Unerfüllbare Erwartungen?

In den zahlreichen Wortmeldungen zu den Erwartungen an den nächsten Papst taucht immer wieder die nachsichtige Bemerkung auf, solche Erwartungen seien derart hoch oder gar überhöht, dass niemand sie erfüllen könne. Dies allerdings weckt die Frage, was dies für das Verständnis des Papstamtes bedeutet, sieht man einmal davon ab, dass jede Amtsperson (genauer: jeder Mensch!) geradezu unvermeidlich Erwartungen enttäuscht. Wenn das Papstamt, besser: der Petrusdienst, ein Amt sein soll, das dem Wohl der Kirche dient, darf es nicht ein geradezu unerfüllbares Amt sein. Mit seinem Rücktritt hat Papst Benedikt XVI. ein Zeichen gesetzt: Für die Erfüllung des Petrusdienstes müssen Voraussetzungen erfüllt sein, die auf der Ebene des Menschseins liegen und deren Fehlen nicht «auf wunderbare Weise» ausgeglichen wird. Papst Benedikt sah seine schwindenden physischen Kräfte als Hinderungsgrund für die weitere Ausübung des Petrusdienstes – und so würde es nicht verwundern, wenn aus dem bevorstehenden Konklave ein deutlich jüngerer Papst hervorgehen würde. Dass der Petrusdienst nicht mit unerfüllbaren Erwartungen überfordert wird, hängt aber nicht nur daran, ob der jeweilige Amtsträger die nötigen körperlichen oder geistigen Kräfte dafür mitbringt. Es hängt auch am Verständnis des Amtes selbst und an der Frage: Welche Entscheidungen in der Kirche müssen und welche können im «Zentrum» der Kirche getroffen werden, und wie sollte das geschehen?

Gut beraten?

Bekannt geworden ist Papst Benedikts Ausspruch, der Papst sei kein Orakel. Das heisst aber auch: Wie andere Verantwortungsträger in Kirche, Politik, Gesellschaft muss ein Papst sich beraten lassen. Bereits vor dem Pontifikat Papst Benedikts XVI. wurde eine Kurienreform als dringlich angesehen. Nicht nur blieb sie aus, mehr noch ist seitdem das Vertrauen in die Kurie und ihre Fähigkeit, den Bischof von Rom angemessen zu beraten und zu unterstützen, durch Pannen und offenkundige Mängel der Organisation stark beschädigt worden. Selbst wer den jüngsten Dementis von besonders pointierten Medienberichten Glauben schenkt, wird doch nicht ausblenden können, dass auch hochrangige und eher behutsame Vatikan- Insider von Spannungen in der Kurie sprechen, unter denen Papst Benedikt sehr gelitten habe. Die überfälligen Neuordnungen, Reformen und Neubesetzungen bedeuten ein schweres Erbe für den künftigen Papst. Würde er sich aber dieser Herausforderung nicht stellen, so würde er den Anforderungen seines eigenen Amtes aus Mangel an geeigneter Unterstützung nicht entsprechen können. Beratung braucht der Papst darüber hinaus von den Bischöfen aus allen Regionen der Welt. Das Instrument der Weltbischofssynode, das Papst Benedikt XVI. schon um Zeiten freier Diskussion bereichert hat, wäre hierzu weiterzuentwickeln. Das Jubiläum des Zweiten Vatikanischen Konzils bringt in Erinnerung, dass zahlreiche Konzilsväter einen kollegialen Leitungsrat der Gesamtkirche wünschten. Schon damals ging es um eine bessere Beteiligung der Ortskirchen an Entscheidungen der Kirchenleitung ebenso wie um ein Korrektiv gegen die Eigendynamik von Machtansprüchen der Kurie. Die stärkere Beachtung des Bischofskollegiums, in welchen Formen auch immer, ist eine Erwartung an den künftigen Papst – und sie würde den Petrusdienst zu einem besser erfüllbaren Amt machen.

