Utopische Momente in der katholischen Jugendbewegung des 20. Jahrhunderts (II)

3.2. Aus der moralischen Enge

In den 1930er-Jahren wurde in der Schweiz die Homosexualität entkriminalisiert, und es entstanden Schwulen- und Lesben-Selbsthilfeorganisationen. Diese mussten allerdings sehr diskret arbeiten, weil Homosexualität noch lange ein Tabu war und weil stigmatisiert war und diskriminiert wurde, wer sich als homosexuell zu erkennen gab. Diese Tabuisierung und Diskriminierung wurde von den Kirchen mit Argumenten moralischer Art unterstützt. Die Zeitschrift für homosexuelle Männer "Der Kreis" bot 1932–1968 Lebensberatung und Lebensstilbildung an. Nach 1968 setzte dann eine eigentliche Emanzipationsbewegung der Homosexuellen ein; 1971 und 1972 wurden in verschiedenen Städten homosexuelle Aktionsgruppen gegründet. Und schon 1971 leistete die Zeitschrift "team. das magazin einer neuen Generation" mit einem Report über Homosexualität Aufklärungsarbeit. Bemerkenswert ist dies, weil die Zeitschrift "team" die Nachfolgezeitschrift der "Jungmannschaft" war, der Zeitschrift also des Schweizerischen Katholischen Jungmannschaftsverbandes. Es war nicht die Absicht dieses Reports, "die Homosexualität zu propagieren. team sieht jedoch eine Aufgabe darin, über die Unklarheiten, Gerüchte und Mutmassungen sowie über die vielverbreiteten Irrlehren und Voreinstellungen, die die Homosexualität betreffen, Auskunft zu geben. Es geht uns darum, mit alten Tabus zu brechen und Tatsachen ins richtige Licht zu rücken"24 – also aufzuklären.

Dieser Report wertet die Homosexualität bzw. Homophilie nicht ab: "Sie ist eine Möglichkeit der Existenz, aber auch eine Möglichkeit der Liebe und damit eine Möglichkeit, den Zugang zum Du zu finden."25 Darum wird auch ein moralisches Urteil disqualifiziert: "Gleichgeschlechtliche Liebesgefühle werden von unaufgeklärten Geistlichen leicht als eine besonders gravierende Sünde hingestellt." Von diesem "team report" distanzierten sich die Bischöfe in aller Form: "Es ist zu bedauern, dass ein so delikates Thema nicht sachgerechter und gründlicher behandelt wurde und dass infolge dieses Mangels ein verzerrtes Bild des Problems vermittelt wird."

Nur drei Jahre später wagte der Schweizerische Jungwachtbund mit seinem Handbuch "Kniff" einen Ausbruch aus der moralischen Enge. Für die Altersstufe II gedacht, sprach es unter dem Titel "Du wirst erwachsen" auf eine für katholische Jugendliche bisher ungewohnte Weise Fragen zur Pubertät an. "Fredi" beschreibt, wie sich sein Körper verändert hat, dass er oft auch Stinklaunen hat und sich dann besonders gut beherrschen muss, um nicht überall herumzunörgeln. Dann spricht er von einem nächtlichen Samenerguss, und dass das etwas Normales sei. Dann fährt er unaufgeregt fort: "Wenn ich Lust verspüre, kann ich einen Samenerguss auch absichtlich herbeiführen. Ich reibe mein Glied, bis es sich aufrichtet und Samenflüssigkeit herauskommt. Man nennt diesen absichtlich herbeigeführten Samenerguss auch Selbstbefriedigung oder mit einem Fremdwort ‹Onanie›. Auch mein Vater oder mein Lehrer haben vielleicht in ihrer Jugendzeit Selbstbefriedigung gemacht. Vielleicht mit einem schlechten Gewissen, denn früher war man der Meinung, dies sei für den Körper schädlich. Das stimmt aber nicht." Das schlechte Gewissen verdankte sich natürlich nicht nur einer medizinischen Fehlinformation, sondern mehr noch der rigiden Sexualmoral, der wir bereits im Lehrbuch begegnet sind. Diese Sexualmoral hat in der Blütezeit des Milieukatholizismus Jugendlichen auch geschadet. Als bezeichnend zitiert Albert Gasser die Aussage eines Juristen: "Als gewissenhafter und kirchentreuer junger Mensch kam man, durch die Erziehung programmiert, ohne gewisse neurotische Störungen kaum davon."26

In deutlichem Gegensatz dazu steht, was "Fredi " sonst noch zur Selbstbefriedigung zu sagen weiss: "Viele Buben in meinem Alter machen diese Selbstbefriedigung. Mein Vater hat mir gesagt, wenn ich dies aber nicht tun will oder keine Lust dazu habe, so ist das auch gut. Ich würde trotzdem ein ganzer Mann werden."

