Theologie – Psychologie – Brückenschläge

Bignasco, Maggiatal (zVg)

Ob sich die Konzilsväter der Tragweite ihrer Aussage bewusst waren, als sie im Dezember 1965 folgenden Satz aus der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes verabschiedeten: "In der Seelsorge sollen nicht nur die theologischen Prinzipien, sondern auch die Ergebnisse der profanen Wissenschaften, vor allem der Psychologie und Soziologie, genügend anerkannt und angewendet werden, so dass auch die Gläubigen zu einem reineren und reiferen Glaubensleben geführt werden" (GS 62,2)?

Fest steht, dass diese Aussage des 2. Vatikanischen Konzils seither sowohl von Gläubigen als auch von Seelsorgenden sehr unterschiedlich interpretiert und umgesetzt worden ist. Nicht überall kam es zu einem echten Dialog zwischen Seelsorge und Humanwissenschaften. Dennoch sollte nicht übersehen werden, dass dort, wo sich Theologie und Psychologie tatsächlich auf ein "Gespräch auf Augenhöhe" eingelassen haben, in all diesen Jahren erstaunlich viel Konstruktives im Bereich der Pastoralpsychologie, der Spiritual Care, aber auch der praktischen Theologie, Religionspsychologie und Religonspädagogik entstanden ist. An dieser Stelle sollen exemplarisch einige Streiflichter dieses "work in progress" vorgestellt werden.

Von Anfangseuphorie zu hermeneutisch differenzierterem Dialog

Die ersten nachkonziliären pastoralpsychologischen Entwürfe trugen einerseits wesentlich zu einer moderaten Professionalisierung der Seelsorge bei (z. B. im Bereich der seelsorgerlichen Gesprächsführung), anderseits waren sie oft von einem naiven Glauben an die seelsorgerliche Effizienz psychologischer Methoden geprägt. Es dauerte einige Zeit, bis sich ein Bewusstsein herausbildete, dass es auch eines differenzierten Dialogs bezüglich der mehr oder weniger impliziten Menschenbilder auf Seiten der verschiedenen psychologischen Richtungen und der diesbezüglich viel expliziteren Vorannahmen auf Seiten der Theologie bedurfte.Don S. Browning, der für einige wichtige pastoralpsychologische Stichworte im TRE1 verantwortlich zeichnet, leistete hier wichtige Vorarbeit. Ausgehend von der Dilthey’schen Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ordnet er sowohl Theologie als auch die klinische Psychologie (nicht Neuropsychologie) den deutenden Geisteswissenschaften zu. Während die klinische Psychologie sich schwerpunktmässig mit der Interpretation des Lebens einzelner Menschen in ihrem konkreten Lebenskontext befasst, reflektiert die Theologie ausgehend von der Offenbarung Deutungsangebote, welche das Ganze des Lebens berühren und damit eine umfassendere Sicht der menschlichen Person voraussetzen. m sich konstruktiv begegnen zu können, müssen beide Disziplinen im Sinne der Gadamer’schen Hermeneutik ihre jeweilig spezifischen Deutungsrahmen (frameworks of meaning) offenlegen und bereit sein, sich von der Interpretation der anderen Disziplin ergänzen bzw. herausfordern zu lassen.2 Obwohl es nicht unbedingt ihrem Selbstverständnis entspricht, bewegen sich die verschiedenen klinisch-psychologischen Richtungen in einem Deutungsbereich, welcher unvermeidlich auch moralische und im weitesten Sinn spirituell-religiöse Aspekte umfasst. Die Theologie ihrerseits tut gut daran, sich für humanwissenschaftliche Erkenntnisse zu öffnen, da sie nur so Menschen in ihrer existenziellen Situation erfassen kann. Eine solche Öffnung bedeutet keineswegs, dass sie dabei auf ihre eigene Deutungsperspektive verzichten sollte: "Nicht indem die Theologie auf ihre Wahrheit verzichtet und sich einer verabsolutierten Psychologie unterwirft, befreit und rettet sie den Menschen, sondern dadurch, dass sie sich durch die Erkenntnisse (der Psychologie) bezüglich der Abgründe der menschlichen Seele bereichern lässt, wobei sie aufmerksam bleibt für das Erbarmen, mit welchem Gott selbst sich diese Abgründe in seinem Leiden zu eigen gemacht hat. Nur so kann sie offen bleiben für den äussersten Horizont der Verheissung."3

