Die Aufklärung am Pranger

Reden von Benedikt XVI. – und ein Buch zur Macht der Päpste

Der Papst, der in wenigen Tagen zurücktritt, hat oft in der Öffentlichkeit gesprochen – als Gelehrter, als Mitglied der vatikanischen Hierarchie, das sich mit der Aufklärung nicht abfinden mag, auch als Tagespolitiker. Nun liegt eine Auswahl seiner Reden vor.

Siegfried Wiedenhofer, langjähriger Assistent Josef Ratzingers und Professor in Frankfurt a. M., hat diese Reden (1970–2011) Ratzingers beziehungsweise Benedikts XVI. herausgegeben, thematisch (nicht chronologisch) geordnet. Der Untertitel «Die grossen Reden des Papstes» ist zu vollmundig. Wichtige Texte fehlen.

Zu weit aus dem Fenster gelehnt?

Die Abwesenheit des seinerzeit berühmten Grazer Vortrags «Prognosen für die Zukunft des Ökumenismus » fällt auf, in dem Ratzinger sich 1976 weit aus dem Fenster lehnte. Er kritisierte darin einen konfessionellen Chauvinismus, der sich nicht an der Wahrheit, sondern an der Gewohnheit orientiert. Mit Blick auf die Ostkirchen sagte er, wer auf dem Boden der katholischen Theologie stehe, könne unmöglich die Gestalt des Papsttums in der Form des 19. und 20. Jahrhunderts als die einzig mögliche betrachten. Christlich könne heute nicht un- möglich sein, was ein Jahrtausend lang statthaft gewesen sei. – Noch 1982 liess Ratzinger diesen Vortrag in einem Sammelband abdrucken, freilich mit vorsichtiger Distanzierung. Steht er heute nicht mehr dazu? Im allgemeinen ist das Denken des Papstes aber homogen. Der thematische Aufbau ist vertretbar. Positiv beeindruckt die Belesenheit. Die Sprache ist schön. Man könnte sich gut vorstellen, dass Ratzinger wie vor ihm Barth und Ebeling mit dem Sigmund-Freud- Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet würde. Ansprechend ist das Referat, das er 1997 auf einer Sitzung der Académie des sciences morales et politiques in Paris hielt: «Der Dialog der Religionen und das jüdisch-christliche Verhältnis». Unverkrampft zitiert er Hans Küng: «Kein Weltfriede ohne Religionsfriede!» Er beschwört Nikolaus von Kues: Die Namen Gottes stammen von uns Menschen. Gott selbst ist in sich unaussprechlich. Ratzinger gibt offen zu, dass auch bei Christen die Religion erkranken und zum Aberglauben werden kann. Die konkrete Religion müsse von der Wahrheit her immer neu gereinigt werden. Man müsse Ehrfurcht vor dem Glauben des anderen haben – sowie die Bereitschaft, im Fremden die Wahrheit zu suchen. Dennoch sei Mission unverzichtbar. Der interreligiöse Dialog sei mehr als ziellose Unterhaltung. – Ein Text, der zum Nachdenken anregt!

Hauptfeind Relativismus

Anderes ist problematisch. Viele Reden Ratzingers sind von Pessimismus geprägt. Das Drogenproblem und der Terrorismus sind für ihn die grössten Probleme unserer Zeit, und er führt sie auf Unglauben und Hoffnungslosigkeit zurück. Er entrüstet sich darüber, dass man angesichts der Aidsproblematik ausgelacht werde, wenn man sexuelle Treue verlange. Solche Behauptungen sind einseitig, auch wenn ein gewisser Wahrheitsgehalt nicht bestritten werden kann. Immer neu prangert er die Aufklärung und den Relativismus an. Dieser ist sein Hauptfeind. Ratzingers Denkform ist platonisch und nicht aristotelisch. In einer Demokratie genüge der Wille der Mehrheit nicht. Man müsse sich am Absoluten orientieren. Interesse – und Stirnrunzeln – weckt der Vortrag «Der Mensch zwischen Reproduktion und Schöpfung» von 1988. Idealisierend sprach der damalige Chef der Glaubenskongregation davon, die Weitergabe des menschlichen Lebens sei untrennbar an den Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau gebunden. In-vitro-Fertilisation sei dagegen ruchlos. Ein vom Schreibenden zu diesem Vortrag befragter wissenschaftlich versierter Arzt hielt diese Gegenüberstellung für undifferenziert. Es komme auf die Umstände an. Es sei ein Unterschied, ob menschliche Ei- und Samenzellen im Reagenzglas zusammengeführt würden, um einem kinderlosen Ehepaar zu helfen oder um irgendwelche Experimente zu machen. Der Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau finde schliesslich auch nicht immer unter idealen Umständen statt (man denke an die Vergewaltigung einer Frau). Die Überlegungen Ratzingers seien zu abstrakt und deshalb weltfremd. Als Grundlage für die Gesetzgebung seien sie ungeeignet.

Vatikanische Tagespolitik

Es ist nicht das gleiche, ob man im freien Diskurs gewagte – vielleicht sogar einseitige – Thesen vertritt (was dem Papst unbenommen sei), oder ob man auf der Grundlage solcher Thesen Tagespolitik betreibt. Im Zusammenhang mit Bioethik und Fragen der Weitergabe des menschlichen Lebens tut dies der Vatikan! Weil Präsident George Bush gegen die In-vitro-Fertilisation war, wurde er bis zuletzt vom Grossteil des amerikanischen Episkopats der römisch-katholischen Kirche unterstützt. Raymond Burke, ein von Benedikt XVI. berufener amerikanischer Kardinal, bezeichnete seinen Bostoner Kollegen, Erzbischof Sean O’Malley, öffentlich als «vom Satan beeinflusst », als dieser Senator Edward Kennedy kirchlich bestattete (hatte doch Kennedy unter bestimmten Bedingungen Abtreibungen gelten lassen). Ähnlich heftig tadelte Burke diejenigen amerikanischen Bischöfe, die sich gegenüber Barak Obamas Wahl neutral verhielten und nicht einseitig die Republikaner unterstützten. Die Beispiele finden sich in Rudolf Lills «Die Macht der Päpste ». Das Buch dieses Profanhistorikers zeichnet sich durch Detailkenntnisse aus und überzeugt umso mehr, als er auch Positives an den von ihm beschriebenen Päpsten sieht. So verteidigt er Pius XII. ein Stück weit gegen den Vorwurf, er habe in der Judenfrage versagt. Aber er bemerkt: «Pius XII. hat sich sehr überschätzt! » Minutiös zeigt er, dass vieles, was der heutige Vatikan als zum «ewigen» Wesen der katholischen Kirche gehörig betrachtet, jung ist – weniger als zweihundert Jahre!

Benedikt XVI.: Die Ökologie des Menschen. Die grossen Reden des Papstes. Pattloch-Verlag GmbH & Co. KG, München 2012. 430 Seiten, Fr. 29.90.

Rudolf Lill: Die Macht der Päpste. Butzon & Bercker GmbH, Kevelaer 2011. 288 Seiten, Fr. 30.50.

Frank Jehle

Frank Jehle

Dr. theol. Frank Jehle lebt als Universitätspfarrer und Dozent für evangelische Theologie im Ruhestand in St. Gallen.