«Und die Feier strahlt hinaus in den Alltag»

Die Liturgie ist für viele Menschen fremd geworden. Stephan Schmid-Keiser holt in der zeitgenössischen Literatur Inspirationen für eine sensible Liturgiesprache. Mit ihm sprach die SKZ über sein neues Buch «Und wenn sie doch mehr von Gott erzählten...».1

SKZ: Was waren Ihre Motivation und Ihr Ziel dieser neuen Publikation?
Stephan Schmid-Keiser: Immer schon haben mich die Sprache und das Sprechen im Gottesdienst beschäftigt. Nach den Berufsjahren als Seelsorger wollte ich dazu weiterforschen. Weil in den Feiern des Glaubens die Sprache besonderer Sorgfalt bedarf, zielte ich darauf, Brücken zu schlagen zwischen der für viele fremd gewordenen Liturgie, ihrer spezifischen Theo-Poesie und der Lebenswelt unseres literarischen Sprachraumes. Nicht von ungefähr verband sich mein Vorhaben mit einer Spurensuche zur Musik im Gottesdienst heute. Gegen Ende der Publikation findet sich die Überschrift «Kein Abgesang». Auf Martin Walsers Gottvermissen hin rufe ich dazu auf: Fragt nach, was fehlt, wenn Gott fehlt!

Was beobachten Sie in der gottesdienstlichen Verkündigungssprache?
Oft vermisse ich die sprachliche Sorgfalt nicht nur beim Verkünden der Botschaft im Gottesdienst. Wortreiche Auslassungen ab Beginn einer Feier verunmöglichen das persönliche Mitgehen. Weitere Erwartungen kommen dazu, nach besserer Verständlichkeit oder der Bedarf, die Worte im Schweigen nachklingen zu lassen. Gründe genug, der «sprachlichen Durcharbeitung des Gefeierten» (Birgit Jeggle-Merz) mehr Augenmerk zu schenken.

In Ihrem Buch schreiben Sie ein Kapitel zu den Werken Martin Walsers und Peter Handkes. Welche Impulse entnehmen Sie dem Werk Peter Handkes für die liturgische Sprache? Wo liegen die Grenzen?
Peter Handke ist ein Sprachkünstler, umstritten wegen seiner politischen Äusserungen oder seiner schillernden Passion für Liturgisches. Er gilt als liturgischer Grenzgänger zwischen der West- und der Ostkirche. Sein Sinn für die aktuell menschliche Religiosität rührt dabei an die für liturgisches Feiern eminente Frage, die Handke selbst stellt: «Die Frage Gottes in mir: ‹Warum bist du nicht da?›».2 Als sensibler Beobachter hat er eine wirkungsvolle, mit-fühlende Sprachwelt entwickelt, die sich dem verborgenen Klang der Welt öffnet. Unter diesem Motto lerne ich von Handke für meine Spracharbeit, weniger die grosse Geste zu verfolgen, die zu verengten Gottesbildern verleitet oder Missverständnisse wie eine einseitig männliche Sprache transportiert. Dafür gilt es, mehr eine einfache, die Kontemplation fördernde Sprache zu sprechen. Vor allem Handkes literarische Miniaturen sind anregend, wie etwa diese: «Alles wird sterben, was wir Menschen uns je so ausgedacht haben – aus Not, aus Zorn, aus Wunsch, aber der Gottesgedanke, das einzige nicht Ausgedachte und Auszudenkende, ist unsterblich, wird nicht sterben.»3