Dezentralisierung

Auch das Stichwort «Dezentralisierung» formuliert eine Erwartung, die den Petrusdienst zugleich von überhöhten Ansprüchen entlasten würde. Viele Fragen kirchlichen Lebens, die heute gesamtkirchlich geregelt sind oder durch Papst und Kurie entschieden werden, wurden über Jahrhunderte hinweg vor Ort entschieden – und dies zu Zeiten, in denen die Verhältnisse weniger komplex waren. Wiederum waren es bereits die Konzilsväter, die für eine Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Ebene der Bischöfe und Bischofskonferenzen eintraten. Entsprechende Postulate sind seitdem noch dringlicher geworden. Für zahlreiche umstrittene Themen – Anpassung von Normen an regionale Verhältnisse, Rolle der Laien im pastoralen Dienst (in der Schweiz wie auch in afrikanischen oder lateinamerikanischen Ländern), Gestalt der Liturgie usw. – wäre es deswegen nicht sinnvoll, ebenso zahlreiche Erwartungen an den neuen Papst zu formulieren. Zu hoffen ist aber, dass ein Prozess der Entflechtung von regionalkirchlichen und gesamtkirchlichen Gestaltungsfragen beginnt – und es daraufhin möglich wird, pluralen Wegen Raum zu geben. Der Einheitsdienst des Bischofs von Rom zielt nicht auf Uniformität, sondern hat zur Aufgabe, die Pluralität der Ortskirchen mit ihren Besonderheiten in Eintracht, Verbundenheit und gegenseitigem Dienst (vgl. LG 13; 23; UR 4) zusammenzuhalten. Die Unterscheidung zwischen den legitimen Verschiedenheiten und dem notwendigen Gemeinsamen wird neu einzuüben sein.

Ökumene

Worauf richten sich die Hoffnungen der Ökumene? Schon lange wird bedauert, dass die Kirchen sich die in bilateralen Dialogen erreichten Verständigungen kaum zu eigen gemacht haben. Viele Ökumeniker drängen in diesem Sinne auf «In-via-Erklärungen», «Erklärungen auf dem Weg», welche (nach dem Vor bild der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre) die in einzelnen Punkten erreichten Gemeinsamkeiten verbindlich festhalten, selbst wenn sie noch keine Kirchengemeinschaft begründen können. Abgesehen davon scheint mir eine der wichtigsten Aufgaben der katholischen Kirche darin zu bestehen, im eigenen Bereich ökumenische Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Dabei wird sehr schnell deutlich, dass solche Massnahmen nicht nur der Ökumene geschuldet sind. So wäre die oben angesprochene Überwindung des Zentralismus, die innerkatholisch dringlich ist, zugleich ökumenisch ein höchst bedeutsamer Schritt. Es hilft wenig, im ökumenischen Gespräch von «communio-Strukturen» zu sprechen, die einer Pluralität von Kirchen in der einen Kirche Raum geben (so vor allem im Dialog mit der Orthodoxie), wenn binnenkatholisch dafür keine Offenheit erkennbar ist. Das heisst – entlastend –: Ökumenische Erwartungen an den neuen Papst konvergieren durchaus mit binnenkatholisch ohnehin anstehenden Entwicklungen.

Legitime Fokussierungen auf Strukturen

Die hier und anderswo thematisierten Erwartungen sind stark auf Kirchenstrukturen und Reformen fokussiert. Ist dies nicht etwas einseitig? Ich meine, es hat mit der angesprochenen Differenzierung von Ebenen in der Kirche zu tun. Für die persönliche Spiritualität und für eine evangeliumsgemässe Verkündigung gibt es viele Quellen und Inspirationen – unabhängig vom amtierenden Papst. Ordensgemeinschaften, Bewegungen, Seelsorgende, einzelne Gläubige werden – bei aller Offenheit für Anregungen – ihre persönliche, gewachsene Spiritualität nicht von Papst zu Papst oder Bischof zu Bischof wechseln – das wäre sehr wenig spirituell gedacht. Es ist umgekehrt auch gar nicht Aufgabe des Papstes, Spiritualitäten vereinheitlichend zu bestimmen. Es ist aber – zusammen mit dem Bischofskollegium – seine Aufgabe, den rechtlichen und strukturellen Rahmen für die Gesamtkirche so abzustecken, dass christliches Leben in der nötigen Einheit, aber auch den legitimen Verschiedenheiten (LG 13) möglich ist.

