Als Dietrich Bonhoeffer, evangelischer Theologe und NS-Widerstandskämpfer, das Gedicht «Von guten Mächten treu und still umgeben» schrieb, dachte er nicht an eine Liedfassung.1 Die Strophen zum Jahreswechsel, die er Mitte Dezember 1944 in einer Gefängniszelle in Berlin verfasste, sind an seine Verlobte Maria von Wedemeyer und an seine Familie gerichtet. Das Gedicht ist ein geschichtliches Zeugnis und lässt nicht unberührt. Wie kann Bonhoeffer in Zeiten grösster Bedrängnis solch starke Worte des Gottvertrauens verfassen?
Emotional
Es ist nicht verwunderlich, dass dieser Text eine grosse Bekanntheit erlangte und heute noch an Abdankungen und anderen Anlässen gelesen oder gesungen wird. Auch Trauerkarten bedienen sich oftmals dieser Worte. Einerseits berühren die ausserordentlich vielen Gefühlsausdrücke und Adjektive im Gedicht die emotionale Seite des Menschen. Sowohl an Übergängen wie Jahreswechsel als auch an Beerdigungen sind die Menschen sehr dafür empfänglich. Andererseits birgt der Text ein grosses Mass an tröstlicher Zuversicht, die an Wendepunkten unverzichtbar ist. Bonhoeffer schreibt «So will ich diese Tage mit euch leben» dies obwohl er räumlich getrennt in einer Gefängniszelle lebt. Verbundenheit über die physischen Grenzen hinweg, auch da eine offensichtliche Parallele und ein Grund mehr, den Text an Beerdigungen zu wünschen. Im Anhang des Briefes schreibt er: «Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du und die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor.»
Vielfach vertont
Das Gedicht wurde mehr als 50 mal vertont und veröffentlicht. In den deutschschweizerischen Gesangsbüchern der drei Landeskirchen findet sich das vollständige Gedicht im originalen Wortlaut als Lese- und Meditationstext mit dem Vermerk «Neujahrsgedicht zum Jahreswechsel» (vgl. KG 374.5). Im katholischen Kirchengesangsbuch der Schweiz von 1998 wurde die Vertonung von Otto Abel abgedruckt (siehe KG 554). Es ist eine verkürzte Fassung mit nur einer Strophe. Im deutschen Gotteslob von 2013 wurde sowohl die Fassung von Kurt Grahl als auch in vielen Diözesanteilen die eher populäre Fassung von Siegfried Fietz veröffentlicht.2 Auf drei in der Praxis verwendete Liedfassungen werde ich nun näher eingehen.
Liedfassung von Otto Abel (1905–1977)
Auf die Bitte des Kirchenmusikers und Komponisten Theophil Rothenberg (1912–2004) komponierte Otto Abel, Landeskirchendirektor von Berlin-Brandenburg, 1959 dieses Lied. Indem sich die Melodie auf zwei Notenwerte beschränkt und den Text syllabisch rezitiert, erinnert sie an Weisen des Genfer Psalters. Als Otto Abel das Lied komponierte, war ihm nur die siebte Strophe bekannt. Der erste Teil der Melodie erfolgt schrittweise, im kleinen Umfang einer Quarte, die Geborgenheit deutend. Danach öffnet sich die Melodie etwas und führt harmonisch zur Paralleltonart F-Dur.3 Interessant ist auch die vierstimmige, sehr gelungene Liedfassung von Otto Abel. Der Satz folgt weitgehend den Regeln des vierstimmigen homophonen Kantionalsatzes des 16. Jahrhunderts. Das Evangelisch-reformierte Gesangbuch (RG) und das Christkatholische Gebet- und Gesangbuch (CG) beinhalten die letzte Strophe im vierstimmigen Satz von Otto Abel.
Liedfassung von Kurt Grahl (*1947)
Kurt Grahl ist ein Leipziger Kirchenmusiker und Komponist, der um 1976 die Worte Bonhoeffers vertonte. Er schreibt mir dazu: «Die Fietzsche Melodie kannte ich nicht. Es war ja (1976) mitten in der Zeit des Eisernen Vorhangs: In die DDR kam kaum etwas hinein und hinaus schon erst recht nicht. So war ‹meine› Melodie lange Zeit auch kaum bekannt. Dass sie dann in den Stammteil des Gotteslob aufgenommen wurde, ist für mich bis heute eine Überraschung [...] Zu Dietrich Bonhoeffer habe ich seit langer Zeit ein sehr inniges Verhältnis. Angeregt durch meine Tochter Kristina entstanden einige Solostücke, aber auch Chorwerke mit Orchester.» Die zuversichtlichere Melodieführung und die gekonnte Rhythmisierung seines Liedes «Von guten Mächten» passen ausserordentlich gut zu den Worten.