Inwieweit ist die Lyrik der Königsweg zu einer sensiblen Liturgiesprache?
Lyrik kann das Sensorium für eine angemessene Gebetssprache schärfen, wie schon in Psalmen und Hymnen lyrische Stimmen des Glaubens anklingen. Ausgewählte Lyrik unserer Zeit kann diese ergänzen. Sie als Königsweg zu bezeichnen, lasse ich hier offen. Es geht mir um poetische Daseins-Fühlung in den Brüchen der Kirche und der Welt. Diese zeichnet auch die Texte von Andreas Knapp aus. Hier ein Beispiel: eucharistie // viel zu zerbrechlich / für diese harte welt / du wolltest / dein letztes stück brot teilen / und auf freundschaft anstossen // doch die tischgenossen verkrümeln sich / und dein becher zersplittert / als unauslöschliche erinnerung bleiben / rotweinflecken4

Sprachwissenschaftlern zufolge verfüge die junge Generation über einen geringeren und weniger differenzierten Wortschatz als ihre Grosseltern. Die Poesie arbeitet mit Metaphern und Wörtern, die wir in der Alltagssprache wenig oder gar nicht verwenden. Inwieweit kann Lyrik in der Verkündigung junge Menschen erreichen?
Mit etwas Mut kann es gelingen, die Sprachwelt und die Fähigkeiten junger Menschen mit in die Verkündigung aufzunehmen – als Rap oder mit wenigen Worten, die einen Bibeltext kontrastieren. Geht es um Lyrik, sollten junge Talente dazu eingeladen und gefördert werden. Wenn ihnen dabei gelingt, ihr Glaubensleben – ob als Klage oder Zweifel, Bitte, Lob oder Dank – auszudrücken, sind erste Schritte getan. Junge Menschen wären auch aufzufordern, in eigenen Worten Gott anzusprechen, ohne Worte wie «lieber Gott» oder «guter Gott» formelhaft zu repetieren. Warum nicht neue Gebetsworte wagen wie «Gott, für uns so unfassbar» oder «Gott, du lässt Freundschaft wachsen unter uns»?

Sie legen den Fokus auf die Lektüre und die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Lyrik. Welche Rolle nimmt für Sie die Lektüre guter theologischer Fachliteratur für eine gehaltvolle, nährende Predigt(sprache) ein?
Die Vorbereitung einer Predigt setzt voraus, mit dem Tagesgeheimnis auf Tuchfühlung zu gehen. Dies in umfassendem Sinn. Wenn ich die biblischen Perikopen des einzelnen Tages oder Festes auf mich wirken lasse, bleiben die Alltagswelt und die Ereignisse im nahen und weltweiten Umfeld nicht aussen vor. Die Wirkung der Texte vermischt sich mit dem «Heute Gottes» (Roger Schutz) und dem kritischen Blick auf meine (beschränkte) Sicht der Dinge, welchen ich durch theologische Fachliteratur gewinne. Lyrische Texte werden bei diesem Vorgang nicht einfach zur Garnitur. Vielmehr können sie unseren Horizont zum göttlichen Geheimnis weiten, in den hinein wir als «erste Freigelassene der Schöpfung» (Jürgen Moltmann) entlassen sind. Eine nährende Sprache fokussiert auf diesen Horizont, und die Feier strahlt hinaus in den Alltag.

Sie sprachen das Schweigen an. Welche Bedeutung geben Sie der Stille und dem Schweigen im Gottesdienst?
Wir brauchen als Menschen den Atem des Innehaltens. Anregend dazu bleibt die Praxis von Silja Walter. Sie bietet sich in Gemeinden an, denen in der Hektik des Alltags der Umgang mit erfülltem Schweigen verloren gegangen ist. Zum Auftakt eines betont meditativen Vollzugs der Eucharistie fand sie die Worte: Nicht denken, / HERR – //Da spielt wer. // Nicht denken. / Da sein. // GOTT. // GOTT ist. // GOTT ist da. // Durch die Messe / kommt GOTT. // Durch die Messe / nimmt GOTT / alles in sich. // Welt, / Schöpfung, / Menschen, / mich, / die Meinen. / Alle. // In sein eigenes Leben: / meinen Tag, / meine Sorgen, / mein Leid, / mein Glück, / mein Werk, / meine Pläne, / die Meinen, / und alle – // in sein eigenes Leben hinein. // Wie? // Durch JESUS CHRISTUS. // Amen.5 Texte dieser Art lassen den Atem des Innehaltens entfalten. Begleitend dazu erklingt eine Klangschale oder meditatives Orgelspiel.