Der diesbezügliche Handlungsbedarf, der von vielen – nicht nur in Europa – diagnostiziert wird, führt zu entsprechenden Akzentsetzungen in den Erwartungen an das nächste Pontifikat. Erfüllbar sind diese Erwartungen allerdings nur aus einer tiefen Spiritualität heraus – einer Spiritualität, die Vertrauen auf das Wirken des Heiligen Geistes in Kirche und Welt setzt und sich achtsam darauf einlässt. Voraussetzung für den Petrusdienst als Dienst am Leben der Kirche ist die Gelassenheit, die weiss, dass nicht der Bischof von Rom Quelle christlichen Lebens ist, weil die Orte, an denen der Geist wirkt und Einsicht schenkt, zahlreich und geradezu unzählbar sind. Was Papst Johannes Paul II. den Bischöfen zu bedenken gab, ist Basis auch für den Petrusdienst: «Tatsächlich sind die Orte zahlreich, von denen aus der Geist seine innere Belehrung erteilt: zunächst das Herz jedes einzelnen und dann das Leben der verschiedenen Teilkirchen, in denen die vielfältigen Bedürfnisse der Menschen und der verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften sichtbar werden und sich in bekannten, aber auch in anderen, neuen Sprachen bemerkbar machen» (Nachsynodales Schreiben «Pastores Gregis» 2003, Nr. 28).

Spiritualität geduldiger Pilgerschaft

Vertrauen in das Geistwirken braucht es insbesondere für den Auftrag, den christlichen Glauben in immer neue Kontexte hineinzubuchstabieren. Sowohl auf regionaler Ebene als auch auf gesamtkirchlicher Ebene steht die Kirche dabei vor Herausforderungen, angesichts derer die traditionellen Antworten versagen. Selbst wer diese Einschätzung nicht teilt, müsste nachdenklich werden, dass offenkundig viele Mit-Katholiken und Mit-Katholikinnen Reflexionsund Veränderungsbedarf sehen. Ein wahrhaft katholischer Konsens kann aber nicht dadurch hergestellt werden, dass jenen, die Fragen aufwerfen, die Katholizität abgesprochen wird. Auch wird die Identität des Katholischen nicht gewahrt, indem bedrängende Fragen ausgeblendet werden. «Eine Lösung kann man verurteilen, ein Problem kann man nicht verurteilen » (Yves Congar).

Vom künftigen Papst wird dabei nicht erwartet, dass er auf alle Probleme eine Antwort bereithält. Er sollte aber um die grosse Weite katholischer Tradition wissen und offen dafür sein, Engführungen wieder aufzubrechen. Er sollte die genannte Achtsamkeit für die vielen geistlichen Einsichten und die verschiedenartigen Sprachen mitbringen und anleiten. Die Theologie braucht Ermutigung, ihren Auftrag innovativen Weiterdenkens beherzt zu erfüllen, – und Rückhalt, wenn sie dies tut. Es wäre zu wünschen, dass der künftige Papst alle Glieder der Kirche zu offener Aussprache und kritischer Reflexion einlädt und Meinungsverschiedenheiten zulässt. Dabei bräuchte es auch Korrektive, wenn manche sich der geschichtlichen Pilgerschaft verweigern und die faktische Gestalt der Kirche und der kirchlichen Lehre kurzschlüssig in jeder Hinsicht als unantastbar festschreiben wollen. Da sich ein wirkliches Aggiornamento nicht auf vier Konzilsjahre beschränken lässt, sollte deutlicher sein, dass nicht nur Vorschläge zur Erneuerung der Kirche sich je neu prüfen und ggf. kritisieren lassen müssen, sondern auch jene Optionen, die für die unveränderte Weiterführung des Status quo eintreten. Die Zukunft, in welche die Kirche hineingeht, liegt dann nicht allein in der Verantwortung des Papstes, sondern ist die nächste Wegetappe einer gemeinsamen Pilgerschaft.

 

Eva-Maria Faber

Eva-Maria Faber

Prof. Dr. Eva-Maria Faber ist Ordentliche Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Theologischen Hochschule Chur