Kurt Grahl hat immer wieder Texte von Bonhoeffer vertont, so auch ein Oratorium über dessen Leben «in Worten und Taten». Das Oratorium «Worte, in die Nacht gerufen» ist im August 2022 erschienen.
Liedfassung von Siegried Fietz (*1946)
Zu dem um 1977 entstandenen Lied findet man viele kritische Äusserungen. So zum Beispiel im ökumenischen Liederkommentar der Schweizerischen Kirchengesangsbücher: «Dass diese Melodie die siebte Strophe zum Refrain gemacht hat, ist sehr problematisch, weil so das Durchschreiten des Glaubensweges unterbrochen wird: Das Resultat ist vorweggenommen, die Dominanz des Mottos erübrigt das schrittweise Vorangehen.» Ein weiterer erwähnter Kritikpunkt: «Dem tiefen, wenn auch zuversichtlichen Ernst […] wird unbesorgte Behaglichkeit in der Melodie zugemutet.»4 Zusätzlich werden Wortverteilung und Deutung bis hin zu banaler Melodieführung beanstandet. Diese Kritikpunkte haben ihre Berechtigung und auch einen geschichtlichen Hintergrund im kirchenmusikalischen Schaffen. Es ist dem einzig entgegenzusetzen, dass die Worte im Lied vertont heute wohl kaum noch die gleiche Popularität hätten, wenn Siegfried Fietz nicht eine volksnahe, für auch kirchenfernere Leute zugängliche Melodie dazu komponiert hätte.
Je nach Anlass
Ich frage mich, worauf es letztendlich ankommt. Bonhoeffer selbst hat nie eine der Liedfassungen gehört oder kennengelernt und sich auch nie für eine oder gegen eine entschieden. Je nach Anlass und Gegebenheiten gibt es verschiedene Kriterien, die zum Bevorzugen einer bestimmten Melodie führen können:
Falls für den Anlass ein Chor oder ein Singquartett zur Verfügung steht, empfehle ich die in eine vierstimmige Fassung einmündende Melodie von Otto Abel. Der schlicht gehaltene und sehr gelungene vierstimmige Satz überzeugt vollends.
Bezüglich Einsatz des Liedes an Beerdigungen: Häufig kennt und wünscht die Trauerfamilie die Fassung von Siegfried Fietz und ist oftmals überrascht, dass KG 554 ganz anders tönt. Ist es der richtige Moment, andere Melodien vorzugeben und diese zu bevorzugen? Möchte man im gegebenen Moment der Verwirrung und des Trauerns eine vertraute Melodie hören oder ist man offen für Neues? Wie oft wird an Beerdigungen das Lied «Grosser Gott wir loben dich» gewünscht, weil es mittlerweile eines der einzigen Lieder ist, das kirchenferne Leute noch kennen, wenn man von zeitgebundenen Liedern wie «Stille Nacht» und «Oh du fröhliche» absieht?
Für den Neujahrsgottesdienst hingegen finde ich die Vertonung von Kurt Grahl sehr passend. Vertraute Worte in einem uns neuen, musikalisch gelungenem Gewand können ein guter Auftakt ins neue Jahr sein. Der zuversichtliche Grundton passt sehr gut.
Mutig Varianten spielen und singen
Abschliessend also die grundsätzliche Frage, wieso man die eine Melodie gegen die andere ausspielen soll. Jede der erwähnten Fassungen hat ihre Berechtigung zum gegebenen Zeitpunkt. Sensibilität ist gefragt!
Da ich sehr gerne selbst komponiere und vor allem diverse kleine Orgelstücke und auch Lieder geschrieben habe, wage ich eine Schlussaussage, die mein eigenes Schaffen betrifft. Wie würde es mich freuen, wenn eines meiner rund hundert Orgelstücke oder Lieder in vielerlei Variationen gespielt und aufgeführt würde.
Maja Bösch