Unsichere Zukunft für Schweizer Judentum

Die Menora wurde zu einem Wahrzeichen des Judentums. Sie drückt die Gewissheit aus, dass Gott mit seinem Volk durch die Geschichte geht. Aus: Welt und Umwelt der Bibel 38-4/2005 © zVg

"Der letzte Beter macht das Licht aus", titelte die in Berlin erscheinende "Jüdische Allgemeine Zeitung" letztes Jahr anlässlich der Schliessung der Jüdischen Gemeinde Kreuzlingen. Diese war schon lange eine sogenannte Kleingemeinde. Der Betsaal wurde seit 2009 nicht mehr benutzt, das Inventar einem Museum übergeben. Simon Erlanger äussert sich zur unsicheren Zukunft jüdischen Lebens in der Schweiz.

Trotz radikaler Schrumpfung und nur noch wenigen Mitgliedern war Kreuzlingen aber bis zuletzt Mitglied im Dachverband der Schweizer Juden, dem Schweizerisch-Israelitischen Gemeindebund (SIG). Nicht mehr im SIG ist hingegen die Jüdische Gemeinde Luzern. Die 1867 gegründete Gemeinde mit ihrer prächtigen Synagoge leidet seit Jahren unter Mitgliederschwund. Die Schliessung der Talmudhochschule in Kriens im Herbst 2015 erschwerte die Lage zusätzlich, garantierten die Talmudschüler doch das nötige Quorum für den Gottesdienst. Der Krise begegnet die Gemeinde Luzern mit dem Versuch, neue Mitglieder nach Luzern zu bringen.

Viele traditionsreiche Synagogen stehen meist leer und sind zu Denkmälern geworden, so in Delémont, Endingen und Lengnau. Kleingemeinden verschwinden, mittlere Gemeinden werden klein, Grossgemeinden steigen demografisch ab. Von den nunmehr 16 Mitgliedsgemeinden des SIG haben nur noch zwei über 1000 Mitglieder. Neun sind Klein- oder Kleinstgemeinden. Am Schrumpfen ist die 212 Jahre alte "Israelitische Gemeinde Basel" (IGB). 1980 hatte die IGB noch 1515 Mitglieder. 2004 waren es noch 1218. Ende 2016 wurden nur noch 967 Mitglieder gezählt. Im Gegensatz zu den Austrittswellen in den Landeskirchen, wo Ausgetretene wieder mobilisiert werden könnten, sind die ehemaligen Mitglieder der jüdischen Gemeinden mehrheitlich schlicht nicht mehr da. Mit unter 18 000 zählen die Schweizer Juden heute 2000 Personen weniger als 1920. Da sich aber seither die Bevölkerung der Schweiz auf 8,4 Millionen vervielfacht hat, ist der Bevölkerungsanteil der Juden drastisch gesunken.

Konzentration auf Zürich

Es ist in Zürich, wo sich das jüdische Leben in der Schweiz zusehends konzentriert. Dort wachsen die Gemeinden. Die gute demografische Situation hat auch mit der Präsenz ultra-orthodoxer Gruppen mit grossen Familien zu tun. Aber auch die Israelitische Cultusgemeinde Zürich (ICZ), die als "Einheitsgemeinde" Juden aller Schattierungen vereint, verfügt über eine stabile Basis. Nun gab es noch nie viele Juden in der Schweiz: Nach den Vertreibungen des Spätmittelalters wurde ihnen jahrhundertelang die Niederlassung verweigert. Nur an der Peripherie der Eidgenossenschaft, in der Nordwestschweiz, konnten sich kleine jüdische Landgemeinden halten. Im 17. Jahrhundert kam es dann in der ehemals habsburgischen Grafschaft Baden zur Wiederansiedlung von Juden. Sie waren bloss geduldet und mussten regelmässig beim eidgenössischen Landvogt ihre Aufenthaltserlaubnis, den Schutzbrief, erneuern. Trotzdem konnten sie sich halten, allerdings ohne Bürgerrechte. Ein erster Versuch der Emanzipation nach der franzöischen Besetzung des Landes 1798 misslang. Auch 1848, bei der Gründung des liberalen Bundesstaates, wurde den Juden die Gleichberechtigung verweigert. Erst der Druck vor allem der USA und Frankreichs führte nach 1866 zur Gewährung der vollen Bürgerrechte. Ursprünglich elsässisch und süddeutsch geprägt, wuchs das Schweizer Judentum in der Folge durch Einwanderung aus Osteuropa bis zum ersten Weltkrieg auf rund 20 000 Menschen an. Diese Jahre gelten als Gründerzeit. Zahlreiche Gemeinden wurden etabliert und repräsentative Synagogen gebaut. Von der Schoah blieben die Schweizer Juden verschont, auch wenn sie antisemitischen Ausschreitungen und Stimmungen ausgesetzt waren und die Behörden seit den Zwanzigerjahren eine antisemitisch motivierte, repressive Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik betrieben. So wurden zwischen 1938 und 1944 bis zu 30 000 Jüdinnen und Juden an der Schweizer Grenze abgewiesen oder zurückgestellt. Rund 22 500 fanden trotzdem Zuflucht in der Schweiz. Die meisten Flüchtlinge und Emigranten mussten das Land aber bis 1953 wieder verlassen.