Nach "Fredi" kommt noch "Monika" zu Wort. Sie erzählt von den körperlichen Veränderungen auf dem Weg zur Frau und fügt noch an: "Auch ich kann Selbstbefriedigung machen, indem ich zum Beispiel einen Finger in der Scheidenspalte hin und her bewege. Dabei erlebe ich ebenfalls Lustgefühle, die durch meinen ganzen Körper gehen." Gemeinsam fahren "Fredi" und "Monika" fort: der Geschlechtstrieb solle ihnen Lust und Freude machen und ihnen helfen, sich "später mit einem Mitmenschen zu verbinden und ihn zu lieben und glücklich zu machen". Dabei denken die beiden an ihre Eltern.

Ein Paar möchte seine Geschlechtlichkeit auch geniessen können, ohne dass dabei ein Kind entsteht. "Fredi" und "Monika" erklären dazu: "Entweder wählen sie jene Zeit aus, in der kein reifes Ei bereitliegt, oder sie nehmen Verhütungsmittel zur Hilfe. Der Mann kann zum Beispiel einen Gummischutz (‹Pariser›) nehmen und ihn über sein steifes Glied ziehen, so kann dann der Samen nicht in die Scheide dringen. Oder die Frau nimmt Pillen (‹Antibabypillen›), welche die Reifung eines Eis verhindern."

"Fredi" erzählt dann noch, wie er von einem Unbekannten angesprochen worden sei, der ihn in seiner Wohnung fotografieren wollte, er aber nicht wollte und darüber mit den Eltern gesprochen habe; diese hätten ihm erklärt, dass es Burschen und Männer gebe, die ihren Geschlechtstrieb mit Buben oder Mädchen befriedigen wollen. Die Eltern müssten solche Täter der Polizei melden; weiterhelfen könne ihnen vielleicht auch ein Facharzt. Und die Lehre daraus: "Auch hier zeigt sich deutlich, wie Geschlechtstrieb, Liebe und Verantwortung zusammen gehören. Nur so werden zwei Menschen miteinander glücklich."

Diese Offenheit und Unbekümmertheit löste zahlreiche und sehr heftige Reaktionen aus. Die Tageszeitung "Blick" titelte auf der Frontseite: "Riesenwirbel um Sexualaufklärung".27 Die Deutschschweizerische Ordinarienkonferenz schaltete sich ein, und im Gespräch mit der Bundesleitung Jungwacht wurde ein Ausweg aus der Konfrontation gefunden. Dem Handbuch "Kniff" wurde am Schluss der umstrittenen Seiten ein Blatt eingeklebt, auf dem die Darlegungen von "Fredi" und "Monika" ergänzt wurden: "Fredi und Monika haben dir zu erklären versucht, was passiert, wenn du erwachsen wirst. Das ist nicht einfach. Am besten sprichst du darüber mit deinem Vater und deiner Mutter. Eines haben dir Fredi und Monika nicht gesagt: Der Geschlechtstrieb und das Verlangen nach Selbstbefriedigung können oft sehr stark werden. Es ist nicht richtig, dass du diesem Drängen einfach nachgibst, so oft du Lust dazu verspürst. Wenn du jetzt erwachsen wirst, musst du dich immer mehr beherrschen lernen. Das erlebst du ebenso bei ganz anderen Gelegenheiten: du bist glücklich über dich selbst, wenn du andern eine Freude machst oder etwas tust, was von dir Selbstüberwindung verlangt. Der sinnvolle Verzicht auf eigene Lust und die Kraft zur Selbstbeherrschung ist auch später für dich wichtig."

Diese Ausbrüche aus der moralischen Enge erfolgten, als der Milieukatholizismus schon sehr geschwächt war und sich Mentalitäten der langen sechziger Jahre auch innerhalb des katholischen Volksteils ausgebreitet hatten. Sie zeigen aber, wie sich nach der Zeit des Milieukatholizismus die katholischen Verbände als solche von früheren ideologischen Vorgaben emanzipierten.

