31'772 Kirchenaustritte wurden 2019 gezählt, ein Rekordjahr.2 Dabei ist zu beachten, dass dieses Bild nicht die Situation der ganzen Schweiz widerspiegelt. Kirchenaustritte werden im Wesentlichen in denjenigen Kantonen festgestellt, in denen ein Austritt zugleich das Verlassen des Kirchensteuersystems bedeutet, also in den Kantonen mit dem dualen System. Die Kirchensteuer zählt allerdings nicht zu den Hauptgründen des Abschieds von der Kirche. Im Gegenteil kann beobachtet werden, dass es in Kantonen mit dem dualen System sogar leicht besser gelingt, die Kirchenbindung zu halten als in den anderen Kantonen. Dort gibt es zwar keine formalen Austritte, dafür aber höhere Abbrüche im kirchlichen Leben, z. B. bei Taufen oder bei Eheschliessungen.3 Das duale System macht die Abschiede von der Kirche also lediglich sichtbarer, weil als Austritte zählbarer. Allerdings gibt es auch in den Kantonen Genf, Neuenburg, Waadt und Wallis Kirchenaustritte.4 Der Anteil der sogenannten «partiellen Kirchenaustritte», also dem Austritt aus der staatskirchenrechtlichen Seite der Kirche im dualen System, ist so gering, dass er statistisch vernachlässigt werden kann.
Analysen
Die Grafik für den Kanton Zürich zeigt eine Entwicklung, die in der Grundform auch für andere Kantone zutrifft. Die Entwicklung der Kircheneintrittszahlen (rot) ist seit über 50 Jahren auf niedrigem Niveau stabil. Die Austrittszahlen (blau) zeigen dagegen eine deutliche Dynamik: Es geht nach oben. Dazu kommt eine zweite Beobachtung: Auf dem steigenden Sockel an Austritten finden sich einzelne Jahre mit deutlich erhöhten Austrittszahlen. Hier kann von besonderen Ereignissen bzw. Anlässen ausgegangen werden, die zu erhöhten Austrittszahlen geführt haben wie z. B. 2010 die erste Welle des Bekanntwerdens von Kindesmissbräuchen in der Kirche.
Der Sockelanstieg der jährlichen Austritte verläuft langsam, ist aber entscheidend. Im Hintergrund steht der schon lange beobachtete Trend zur Säkularisierung. Er wirkt sich bereits seit Generationen auf Familien aus. Diese gelten in der Schweiz als wichtigster Ort der Weitergabe von Kirchenbindung.5 Jede Kindergeneration ist etwas weiter weg von der Kirche als noch ihre Eltern. Weniger Kontakt zur Kirche bedeutet in der Regel auch weniger Erlernen von Glauben und weniger religiöse Praxis. Am Ende dieser Entwicklung, die oft über Generationen verläuft, steht heute immer öfter die Trennung von der Kirche. Dazu kommt ein weiterer Punkt. Wenn junge Erwachsene eine eigene Beziehung eingehen, ist die Chance gross, dass das Paar konfessions-, religions- oder spiritualitätsverschieden ist. Gleichzeitig ist es aber auch wahrscheinlich, dass dieser Bereich bei beiden Partnern keine besonders wichtige Rolle im Leben spielt. Bevor es hier zu einem Konflikt in der Partnerschaft kommt, wird Religion eher abgewählt.
Auf dieser Grundlage können die anlassbezogenen Austritte, und wie es scheint, auch deren häufigeres Auftreten erklärt werden. Skandale in der Kirche und Unzufriedenheit mit einzelnen Aspekten der Kirche gab es immer schon, sie werden heute aber medial stärker sichtbar gemacht. Und offenkundig treten heute mehr Menschen anlässlich solcher Skandalmeldungen aus als früher. Man kann sagen: Je schwächer die Kirchenbindung, desto stärker ist die Austrittsneigung bei Skandalen. Das gleiche gilt für Austritte aufgrund von bestimmten öffentlichen Äusserungen der Kirche, mit denen einzelne Mitglieder nicht einverstanden sind, z. B. Aussagen zu Gleichstellung der Geschlechter, Sexualität, Konzernverantwortungsinitiative oder Ehe für alle. Es gilt: Je schwächer die Kirchenbindung, desto geringer ist die Ambiguitätstoleranz gegenüber der Kirche – also die Fähigkeit, Widersprüche und Spannungen auszuhalten. Anderslautende Meinungen führen zum Austritt.
