche Aufgabe. Deshalb ist es rechtsstaatlich bedenklich, wenn in staatliche Funktionen durch eine Kirche eingegriffen wird, welche nicht durch den demokratischen Souverän legitimiert wurde.

Allerdings erfordert eine moderne Demokratie gerade die Etablierung eines Rechtsstaates im materiellen und nicht nur im formellen Sinn. Denn wohin uns Letzteres – also eine strikte Einhaltung des Gesetzes – geführt hat, wird uns der Nationalsozialismus nie vergessen lassen. Aus diesem Grund ist die Forderung durchaus legitim, dass Rechtspositivismus allein nicht ausreichen kann, um eine Rechtsnorm zu legitimieren. Dieser ist «gar nicht in der Lage, aus eigener Kraft die Geltung von Gesetzen zu begründen».3

Legitimation einer Rechtsordnung

Bereits im 16. Jahrhundert hat Macchiavelli das Gesetz als Sitte der Menschen beschrieben.4 Unter der Sitte wird «eine allgemein geübte Verhaltensweise einer Gruppe»,5 zum Beispiel eines Volkes, verstanden.

Ein Jahrhundert später pflichtet ihm Harrington in seiner «Commonwealth of Oceana» bei, indem er Gesetze, welche nur durch wenige beschlossen wurden, als «empire of men, and not of laws» bezeichnete.6

Gustav Radbruch schrieb 1946, dass das Recht nicht nur Rechtssicherheit, sondern auch Zweckmässigkeit und Gerechtigkeit sicherstellen soll.7 «An diesem Massstab gemessen sind ganze Partien nationalsozialistischen Rechts niemals zur Würde geltenden Rechts gelangt»,8 denn «entbehrt es insoweit überhaupt der Rechtsnatur, ist (es) nicht etwa unrichtiges Recht, sondern überhaupt kein Recht».9

Strafe ohne Strafgesetz

Dieser Auffassung ist uneingeschränkt zuzustimmen, wenngleich eine ausufernde Interpretation aus einer rechtsstaatlichen Perspektive durchaus fragwürdig scheint. So wurden nach dem Fall der Berliner Mauer Mauerschützen der DDR angeklagt,10 obwohl sie im Einklang mit den DDR-Gesetzen gehandelt haben.11 Dies ist moralisch wohl die richtige Vorgehensweise, ebenso wie die Anklage von Nationalsozialisten in den Nürnberger Prozessen, allerdings ist hier auch die Regelung nulla poena sine lege zu beachten, welche eine Bestrafung ohne eine zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat bestehende strafrechtliche Verbotsnorm verbietet.

Wenngleich diese im Falle der Nürnberger Prozesse und auch der Mauerschützen12 nicht überwogen hat, muss Acht gegeben werden sich nicht aus moralischen Beweggründen dazu hinreisen zu lassen, ein Unrecht durch ein anderes auszutauschen.

Recht hat an einem grundmoralischen Massstab gemessen zu werden. Es können nicht aus unmoralischen und unmenschlichen Gesetzen Rechte und Pflichten des Staates oder des Einzelnen abgeleitet werden. Daher kann innerhalb eines Rechtsstaates durchaus Platz für Kirchenasyl sein, denn gerade in einzelnen Härtefällen kann das Asylrecht eine unnachgiebige und unmoralische Barriere darstellen.

Von der abstrakten Norm zum Individuum

Das Asylrecht ist, wie andere generelle Normen, von abstrakter Natur, sprich, es richtet sich nicht am Einzelfall, sondern am grossen Ganzen aus. Dabei ist es unvermeidbar, dass es Querschläger gibt, und gerade in diesen Fällen ist ein ziviles Korrektiv durchaus wünschenswert. Wenn man sich auf eine philosophische Diskussion über die Rechthaftigkeit von Abschiebungen im Allgemeinen einlässt, so ist eine Lösung auf rechtlicher Ebene unmöglich, denn was kann man einem Immanuel Kant entgegenhalten, der sagt, dass auf einem flächenmässig begrenzten Planeten niemand mehr Recht hat, an einem bestimmten Ort zu sein, als ein anderer.13

Die Grenzen des Rechtspositivismus

Im Rechtspositivismus allein ist m. E. nicht der Weisheit letzter Schluss zu sehen. Ganz frei nach dem Zitat «Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht»14 kann in Einzelfällen das heutige Fremdenrecht durchaus Unrecht darstellen, wenngleich dem ehemaligen österreichischen Bundespräsidentschaftskandidaten Andreas Khol generell zuzustimmen ist, dass das österreichische Asylrecht keinen derartigen Makel15 hat und dies auch prinzipiell über das schweizerische Asylrecht zu sagen ist, ist es geradezu unmöglich, dass eine generell-abstrakte Norm unter jeden Umständen frei von Unrecht sein kann.