In «Phrase unser» schreiben Jan Feddersen und Philipp Gessler: «Es fehlt den beiden Volkskirchen, vielleicht der protestantischen noch etwas mehr als der katholischen, in den letzten Jahren an Vertrauen in die Schönheit der Kraft ihrer Bilder und Rituale – und diese Leere wird gefüllt durch Worte, die diese Leere aber nicht füllen können.»6 Wie stehen Sie zu dieser Aussage?
Die blutleere Sprache in den Kirchen zu kritisieren, wurde nötig. Worte bräuchten mehr Raum für deren Nachklang. Es gibt dazu tastende Versuche. Mehr Mut zu einer bewussten Ritualkultur mit sich wiederholenden und wenig eingestreuten, improvisierten Momenten, wäre mein Wunsch. Bei der Spracharbeit mehr auf Verknappung der Worte setzen, klares Sprechen und gepflegtes Singen praktizieren, sind das Gebot der Stunde. Wenn Christian Lehnert bemerkt, das öffentliche Gebet suche «vorsichtig, im Raum einer Gemeinde einen Weg ins Offene – wie das Gedicht», lässt dies den Schluss zu: Es muss möglich bleiben, öffentlich zu beten und dabei eine Sprache zu finden, welche Echoräume gelebter Wirklichkeit bildet – auch für das Ausdrücken von Skepsis, Unsicherheit auf der nie abgeschlossenen Glaubenssuche. Es geht um ein authentisches Feiern des Glaubens und eine weniger wortreiche «Bespielung» seiner Räume.

Erich Garhammer fragt in seinem Buch «Meridiane aus Wörtern»: «Wie müsste eine Sprache aussehen, in der Achtsamkeit für das Unscheinbare, Wertschätzung für Alltägliches und die Biografien der Menschen, die Meridiane des Schmerzes und des Trostes und damit ihr Leben aufgehoben wären?»7 Diese Frage stelle ich zum Schluss auch Ihnen.
Wir kommen nicht darum herum, im Gottesdienst solcher Sprache Raum zu geben, achtsam und wertschätzend für die vor Ort Versammelten. Ich folge gerne den Kriterien, welche Gunda Brüske vor Jahren einer für möglichst viele gemeinsamen liturgischen Sprache auf den Weg gegeben hat. Sie müsste «auf alle extremen Formulierungen und starke Emotionen verzichten, denn es wird wohl immer jemand anwesend sein, den gerade ganz anderes bewegt. Liturgische Sprache muss deshalb natürlich und schlicht sein, aber weder exaltiert noch unterkühlt, und schon gleich gar nicht langweilig» und sie müsste «vom Inhalt der Feier ausgehen». Bleiben wir darum auf Tuchfühlung sowohl mit dem Tagesgeheimnis wie auch mit den Menschen auf ihrem Weg!

Interview: Maria Hässig

 

1 Schmid-Keiser, Stephan, «Und wenn sie doch mehr von Gott erzählten ...», Regensburg 2021.

2 Handke, Peter, Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987–Juli 1990, Frankfurt a. M. 2007, 4000.

3 ders., Am Felsenfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987), Frankfurt a. M. 2000, 350.

4 Knapp, Andreas, Höher als der Himmel, 82017, 53.

5 Walter, Silja, Gesamtausgabe Bd. 10. Spiritualität II, red. Ulrike Wolitz, Freiburg i. Ü. 2005, 199.

6 Gessler, Philipp / Feddersen, Jan, Phrase unser. Die blutleere Sprache der Kirche, München 2020, 132.

7 Garhammer, Erich, Meridiane aus Wörtern. Theo-poetisches ABC, Würzburg 2021, 163.


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)