Neue Tendenz
Das Bild der Austretenden verändert sich: Die grösste Einzelgruppe bleiben zwar Männer zwischen 30 und 39 Jahren, Frauen holen allerdings in dieser Altersgruppe wie auch insgesamt auf. Der Vorsprung der Männer bei den Austretenden nimmt ab. Neben dieser Geschlechterannäherung bei den Kirchenaustritten gibt es eine zweite Tendenz: Vermehrt treten auch ältere Personen aus der Kirche aus.
Weil jahrelang mehrheitlich jüngere Männer ausgetreten sind, sind überproportional mehr Frauen und Ältere übrig geblieben. Von denen können jetzt auch mehr austreten. Zudem ist zu beachten, dass der Altersdurchschnitt der Gesellschaft insgesamt gestiegen ist. Ein Grund für die vermehrten Austritte von Älteren liegt in der Dynamik der Säkularisierung in der Gesellschaft und in den Familien. Hier könnte wiederum die Bedeutung der Familie für die Kirchenbindung ins Spiel kommen – allerdings umgekehrt: Familie scheint nicht nur bei der Weitergabe von Kirchenbindung wirksam zu sein, sondern neu auch bei der Weitergabe von Kirchenaustritt. Früher haben die Älteren die Kirchenzugehörigkeit an die Kinder weitergegeben. Heute machen Kinder den Eltern vor, wie man aus der Kirche austritt.
Dass schliesslich vermehrt Frauen austreten, könnte mit den aktuellen Skandalen in der Kirche zusammenhängen. Viele Frauen dürften sich noch mehr als Männer mit den Opfern der in der jüngsten Zeit bekannt gewordenen Missbrauchstaten identifizieren und deswegen austreten. Dazu kommt ein zunehmendes Unverständnis über die Rolle der Frauen in der katholischen Kirche und das Ende der Bereitschaft zur Toleranz dieser Ungleichbehandlung der Geschlechter.
Und die Kirchensteuer?
In der kirchlichen und öffentlichen Diskussion wird bei den Austrittszahlen oft auf die Kirchensteuer verwiesen. Diese spielt jedoch keine grosse Rolle. Das zeigen Studien sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland.6 Nur um die 10 Prozent der Austretenden geben an, wegen der Kirchensteuer auszutreten. Am häufigsten werden mit ca. 30 Prozent Glaubensgründe (nicht mehr glauben, nie geglaubt, anders glauben, gegen Religion) genannt, dann mit knapp 25 Prozent die Ablehnung kirchlicher Positionen und öffentlicher Stellungnahmen (Frauen, Gleichstellung, Sexualität, politische Fragen). Die Kirchensteuerfrage kommt also in der Regel erst ganz am Ende einer langen Entfremdung von der Kirche. Dann ist sie nur noch ein letztes Argument für den Schlussstrich.
(Keine) Perspektiven
In der Regel gehen einem Kirchenaustritt lange, oft Generationen überspannende Geschichten der Entfremdung und Distanzierung voran. Aber genau hier, in der langen Phase vor dem Austritt, befinden sich Chancen zur Intensivierung der Kirchenbindung und zur Relevanzstärkung in der Kommunikation des Evangeliums.
Das setzt allerdings den Willen zu Veränderung und Umgestaltung heutiger Kirchen- und Pastoralpraxis voraus. In dieser Situation ist die Kirchenleitung gefragt. Leider hält sich die Schweizer Bischofskonferenz dabei noch sehr zurück. Zwar anerkennt sie umstandslos die Fakten, ja sie räumt sogar Mitschuld an der Situation der Austritte ein, aber anstatt Veränderung anzustossen oder dazu zu ermutigen, ergreift sie angesichts der Kirchenaustrittszahlen eine abrupte Flucht ins Spirituelle: «Dennoch bekräftigen die Bischöfe, dass die Kirche als Leib Christi weit mehr als eine Ansammlung von Zahlen und Fakten ist […]. Die SBK erhofft sich aus dem Prozess ‹Gemeinsam auf dem Weg für die Erneuerung der Kirche› eine Erneuerung der Herzen und erinnert an die ungebrochene Kraft des Wortes Gottes.»7 Ein solcher Blick auf die Kirchenaustrittszahlen irritiert, geht es doch gerade nicht nur um Zahlen, sondern um 31'772 sehr konkrete Menschen, die in der Regel nach einer langen Phase der Entfremdung und Distanzierung der Kirche 2019 «Adieu» sagten. Angesichts dieser Realität kann die Erinnerung an das paulinische Wort vom Leib Christi kein Beruhigungsmittel sein. Sie müsste in einem Schmerzensschrei enden: «Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit» (1 Kor 10,26).
Arnd Bünker