Neue Offenheit für spirituelle Dimension in Psychologie/Psychotherapie

Ungefähr seit Beginn der 90er-Jahre lässt sich vor allem im englischsprachigen Raum ein boomendes Interesse für den positiven Einfluss von Spiritualität/Religion sowohl auf den körperlichen als auch auf den psychischen Heilungsprozess beobachten. Allein in den USA wurden zwischen 2006 und 2015 über 360 empirische Studien zu diesem Thema durchgeführt. Renommierte Psychotherapeuten beschäftigen sich seit einigen Jahren mit der Frage, inwiefern Religion und Spiritualität im psychotherapeutischen Prozess stärker als Ressource genutzt und miteinbezogen werden sollten.4 Von der Psychotherapie lange Zeit totgesagte Tugenden wie Hoffnung, Vergebungsbereitschaft oder Wertschätzung werden mittlerweile wieder als Formen menschlicher Gesundheit betrachtet.5 Wo es Theologie und Psychologie gelingt, ihrer jeweiligen Perspektive treu bleibend im Sinne einer differenzierten Kooperation gemeinsam zum integralen Wohl der konkreten Person beizutragen, ist dies nur zu begrüssen. Dennoch bedarf es auch weiterhin auf beiden Seiten eines kritischen Zuhörens und einer wohlwollenden Unterscheidung der verschiedenen Bedeutungsebenen. So ist etwa von der Theologie her nachzufragen, welche Bilder und Metaphern diese neue spirituelle Offenheit leiten, wenn in der Psychotherapie vom "Heiligen" bzw. von Transzendenz die Rede ist. Ganz dem amerikanischen Pragmatismus verschrieben, erwecken zudem einzelne Untersuchungen den Eindruck, dass Religion und Spiritualität in erster Linie unter dem Aspekt ihrer Nutzbarkeit für den therapeutischen Prozess und erst sekundär hinsichtlich ihrer Inhalte betrachtet werden.

Der neue Areopag der individualisierten Religiosität

Wer sich heute in der religionspsychologischen Forschung umschaut, begegnet zunächst einmal einem Dickicht verschiedenster Konzepte, Methoden und praktischer Ansätze, welche für den Theologen nicht einfach zu beurteilen sind. Dennoch, wenn religionspsychologische Forschung heute innerhalb eines breit gefassten Religionsbegriffs Fragen stellt wie: "Warum sind Menschen heute religiös oder spirituell? Wie leben sie ihre Religiosität oder Spiritualität? Was kennzeichnet Menschen, welche sich zwar als spirituell, aber nicht als religiös beschreiben?", dann eröffnet sich für die Theologie unter den veränderten Rahmenbedingungen einer individualisierten Religiosität ein neuer Areopag, dem sie sich nicht verschliessen sollte. Wo menschliche Sehnsucht nach Spiritualität und Religion auf die je andere Sehnsucht Gottes trifft, bleibt letztlich immer ein Intervall zwischen psychisch-biographisch gewachsener Disposition und göttlicher Transzendenz. Gerade deshalb sollten sich Theologie und Humanwissenschaften auch weiterhin multidisziplinär und im Wissen um die je eigene Perspektive darum bemühen, dieses Intervall zu erhellen.6

 

 

1 G. Müller et al (Hr.): Theologische Realenzyklopädie, Berlin, 1977–2004.

2 Don S. Browning, Terry D. Cooper: Religious Thought and the Modern Psychologies, Minneapolis 22004, 6.

3 B. Forte: Teologia in dialogo. Per chi vuol saperne di più e anche per chi non ne vuole sapere, Milano1999, 82–83 (Übers. A. Schmucki).

4 Als Klassiker zu nennen sind K. I. Pargament: Spiritually Integrated Psychotherapy. Understanding and Addressing the Sacred, New York 2007 und J. D. Aten, M. M. Leach: Spirituality and the Therapeutic Process. A Comprehensive Resource from Intake to Termination, Washington 2009.

5 Vgl. K. M. Masters, St. A. Hooker: Religion, Spirituality, and Health; C. L. Park, J. M. Slattery: Religion, Spirituality, and Mental Health, in: R. F. Paloutzian (ed.): Handbook of the Psychology of Religion and Spirituality, New York 2013, 519–559.

6 Vgl. W. W. Meissner: Life and Faith: Psychological Perspectives on Religious Experience, Georgetown 22001.

 

Albert Schmucki OFM

Dr. theol et Lic. psych. Albert Schmucki OFM ist an den beiden päpstlichen Universitäten Antonianum und Gregoriana in Rom Professor für den interdisziplinären Bereich zwischen Spiritualität, Psychologie und Ordensausbildung.