Dies gerade deshalb, weil generell-abstrakte Normen nicht in der Lage sind, auf die Umstände des Einzelfalls einzugehen. Daher haftet diesen immer eine potenzielle Rechtswidrigkeit an. Dies setzt dem geltenden Recht die Schranke, niemals wieder Unrechtsnormen in den Gesetzesrang zu erheben, wie dies im deutschen Nationalsozialismus geschehen ist.

Ein Korrektiv wie das Kirchenasyl kann daher sehr wohl im Einklang mit dem Rechtsstaat sein, wenn es krasses Unrecht ausgleicht. Wenngleich Missbrauch und eine ausufernde Interpretation dieses Rechtes keine Deckung im Prinzip des Rechtsstaates findet, kann ein vermeintlicher Rechtsbruch sehr wohl im Rahmen der geltenden Gesetze legitim und rechtens sein.

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Zufluchtsraum Kirche

Zur Urteilsbildung im Falle eines Kirchenasyls hat der Beauftragte für Theologie und Ethik beim Kirchenbund SEK, Frank Mathwig, 15 Botschaften erarbeitet. Die besondere theologische, ethische und rechtliche Brisanz des Kirchenasyls wird spürbar. Die abschliessende Botschaft enthält sechs orientierende Kriterien:

  1. Kirchenasyl wird von der Kirchgemeinde gewährt und kann nicht von Aktivistengruppen oder Asylsuchenden eigenmächtig definiert oder erklärt werden.
  2. Kirchenasyl bildet eine seelsorgerliche Form der neutestamentlichen Unterbrechung (Interzessio), die auf Versöhnung und Neuanfang (Deeskalation, Konfliktmoderation und praktische Einzelfalllösungen) zielt.
  3. Kirchenasyl muss von der Kirchgemeinde getragen und seelsorgerlich begleitet werden.
  4. Kirchenasyl geschieht nicht im Verborgenen, sondern ist im Rechtsstaat unbedingt auf Transparenz angewiesen.
  5. Kirchenasyl bedarf der sorgfältigen und gewissenhaften Prüfung der Notlage der Schutzsuchenden.
  6. Kirchenasyl ist keine Regel, sondern die Ausnahme. Auf Kirchenasyl kann kein Segen ruhen, wenn dadurch der Frieden in den Kirchgemeinden gefährdet wird. Kirchenasyl kann ein Anlass sein, neu über das Sein, den Auftrag und das Ziel von Kirche nachzudenken.

 

Quelle: Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund (SEK). Link zum Text: http://www.kirchenbund.ch/sites/default/files/media/pdf/stellungnahmen/160809_zufluchtsraum_kirche_de.pdf

 

1 Jochen Derlien: Asyl: die religiöse und rechtliche Begründung der Flucht zu sakralen Orten in der griechisch-römischen Antike, Marburg 2003, 347.

2 Im Umkehrschluss Hans- Richard Reuter: Subsidiärer Menschenrechtsschutz, ZPR 3/1996, 97.

3 Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 105 ff.

4 Niccolò Machiavelli: Der Fürst, Florenz ca. 1913, 59; bearbeitet durch Hanns Floerke. Machiavelli hat das Originalwerk bereits um 1513 n. Chr. verfasst.

5 Helmut Koziol/Rudolf Welser/Andreas Kletecka: Bürgerliches Recht I14, Wien 2014, Rz 7.

6 James Harrington: Commonwealth of Oceana, London 1656, 1, womit bereits früh die Auffassung vertreten wird, dass Gesetze einer grundlegenden moralischen Werteordnung zu entsprechen haben.

7 Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 105 ff.

8 Ebd.

9 Ebd.

10 BGH 20.03.1995, 5 StR 111/94 Rz 19, der deutsche Bundesgerichtshof spricht in Rz 20 das Spannungsverhältnis zu nulla poena sine lege an und gibt der Radbruch’schen Formel explizit den Vorrang.

11 BGH 20. 3. 1995, 5 StR 111/94.

12 Zum Beispiel EGMR 22. 3. 2001, 34044/96; 35532/97; 44801/98.

13 Zitat von Immanuel Kant, wiedergegeben in Matthias Morgenstern: Kirchenasyl in Deutschland, Westdeutscher Verlag, 2003, 17.

14 Zur Herkunft des Ausspruches siehe Andreas Khol: Wo Recht zu Unrecht wird …, in: Die Presse 20. 10. 2007.

15 Ebd.

Konrad Schirmer

Konrad Schirmer ist Pädagoge und studiert Wirtschaftsrecht in Wien. In seiner juristischen Arbeit befasst er sich vornehmlich mit Menschen- und Flüchtlingsrechten.