Tischlein deck dich – (k)ein Märchen

In der Schweiz sind über 600 000 Personen von Armut betroffen. Gleichzeitig werden jährlich zwei Millionen Tonnen einwandfreie Lebensmittel vernichtet.

Vier der vielen Freiwilligen bei «Tischlein deck dich»: Evelyne Röthlisberger, Claudia Lehmann, Liliane Hintermann und Esther Scholl (v.l.) (Bild: rs)

 

Der Verein «Tischlein deck dich»* verteilte im Gründungsjahr 1999 18 Tonnen Lebensmittel an armutsbetroffene Menschen in der ganzen Schweiz, 2017 waren es 3440 Tonnen. Diese beiden Zahlen zeigen bereits, wie notwendig das Angebot ist. Bei den Lebensmitteln handelt es sich um einwandfreie Waren, die von über 800 Produktspendern (aus Landwirtschaft, Grosshandel und Industrie) zur Verfügung gestellt und sonst vernichtet werden würden. So wird nicht nur Menschen in Not geholfen, sondern auch konkret etwas gegen die Lebensmittelverschwendung getan. Möglich wird dies durch den engagierten Einsatz vieler Freiwilliger wie z. B. Esther Scholl und Evelyne Röthlisberger.

Von der Begeisterung zur Umsetzung

Scholl und Röthlisberger sind die Initiantinnen der 125. Abgabestelle von «Tischlein deck dich», die am 11. Januar in Solothurn-West eröffnet wurde. Den Anstoss dazu gab der Ehemann von Evelyne Röthlisberger. Er war in seiner Funktion als Leiter eines Sozialdienstes in einer anderen Gemeinde beim Aufbau einer solchen Ausgabestelle beteiligt. Er war davon so begeistert, dass sich seine Frau und auch Esther Scholl davon anstecken liessen. Ein ganzes Jahr dauerten die Abklärungen. Zunächst mit der Organisation von «Tischlein deck dich». Dann mussten Fragen geklärt werden wie: Wer stellt uns einen Raum zur Verfügung? Wie finden wir genügend freiwillige Mitarbeiter? Wer nimmt die übrig gebliebenen Lebensmittel? Einen geeigneten Raum fanden sie im reformierten Kirchgemeindehaus, und bereits seit Beginn machen 28 Freiwillige mit. Gefunden wurden diese nicht über Inserate oder Aufrufe, sondern durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Viele engagieren sich in einer Kirche und haben so untereinander Kontakt, oder sie kennen sich von der Arbeit.

Mit wenig Einsatz viel erreichen

Erkennbar sind die Freiwilligen an ihren roten T-Shirts und den angehängten Namensschildern. Sie stehen immer donnerstags für die Abgabe der Nahrungsmittel bereit. «Wir arbeiten mit vier Grundteams, die jeweils einmal im Monat zum Einsatz kommen. Daneben gibt es weitere Freiwillige, die nach Bedarf eingesetzt werden können», erklärt Röthlisberger. Alle Mitarbeitende schätzen an ihrem Einsatz besonders, dass sie mit geringem Aufwand viel bewirken können.

Die Öffnungszeiten der Abgabestelle sind von 15 bis 16 Uhr, doch die Freiwilligen sind bereits schon kurz vor 14 Uhr bei der Arbeit. Zunächst stellen sie die Tische für die Waren an die Wände des Raumes. Danach tragen sie Stühle in den Vorraum. Dort können die Kunden später warten, bis sie aufgerufen werden.

Mit einem kleinen Lastwagen bringt Manuel Friedli die Lebensmittel zur Abgabestelle. Er leistet hier seinen Zivildienst und hat sich für diese Aufgabe freiwillig gemeldet. «Das Thema Lebensmittelverschwendung ist mir persönlich sehr wichtig», führt er aus. «Ich habe darüber bereits in der Schule eine Arbeit geschrieben.» Er hilft den Freiwilligen die Kisten hineinzutragen und nimmt gleich den Verpackungsabfall wieder mit.

