Stricken ohne Wolle…?

Zum Stellenwert des Religionsunterrichts im Lehrplan 21

1. Der Religionsunterricht sorgt für Diskussionen

Seitdem die Religionspädagoginnen und Religionspädagogen der Theologischen Fakultäten Mitte Dezember 2013 ihr Votum «Bildung braucht Religion» veröffentlicht haben,1 ist intensiv über den Stellenwert des Religionsunterrichts im künftigen Lehrplan 21 diskutiert worden. Neben religionspädagogischen Grundfragen war im Rahmen der Vernehmlassung leider auch viel angstbesetzte Polemik und Unsachlichkeit im Spiel, frei nach dem Motto: «Hauptsache, man ist dagegen …» Insgesamt aber ist der Tenor vieler Kommentare, dass der Lehrplan 21 auf einem guten Weg ist, wenn auch da und dort Verbesserungsbedarf angemahnt wurde. Wichtige Argumente Pro und Contra Religionsunterricht wurden u. a. auf der Podiumsdiskussion «Wie viel Christentum verträgt die Schule?» ausgetauscht, zu der die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (AGCK) am 21. Januar 2014 nach Bern eingeladen hatte. Entlang dieser Leitfrage tauschten Regine Aeppli und Bernhard Pulver als Bildungsdirektoren von Zürich und Bern, Bischof Felix Gmür und Pfr. Martin Schmidt als Vertreter der beiden Landeskirchen, Reta Caspar von den Freidenkern und Hanspeter Amstutz als pensionierter Lehrer und Bildungsrat ihre Gedanken zur Bedeutung der Religion im Bildungskanon der Schule aus. Was in Bern in freundschaftlicher Atmosphäre (wenn auch leider ohne die Beteiligung religionspädagogischer Fachpersonen der Fakultäten oder Pädagogischen Hochschulen) an Argumenten ausgetauscht wurde, darf über zwei Aspekte nicht hinwegtäuschen: Erstens ist der Lehrplan 21 kein Lehrplan im eigentlichen Sinne, zweitens wird seine Tragweite bisweilen überbewertet.

2. Der Lehrplan 21 wird überbewertet

Der Lehrplan 21 ist als Harmonisierungsprojekt von 21 Kantonen für das 21. Jahrhundert gedacht. Da er aber nicht in die kantonale Bildungs- und Schulhoheit eingreifen kann, bleibt er ein Bildungsplan, der zwar Rahmenbedingungen und Kompetenzenvorgibt. Er ist jedoch nicht mit einem Lehrmittel zu verwechseln, das sich an konkreten Inhalten orientiert und erklärt, wie der alltägliche Unterricht funktioniert. Wenn etwa Regierungsrätin Aeppli auf dem Berner Podium sagte, sie denke nicht daran, das neu fertiggestellte Zürcher Lehrmittel «Blickpunkt» für das Fach «Religion und Kultur» wieder einzustampfen, nur weil es jetzt den Lehrplan 21 gebe, zeigt das auch, dass der Lehrplan 21 in seiner pragmatischen Wirkung überbewertet wird. Letztlich entscheiden die Kantone, was sie umsetzen und wie die «Schule der Zukunft» jeweils aussehen soll.

3. Religion ist und bleibt Bildungsaspekt

Grundsätzlich ist der Lehrplan 21 aus religionspädagogischer Sicht positiv zu bewerten. Nach allen Debatten über die Frage, ob Religion als Bildungsgegenstand überhaupt noch Bestandteil des neuen Lehrplans sein soll, ist die Tatsache zu würdigen, dass im künftigen Fachbereich «Natur – Mensch – Gesellschaft » (NMG) mit dem Lernbereich «Ethik – Religionen – Gesellschaft» (ERG) der religionsbezogene Unterricht einen obligatorischen Platz im schulischen Fächerkanon hat. Vor dem Hintergrund der zunehmenden religiösen Heterogenität der Schülerinnen und Schüler wird der Lernbereich ERG als ein «Religionsunterricht für alle» einen wichtigen Beitrag zur Identitätsbildung und ganzheitlichen Erziehung der Kinder und Jugendlichen leisten. Da der Unterricht in ERG als bekenntnisunabhängiger Religionsunterricht konzipiert ist, nimmt der Lehrplan 21 für einige Kantone einen religionsdidaktischen Richtungswechsel vor: Schulischer Religionsunterricht wird künftig verstärkt religionskundlicher Unterricht in staatlicher Verantwortung sein.