Trotz den Erfahrungen der Kriegsjahre konnten die 60er und 70er dann als goldenes Zeitalter des Schweizer Judentums gelten. Die Gemeinden waren jung, dynamisch und aktiv. Institutionen wurden etabliert, Gemeindezentren gebaut, Schulen gegründet. Die Zahl der Juden in der Schweiz pendelte sich damals bei etwa 18 000 ein. Paradoxerweise lässt sich aber seither auch die erwähnte Schrumpfung feststellen. Zwei Gründe werden dafür oft genannt: Assimilation (die Lösung der institutionellen und religiösen Bindungen an das Judentum) und Auswanderung. Diese ist signifikant. Allein 2015 sind laut Statistiken des Bundes 244 Personen nach Israel ausgewandert. So lebten 2015 fast 18 800 Schweizer Bürger in Israel, davon meist ehemalige Schweizer Juden.

Zusätzlich zum demografischen Niedergang bedroht die zusehends prekäre Sicherheitslage die Kontinuität des Schweizer Judentums. Dabei ist die Schweiz keine Insel. In Frankreich sieht sich die grösste jüdische Gemeinde Europas existenziell bedroht. Seit den tödlichen Attacken von 2015 und 2016 werden dort Synagogen, Gemeindezentren und Schulen vom Militär bewacht. Auch in Deutschland ist organisiertes jüdisches Leben 72 Jahre nach der Schoah nur unter ständiger Bewachung möglich. Auch hierzulande haben Manifestationen des Antisemitismus zugenommen, und das bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. In der politisch korrekten Form als "Israelkritik" wird heute quer über alle Schichten und Parteigrenzen hinweg ein antijüdischer Diskurs gepflegt. Oft hat "Israelkritik" in ihrer Einseitigkeit, ihrer Pauschalisierung, ihrer Obsessivität und in ihrem Rückgriff auf alte antijüdische Stereotype wenig mit der Lage in Nahost oder mit Kritik an konkreten Personen und Entwicklungen zu tun, dafür aber viel mit Delegitimierung des Jüdischen Staates und der Juden auch in der Schweiz. Einen Höhepunkt erreichte der altneue, durch islamistische Gruppierungen verstärkte Antisemitismus im Sommer 2014, als im Gefolge des Gazakrieges in Zürich und in anderen Städten jüdische Institutionen und Individuen massiv bedroht wurden. Dazu kommt seither noch die europaweite terroristische Bedrohung. Heute gibt es keine jüdische Institution, die sich nicht um ihre Sicherheit sorgt. Synagogen und Gemeindezentrum müssten dauernd bewacht werden.

Akut wurde die bis anhin von der Öffentlichkeit ignorierte Sicherheitsproblematik 2016, als die Juden der Schweiz mit einer Ausstellung, diversen Festakten und Reden von Bundesräten und Notabeln 150 Jahre Emanzipation feierten. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr konstatierte der Bund Ende 2016 in einem Expertenbericht zur Sicherheit jüdischer Gemeinden zwar die akute Bedrohung, lehnte aber einen Beitrag an jüdische Sicherheit ab. Die Juden hätten diese selbst zu berappen und zu organisieren. Damit hatte sich der Schweizer Staat geweigert, Verantwortung für einen Teil seiner Bürger zu übernehmen. Seit Jahrhunderten ansässig, seit 150 Jahren gleichberechtigt, stellt sich den Juden nun die Frage, ob sie nicht doch Bürger auf Wiederruf geblieben sind. Obwohl sich mittlerweile positive Signale gehäuft haben, erfolgte noch wenig konkrete Hilfe. Die Sicherheitskosten bringen die Gemeinden an den Rand des Ruins. Gelingt es nicht, das doppelte Problem der Schrumpfung und der Sicherheit zu lösen, dann steht es schlecht um die Zukunft organisierten jüdischen Lebens in der Schweiz.

Hinweis derRedaktion:

Zum Thema "Antisemitismus" ist im Juni 2017 das Bulletin TANGRAM 39 der eidgenössischen Kommission gegen Rassismus erschienen. Darin integriert sind Porträts von 15 jüdischen Personen in der Schweiz. Internet-Bestellung von TANGRAM 39 www.ekr.admin.ch

 

 

 

 

Simon Erlanger © Uni Luzern

Simon Erlanger

Simon Erlanger ist Historiker und Lehr- und Forschungsbeauftragter am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF) der Universität Luzern.