3.3. Aus der konfessionellen Enge

Die konfessionelle Enge wurde bereits in den 1930er- Jahren von den genannten Zeitschriften kritischer junger Katholiken beklagt. Zugleich war aber eine Gebetsbewegung für die Einheit der Kirche entstanden. So wurde 1929 der Einsiedler Gebetsbund für die Wiedervereinigung im Glauben in der Schweiz gegründet; und der 1927 gegründete Bruder-Klausen- Bund bezweckte an zweiter Stelle "die Wiedervereinigung des Schweizervolkes im Glauben durch die Fürbitte des seligen Bruder Klaus". Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen sich dann auf katholischer Seite Theologen für die Begründung und Entfaltung des ökumenischen Gedankens einzusetzen. Ein wichtiger Pionier der ökumenischen Bewegung in der Schweiz wurde Otto Karrer (1888–1976), dem wir bereits als Mentor der Zeitschrift "Entscheidung " begegnet sind. Otto Karrer hat nicht nur publiziert, sondern war auch ein Mitbegründer der ab 1946 entstandenen katholisch-reformierten Gesprächsgruppen der deutschen Schweiz.

Nach der Ankündigung eines Ökumenischen Konzils wurde das ökumenische Anliegen zunehmend thematisiert. 1960 veröffentlichte Hans Küng sein Buch "Konzil und Wiedervereinigung". Im gleichen Jahr wurde im Zentralkomitee des Schweizerischen Studentenvereins (SchwStV) der Gedanke entwickelt, das zentrale Bildungsthema, die so genannte Zentraldiskussion, dem Thema Ökumene zu widmen. Die Delegiertenversammlung des Vereins beschloss am 19. November 1960 als Zentraldiskussionsthema "Einheit der Christen – unser Beitrag ". Die Delegiertenversammlung vom 8./9. Juli 1961 dynamisierte den Titel dann zu "Begegnung der Christen – unser Beitrag"; in der französischen Fassung blieb es allerdings bei "L’unité des chrétiens – …". In der Zwischenzeit hatte eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Heinz Hausheer, nachmaliger Hochschullehrer und Bundesrichter, Unterlagen für diese Zentraldiskussion erarbeitet: Geschrieben haben den Leitfaden "Begegnung der Christen – Unser Beitrag" in enger Zusammenarbeit mit Otto Karrer die Theologiestudenten Ivo Meyer, nachmaliger Hochschullehrer, und Rolf Weibel.

Für die Durchführung der Zentraldiskussion hilfreich war, dass einer der Autoren des Leitfadens – Rolf Weibel – zur Wahl in das Zentralkomitee vorgeschlagen wurde, von der Generalversammlung des Vereins am 2. September 1961 auch gewählt wurde und vom neuen Zentralkomitee als Ressort denn auch die Zentraldiskussion zugeteilt erhielt. Der andere Theologiestudent im Zentralkomitee, der nachmalige Hochschullehrer Albert Gasser, wie auch die Theologenverbindungen im Studentenverein unterstützten ihn dabei. Um Rat fragen konnte er weiterhin und jederzeit Otto Karrer.

4. Aufbrüche

Dieser ökumenische Aufbruch wurde von den Beteiligten als Ausbruch aus der konfessionellen Enge empfunden. Aus heutiger Sicht bezeichne ich ihn dennoch als Aufbruch; denn angeregt wurde er durch die Ankündigung des Konzils, während dessen Vorbereitung schon eine ökumenische Öffnung der Kirche erkennbar wurde. Desgleichen bezeichne ich einen weiteren Vorgang, nämlich das Missionsjahr der katholischen Jugendverbände und was da raus geworden und entstanden ist, als Aufbruch. Denn dieser Aktion ist der missionarische Aufbruch der 1950er-Jahre vorausgegangen, der wesentlich von der Nachkriegssituation angestossen wurde.

