Über Vergänglichkeit sprechen

Gespräche mit Erwachsenen über die Vergänglichkeit des Menschen können vom Erfahrungsschatz alltäglicher und literarischer Beobachtungen zehren.1

Erst noch war einer beim Coiffeur. Er dachte nach über den Verfall seiner Haarpracht und notierte: «Wird an meinem Todestag dann auch frisiert? / Was auch immer – / merkwürdig – / heute beim Coiffeur / kein Schimmer von Angst / beim Haare lassen / Bin schliesslich in guten Händen.» Die Situation erinnert an Mani Matters Chanson «Bim Coiffeur», wo sich in Spiegeln die Unendlichkeit öffnet und man ob dem Erschrecken über die eigene Vergänglichkeit in die Leere zu stürzen droht.

Welche Musik im Sterbezimmer?

Lange Zeit verdränge ich die Frage. Zu sterben an einem Tag, da mir fast heiter zumute sein wird, und das Plätschern eines ruhig fliessenden Baches meine Nächsten und mich umfangen, so romantisch wird die Stunde nicht sein. Wohl vielmehr schockierend und ohne ein Jauchzen auf Abgangs-Stationen im weissen Gehäuse. Im Spitalzimmer dann vielleicht doch Schuberts Forellenquintett ein letztes Mal hören? Werden die Nächsten nicht aufgebracht dem Tun im Sterbezimmer entflüchten? Oder doch dem letzten Wunsch entsprechen und mit ihrem Instrument beruhigende Klänge erklingen lassen?

Schlussexamen

«Der Tod = Ich minus die Liebe. / Ich = Tod plus Liebe. / Die Liebe = Ich minus Tod. / Richtig so, Maria Petrowna? / Kann ich’s wegputzen?» Wera Pawlowa notiert ihre kurzen Zeilen als «Schlussexamen».2 Als wären wir in der Schule. An der Wandtafel die gestrenge Lehrerin. Will wissen: Was ist der Tod? Wer bin ich? Was ist die Liebe?

Vielleicht ist es ganz grundlegend, so ins Schlussexamen zu kommen: Der Tod bedeutet (hier) mich als Person, und davon wird abgezogen Liebe, die ich selber gebe oder bekomme. Ich bin also gleichgestellt mit dem Tod plus der hinzugezählten Liebe – alles also, was an Zuwendung und Geborgenheit und Nähe in und an mir ist, aber auch alles, was mich zu noch mehr Liebe herausforderte, so dass es extrem schmerzte. Alles an mir ist Tod plus hinzugezählte Liebe. Ein Leben, das verwundbar war und mit allem, was ich anderen, mir selber, der Gesellschaft, auch durch Mangel an Solidarität über Landesgrenzen, gegenüber Mitwelt und Fremden zu Schulde kommen liess. Und schliesslich die Liebe. Sie ist gleichzusetzen mit mir minus dem Tod. Deutlicher geht es kaum: Was bleibt, wenn von mir der Tod genommen ist? Werde Ich mit meiner Person schutzlos da sein? Ohne mein ganzes Verfallen-Sein zum Tode hin? Ich, Du, sie, ihr seid nurmehr Liebe! Die Dichterin hält dies nüchtern aus: Richtig so, Du dort, Sie dort? Kann ich’s wegputzen? Ist doch allen klar – jetzt endlich. Wir leben mit dem Tod, uns selbst und der Liebe …

Kein Wort davon, wie denn der Tod eintraf, wie dieses Ich lebt? Wer hier liebt? Der Glaube sagt, es ist die grösste Liebeskraft, aufgehoben in der Liebe des Unverfügbaren, jenes Wesens, das wir stammelnd Gott nennen und das aus dem brennenden Busch mit Dornen zu Moses sprach: «Ich bin der ich-bin-da.» Jetzt besonders für dich und mit dir da, so wie ich bin: Leben, Herausforderung, Glaube, Hoffnung, Liebe. Dann aber auch Zweifel darüber, ob denn vor allem sinnlosen Sterben die rettende Kraft Gottes nie auch nur einer der Namen von Frauen und Männern in seinem Volk ausgelöscht, von der Wandtafel des Lebens wegputzt: «Ich gebe ihnen einen Namen, der mehr wert ist als Söhne und Töchter: Einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der niemals ausgetilgt wird» (Jes 56,5). Glaubensrede ist Hoffnungsrede.

(K)ein Abschied von der Seele

Zwar sprachen namhafte Psychologen nicht mehr von der Seele, wogegen unter anderem Daniel Hell sich länger schon wehrte: «Die Seele ist tot, es lebe das Seelische!»3 Das technisch-wissenschaftliche Menschenbild stösst an Grenzen, und die Innensicht der Menschen ist nicht zu vernachlässigen. Wie sonst könnten beseelende und bereichernde Begegnungen in den Tagen vor dem Hinschied eines Mitmenschen ausgeblendet werden?

Der Katechismus formuliert: «Wer in der Gnade und Freundschaft Gottes stirbt, aber noch nicht vollkommen geläutert ist, ist zwar seines ewigen Heiles sicher, macht aber nach dem Tod eine Läuterung durch, um die Heiligkeit zu erlangen, die notwendig ist, in die Freude des Himmels eingehen zu können.» (KKK 1030) Bestätigt sich damit das Festhalten an Vorstellungen von Fegefeuer, Hölle und Verdammnis? Diese Vorstellungen sind aufgehoben im unergründlichen Moment des Nicht-Vollkommenen, wo Menschen der Läuterung harren. Sie behält ihren Sinn, wo augenfällig die Existenz der von Menschen und ihren Zwängen verursachten Todesmaschinerien die Überhand gewinnen. Eine Gegenkraft dazu bilden alle Abschiede vor dem letzten, die es den Menschen zu Lebzeiten auch möglich machen, widerständig gegenüber den zerstörerisch-höllischen Zuständen dieser Welt für das Leben einzustehen.

 

1 Der Beitrag greift Impulse aus einer Bildungsstunde mit dem Aktiven Alter in Buchrain-Perlen vom 20. 3. 2003 auf.

2 Aus dem Russischen von Felix Philipp Ingold, in: NZZ 30. 7. 2001, 23.

3 http://www.infosekta.ch/media/pdf/R_ReligionSeele_ist_tot_Hell_ 020804.pdf vgl. auch NZZ 30.12.2002, 8 und zur aktuellen Diskussion Hans Goller: Das Rätsel Seele. Was sagt uns die Wissenschaft? Kevelaer 2017.


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)