4. Religionskunde muss nicht standpunktlos sein

Daraus ergibt sich Konfliktstoff: In Kantonen, in denen der Religionsunterricht als bekenntnisorientierter Unterricht in der Verantwortung der Kirchen erteilt wurde/wird, bedeutet das ihren völligen und mindestens teilweisen Abschied aus dem Schulhaus. Wenn aber mit Recht betont wird, es gehe im schulischen Religionsunterricht nicht darum, zum Glauben, sondern zu einem Verständnis für Religion und Glauben zu führen, dann wird der künftige Lernbereich ERG im Lehrplan 21 zeigen können (und müssen), dass er dazu in der Lage ist. Wenn Schülerinnen und Schüler mit den unterschiedlichsten weltanschaulichen Einstellungen zusammenkommen, können sie in einem künftigen «Religionsunterricht für alle» ganz praktisch gegenseitiges Verstehen und Respekt voreinander einüben. Häufig wurde dem religionskundlichen Unterricht – ob «Religion und Kultur» in Zürich, «Religionskunde und Ethik» in Graubünden oder «Ethik und Religionen» in Luzern – in der Debatte um den Lehrplan 21 vorgeworfen, es sei zu wenig, von einem neutralen Standpunkt aus Kenntnisse «über Religion» zu vermitteln. Damit ging das Argument einher, dass er mit der Beschränkung auf die objektiv erfassbare Seite der Religion(en) den Selbstanspruch untergrabe, eine dem Heil des Menschen zugutekommende Wahrheit zu beinhalten. Der Lernbereich ERG im neuen Lehrplan muss sich dagegen keine «Standpunktlosigkeit» vorwerfen lassen. Durch bewusst grosszügig gestaltete Freiräume stellt er jedoch hohe Anforderungen an die Lehrpersonen. Die wenigen inhaltlichen Vorgaben haben jedenfalls schnell die Kritik ausgelöst, Kompetenzen ohne Inhalte seien wie «Stricken ohne Wolle». Hier müssen evtl. noch inhaltsbezogene Kompetenzen nachgebessert werden.

5. Flächenbewässerung plus Tiefenbohrung

Eine zentrale pädagogische Aufgabe des Religionsunterrichts wird künftig darin bestehen, die Schülerinnen und Schüler zum religiösen Perspektivenwechsel zu befähigen: Der religiös gebildete Mensch der Zukunft wird die Fähigkeit haben müssen, zwischen der Innensicht und der Aussensicht auf Religion «switchen » zu können. Die dafür erforderliche Didaktik des Perspektivenwechsels ist dort am besten möglich, wo sich der bekenntnisorientierte Religionsunterricht der Kirchen und der bekenntnisoffene Unterricht des Staates ergänzen. Die Kantone, in denen bereits ein fruchtbares Miteinander von staatlich und kirchlich verantwortetem Religionsunterricht existiert, bieten die besten Voraussetzungen dafür, dass die Vermittlung religionskundlichen Grundwissens ergänzt werden kann durch Tiefenbohrungen, die Kinder und Jugendliche in existentielle anthropologische und theologische Fragen verwickeln und sie zur eigenen Positionierung herausfordern.2

6. Kompetenzorientierte Katechese stärken

Wo noch kirchlicher Religionsunterricht am Lernort Schule erteilt wird, darf die religionskundliche Neuausrichtung des Lehrplans 21 nicht zu einer (weiteren) Re-Katechetisierung des Unterrichts führen.3 Vielmehr gilt es, die katechetischen Aktivitäten am Lernort Gemeinde zu stärken. Das deutschschweizerische Leitbild «Katechese im Kulturwandel»4 bietet bereits vielfältige Ansatzpunkte dafür. Seine Weiterentwicklung im Sinne eines kompetenzorientierten Modells katechetischen Lernens wird nun der nächste Schritt sein müssen.5 Es wäre jedenfalls wünschenswert, wenn das Gewand des Glaubens, das aus dieser Wolle gestrickt wird, seine Passform über die jetzige Generation hinaus behalten könnte.

 

 

1 Vgl. Ch. Cebulj / M. Jakobs / A . Kessler / S. Loiero / I. Noth / Th. Schlag: Bildung braucht Religion. Religionspädagogische Stellungnahme zum Lehrplan 21, in: SKZ 181 (2013), Nr. 51–52, 790.795.

2 Vgl. Ch. Cebulj: Alternativ – kreativ – kommunikativ. Das Bildungskonzept der Katholischen Kirche im Kanton Zürich, in: D. Helbling u. a. (Hrsg.): Konfessioneller und bekenntnisunabhängiger Religionsunterricht. Eine Verhältnisbestimmung am Beispiel Schweiz. Zürich 2013, 117.

3 Vgl. N. Mette: Zwischen Religionskunde und Rekatechetisierung – Gegenwärtige Ansätze zum Umgang mit der Kommunikationsproblematik im Religionsunterricht, in: L. Rendle (Hrsg.): Glaube, der verstehbar wird. Kommunikabilität des Glaubens als religionsdidaktische Herausforderung. München 2012, 32– 49.

4 Vgl. Deutschschweizerische Ordinarienkonferenz (Hrsg.): Leitbild «Katechese im Kulturwandel». Luzern 2009. Verfügbar unter: http://www.netzwerkkatechese.ch/fileadmin/daten/downloads/nwk/LeitbildKatecheseimKulturwandel.pdf

5 Vgl. M. Scheidler: Welche Kompetenzen können in der Katechese erworben werden?, in: A. Kaupp / St. Leimgruber / M . Scheidler (Hrsg.): Handbuch der Katechese. Freiburg 2011, 130 ff.

Christian Cebulj

Christian Cebulj

Dr. Christian Cebulj ist Rektor der Theologischen Hochschule Chur (THC) und betreut den Lehrstuhl für Religionspädagogik und Katechetik.