Einerseits konnte die Schweiz als eines der ersten europäischen Länder die Missionsarbeit wieder aufnehmen, anderseits mangelte es an personellen und finanziellen Ressourcen. Um die katholische Bevölkerung auf die Missionsarbeit aufmerksam zu machen und dafür zu werben, führten die Missionsinstitute 1947 in Luzern die Schweizerische Katholische Missionsausstellung durch. Acht Jahre später stellte eine weitere Missionsausstellung, die Wanderausstellung "Messis", nicht mehr nur die Missionsinstitute und ihre Einsätze vor, sondern zudem die aktuellen Themen der weltweiten Missionsarbeit. Das hatte zur Folge, dass immer mehr Laienverbände Missionsaktionen durchführten; das "Katholische Missionsjahrbuch der Schweiz" berichtet 1960 von fast zwanzig solchen Aktionen, von denen es noch heute einige gibt wie "Die Brücke" oder das "Elisabethenopfer". Die umfassendste Missionsaktion unternahm der Schweizerische Jungwachtbund auf sein 25-jähriges Bestehen hin.

Nach dem grossen Erfolg der "Messis" begannen die Missionsinstitute 1958 mit der Planung einer Nachfolgeausstellung. Ebenfalls durch Erfolge ihrer Aktionen ermutigt, beschlossen Kongregation und Blauring sowie Jungmannschaft und Jungwacht eine grosse Missionsaktion, ein Missionsjahr. Entscheidend wurde, dass diese beiden Initiativen schon früh miteinander in Verbindung traten und gemeinsam weiter planten. Für die Vorbereitung eines Missionsjahres übernahmen schliesslich vier Träger die Verantwortung: die katholischen Jugendverbände, die Bischofskonferenz, die Missionsinstitute und die Päpstlichen Missionswerke. Die Führungsrolle übernahmen dabei die Jugendverbände. Für die organisatorischen Arbeiten wurde eine Arbeitsstelle geschaffen, ihre Leitung übernahm Meinrad Hengartner, damals Bundesführer der Jungwacht und Verbandsobmann des Jungmannschaftsverbandes. Anderseits hatten sich alle katholischen Jugendverbände der Schweiz für ein Jahr auf ein gleiches Bildungs- und Arbeitsthema geeinigt. Durchgeführt wurde das Missionsjahr von Aktionsgruppen in den Pfarreien. Grösstes Gewicht wurde dabei auf die Informationsund Bildungsarbeit gelegt. Als Schwerpunkt auch für den Einzug der Spenden wurde die Fastenzeit gewählt.

Die Höhepunkte dieses Missionsjahres können wir uns heute kaum mehr vorstellen: Zum Eröffnungskongress trafen sich am 2. Oktober 1960 im Zürcher Kongresshaus über 2500 Jugendliche. Am 9. Oktober 1960 fand in Luzern ein zweiter Kongress für die Schülerinnen und Schüler der katholischen Mittelschulen statt; so trafen sich noch einmal rund 1200 Jugendliche. Am 8. Januar 1961 fand im Dom von St. Gallen eine missionarische Aussendungsfeier statt. 192 Missionare aus 36 Missionsinstituten erhielten von Kardinal Gregor Peter Agagianian, dem Präfekten der römischen Kongregation "De Propaganda Fide", das Missionskreuz; Papst Johannes XXIII. wünschte in einer Grussbotschaft den Schweizer Katholiken "einen fruchtbaren Erfolg des Missionsjahres".

Der glänzende Erfolg des Missionsjahres liess die Initianten schon bald an eine Fortsetzung denken. Meinrad Hengartner, der die Arbeitsstelle in den Räumlichkeiten des Schweizerischen Katholischen Volksvereins hatte, arbeitete mit dem Generalsekretär des Volksvereins, Otto Wüst, später Bischof von Basel, ein Konzept für eine Fortsetzungsaktion aus. Den beiden war aber klar, dass eine solche Aktion nur zusammen mit den Jugendverbänden erfolgreich durchgeführt werden konnte. In der Folge konnten die Initianten die Jugendverbände und dann auch die Missionsinstitute und Ende Januar 1962 schliesslich noch die Bischofskonferenz für den Plan einer jährlichen Fastenaktion gewinnen. In der knapp einen Monat später beginnenden Fastenzeit konnte so die erste Aktion des "Fastenopfers" durchgeführt werden.