Auspacken, zählen, rechnen

Die Waren werden ausgepackt und auf die Tische verteilt. Wichtig ist, dass gekühlte Lebensmittel sofort in die Kühlboxen gelegt werden. Die Vorschriften sind hier sehr streng.1 Jetzt beginnt eine eher mühsame Arbeit. Die einzelnen Lebensmittel werden gezählt und die genaue Anzahl jeweils auf einem Post-it notiert. Anhand eines Verteilschlüssels wird ausgerechnet, wer wie- viele Stücke eines Lebensmittels aufgrund seiner Haushaltsgrösse erhält. Dieser Verteilschlüssel wird anhand der letzten Warenausgaben berechnet und stimmt ziemlich gut. Das Zählen und Rechnen nimmt Zeit in Anspruch, gewährt aber, dass alle gleich viel erhalten – egal ob sie bereits um 15 Uhr kommen oder erst um 15.45 Uhr. Dieser Ablauf wurde von «Tischlein deck dich» festgelegt und hat sich bewährt. «Man merkt, dass diese Abläufe aus der Praxis heraus entstanden sind», hält Röthlisberger fest.

Damit jemand bei «Tischlein deck dich» Waren beziehen darf, braucht er eine Bezugskarte. Diese werden bei der regionalen Koordination Sozialfachstelle beantragt und schliessen jeweils alle Familienangehörigen mit ein. Am allerersten Abgabetag waren es 16 Bezugskarten, mit denen Kunden für sich und ihre insgesamt 52 Angehörigen Waren bezogen. «Im Mai hatten wir einen Rekord von 30 Bezugskarten», erzählt Scholl.


Zwischen Freude und Scham

Die Kunden bezahlen einen symbolischen Beitrag von einem Franken und ziehen eine Wäscheklammer mit einer Nummer aus dem Sack. Die Nummer bestimmt die Reihenfolge, in der sie die Waren abholen dürfen.
Es ist genau 15 Uhr. Scholl nimmt die erste Abgabekarte und ruft laut: «Nummer eins!» Sofort meldet sich eine Frau. Scholl begrüsst sie freundlich und geht mit ihr in den Raum mit den Waren. Dort gehen sie von Tisch zu Tisch und schauen, was angeboten wird. Bei Bedarf erklärt sie der Kundin, was dieses Lebensmittel genau ist und wie man es essen oder zubereiten kann. «Un- sere Kunden freuen sich immer, wenn es neben den Lebensmitteln auch Hygieneartikel hat», erzählt Scholl. «Diese sind ja sehr teuer.» An diesem Tag hat es neben Duschmittel sogar einige Spiele für Kinder.

Manchen Kunden sieht man die Freude an, wenn es ein Produkt gibt, das sie besonders mögen. Vor allem die Kinder freuen sich über die Süssigkeiten. Doch es gibt auch Kunden, die das Ganze nur so schnell als möglich hinter sich bringen möchten. Sie schämen sich für ihre Armut. «Aus diesem Grund nennen wir hier auch keine Namen», erklärt Röthlisberger. «Wir sehen natürlich die Namen auf der Bezugskarte, doch wir sind in diesem Punkt konsequent.» Gerade die Schweizer hätten oft Mühe damit, dass sie auf das Angebot von «Tischlein deck dich» angewiesen seien. «Ich versuche ihr Selbstvertrauen zu stärken, indem ich mich bei ihnen bedanke, dass sie Lebensmittel nehmen, die sonst weggeworfen würden.»

Es ist 16 Uhr, die letzten Kunden sind gegangen. Die Freiwilligen packen die übrig gebliebenen Lebensmittel ein. Eine Mitarbeiterin des Asylzentrums holt sie später ab. So werden wirklich alle Lebensmittel verwendet und nichts wird weggeworfen.

Rosmarie Schärer

 

* Der Verein «Tischlein deck dich» rettet Lebensmittel vor der Vernichtung und verteilt diese jede Woche an aktuell 126 Abgabestellen an 18 400 Menschen in Not. Neben 24 Festangestellten engagieren sich rund 2900 Freiwillige im Verein, der sich ausschliesslich über Spenden finanziert. Weitere Informationen unter www.tischlein.ch.

1 «Tischlein deck dich» untersteht dem Lebensmittelgesetz. Die Vorschriften gelten an allen Abgabestellen sowie Logistikplattformen.