5. Alternativen

Die Ausbrüche aus der katholischen Sondergesellschaft waren Alternativen zum "Mainstream", die Aufbrüche zu Neuem Alternativen zum Herkömmlichen; Alternativen wurden sie aber selten genannt. Im Jubiläumsjahr des Stanser Verkommnisses 1981 begannen die Jugendverbände Blauring und Jungwacht unter dem Leitwort "Friede ha – mir fanged aa!" mit dem Projekt Friedensdorf. Ihnen wurden im Flüeli-Ranft, der Heimat des Friedensstifters Bruder Klaus, von den Dorothea-Schwestern die Gebäude ihrer eben geschlossenen Internatsschule zur Verfügung gestellt. Nach ersten guten Erfahrungen mit verschiedenen Projekten schlossen sich mehrere kirchliche Organisationen der Trägerschaft an. Besonderes Aufsehen erregte das Angebot einer alternativen Rekrutenschule 1984; der Gedanke war, nach der ordentlichen Rekrutenschule freiwillig noch einen Sozialdienst zu leisten. Das war aber streng genommen keine alternative, sondern eine komplementäre Rekrutenschule.

6. Ausbrüche, Aufbrüche, Alternativen heute?

Ausbrüche aus der katholischen Sondergesellschaft während dieses Zeitabschnitts wurden mit den Zeitschriften "Jugend am Werk" und "Entscheidung" versucht. Die weiteren Ausbrüche erfolgten erst in der Zeit danach, in der Zeit der langen "sechziger Jahre" zwischen 1958 und 1974,28 in der die westliche Welt tiefgreifende kulturelle Wandlungen erlebt hat. Diese können als religiöse Krise interpretiert werden.29 Besser scheint mir, sie mit dem kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor auf den Begriff "expressive Revolution"30 zu bringen. Das heisst: Der Stellenwert der Autorität wurde kleiner und der Wille zur Authentizität entsprechend grösser. Im kirchlichen Bereich kann für Autorität "Bibel", "Tradition" oder "kirchliches Lehramt" stehen. Für den Wandel hin zu mehr Authentizität und Expressivität stehen Begriffe und Konzepte wie "Selbstverwirklichung" oder "Persönlichkeitsentwicklung". Damit verbunden ist ein Widerstand gegen Fremdbestimmung, gegen Moralismus und Regelfetischismus.

Von daher stellt sich die Frage: Sind die Ausbrüche in der Zeit nach 1958 nur Ausbrüche aus dem Milieukatholizismus, oder haben sie sich auch von der Kultur der langen "sechziger Jahre" anregen lassen?

Das Friedensjahr von Jungwacht und Blauring fiel in die Zeit nach den langen "sechziger Jahren "; für den Schweizer Katholizismus ist dies eine Zeit des Umbruchs, die Zeit nach der Synode 72, eine Zeit der Flügel- und Fraktionenbildung. In dieser Zeit, 1982, haben in Luzern Theologiestudierende die Theologische Bewegung für Solidarität und Befreiung gegründet.

Wenn wir das 21. Jahrhundert mit dem Zerfall des Sowjetimperiums beginnen lassen wollen, steht der Schweizer Katholizismus seit 20 Jahren im 21. Jahrhundert und sucht also seit 20 Jahren einen Weg in diese neue Zeit. So wäre die Alternative heute, sich mit dem Lauf der Dinge nicht zufriedenzugeben, nach Alternativen Ausschau zu halten, sich die Sehnsucht nach einem alternativen Leben nicht nur nicht nehmen zu lassen, sondern bewusst zu pflegen.

 

 

24 Team, Mai 1971, 46.

25 Ebd., 51.

26 Albert Gasser: Die Selbstwahrnehmung des deutschschweizer Katholizismus, in: Victor Conzemius (Hrsg.): Schweizer Katholizismus 1933–1945. Eine Konfessionskultur zwischen Abkapselung und Solidarität. Zürich 2001, 43–73, Zitat 51.

27 27. September 1974.

28 Arthur Marwick: The sixties: cultural revolution in Britain, France, Italy, and the United States, c.1958–c.1974. Oxford 1998.

29 Hugh McLeod: The Religious Crisis of the 1960s. New York 2007.

30 Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt a. M. 2009, 821.

Rolf Weibel

Rolf Weibel

Dr. Rolf Weibel war bis April 2004 Redaktionsleiter der «Schweizerischen Kirchenzeitung» und arbeitet als Fachjournalist nachberuflich weiter