Selbstauslegung des Islam im Schweizer Kontext

Schweizer Zentrum Islam und Gesellschaft an der Uni Freiburg (CH)

Muslimische Studierende an Schweizer Universitäten sind nichts Besonderes. Islamwissenschaft wird an mehreren Universitäten der Schweiz gelehrt. Doch der Schritt zu einer expliziten Selbstauslegung des Islam im universitären Kontext scheint mit erheblichen Befürchtungen verbunden zu sein. Das Institut für Ökumenische Studien der Universität Freiburg (Schweiz) hat bislang konsequent den interchristlichen Dialog vom interreligiösen Dialog unterschieden und sich auf die Verständigung unter Christen konzentriert. Die schwierigen Debatten um die akademische Zusammenarbeit mit Muslimen rief schliesslich die Dialogerfahrungen des Instituts auf intellektueller wie auf praktischer Ebene auf den Plan.

Die angekündigte Gründung eines «Schweizer Zentrums Islam und Gesellschaft» an der Universität Freiburg/Schweiz ging aus einem Zusammenwirken von wissenschaftlicher Forschung und Politik hervor. Den Anstoss gab das Nationale Forschungsprojekt «Imam-Ausbildung und islamische Religionspädagogik in der Schweiz?» (2009). Der Schlussbericht erklärt die Ausbildung muslimischer Lehr- und Betreuungspersonen für wünschenswert und fordert zugleich deren Vertrautheit mit der Schweiz in Sprachen, Recht und Kultur.

Weiterbildung, nicht Imam-Ausbildung

Seit 2010 beschäftigte sich auf Initiative der Bundesbehörden eine zehnköpfige Arbeitsgruppe unter Leitung von Prof. Dr. Antonio Loprieno, Rektor der Universität Basel, mit Möglichkeiten der praktischen Umsetzung einer entsprechenden Aus- und Weiterbildung. Integrationsförderung war unverkennbar das vorrangige Anliegen. Eine muslimische «Theologie » stand nicht im Vordergrund, wurde jedoch gewünscht als sichtbarer Ausdruck der Bereitschaft, die religiöse muslimische Selbstauslegung in den akademischen Dialog einzubeziehen.

Das Wort «Imam-Ausbildung», das die Pressemeldungen dominiert, ist irreführend: Erklärtermassen geht es nicht um die Heranbildung von Muslimen zu Imamen, sondern um Weiterbildung für bereits ausgebildete Imame wie auch um akademische Programme, in denen Muslime und Nicht-Muslime, Männer und Frauen, das religiöse Selbstverständnis des Islam aus erster Hand kennen lernen und in Begegnung, Forschung und Lehre wissenschaftliche Themen, religiöse Überzeugungen und gesellschaftliche Fragen kritisch reflektiert zueinander in Bezug setzen.

Warum ein Zentrum in Freiburg?

Über drei Jahre brauchte die Arbeitsgruppe, bis sich eine Konkretion des Projekts abzeichnete durch das Angebot der Universität Freiburg, mit einem «Schweizer Zentrum Islam und Gesellschaft» die Koordination der vielfältigen Kompetenzen innerhalb der Schweiz zu übernehmen. Warum Freiburg? Die zweisprachige Universität Freiburg mit Berührungspunkten auch zum italienischen Sprachraum vermag einen schweizweiten Horizont besonders gut im Blick zu behalten. Die Theologische Fakultät in Freiburg als grösste theologische Fakultät der Schweiz mit internationaler und interdisziplinärer Orientierung, mit Dialogerfahrungen im interchristlichen wie im interreligiösen Bereich, mit einem starken Forschungsakzent und einer internationalen Vernetzung kann die für ein solches Projekt erforderlichen Kompetenzen bereitstellen bzw. in ihre Entwicklungsperspektive integrieren. Sie bringt die durch eine Konvention getragene Zusammenarbeit mit dem «Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut» ein, das seit langem die religiöse Landschaft der Schweiz aufmerksam beobachtet, erforscht und dokumentiert. In der Theologischen Fakultät ging aus dem ehemaligen Institut für Missiologie und Religionswissenschaft das heutige von Prof. Mariano Delgado geleitete «Institut für das Studium der Religionen und den Interreligiösen Dialog» hervor. Im Rahmen der Fakultät besteht eine langjährige Tradition von Forschung und Lehre im Bereich des christlich-muslimischen Dialogs, sichtbar etwa in folgenden Bereichen: regelmässige Lehraufträge; das «Religionsforum», das bereits 2005 zum Thema «Islam in Europa» stattfand; Doktorat und Habilitation des Islamexperten Prof. Dr. Felix Körner SJ (Università Gregoriana, Rom); Ehrendoktorat für die Islamwissenschaftlerin Frau Prof. Rotraud Wielandt, Bamberg; eine Sommeruniversität in Istanbul im Rahmen des Doktoratsprogramms «De Civitate Hominis. Theologie im post-ökumenischen Zeitalter» im Jahr 2013. Der Kompetenzbereich «Theologie in dominikanischer Tradition» umfasst eine Kultur der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Islam seit dem Mittelalter. Das im Schweizer Kontext einzigartige Institut für Religionsrecht an der juristischen Fakultät, das gut ausgebaute Weiterbildungszentrum und die universitär verankerte Lehrerinnen- und Lehrerausbildung können die Aufgaben des «Schweizer Zentrums Islam und Gesellschaft» mittragen. Eine Zusammenarbeit im Rahmen des Be(rn)-Ne(uchâtel)- Fri(bourg)-Netzwerkes ist insbesondere mit dem Berner Institut für Islamwissenschaft unter Leitung von Prof. Reinhard Schulze geplant.

Meilenstein in Richtung Zentrum

Eine ganztägige Konferenz an der Universität Freiburg am 13. März 2014 wurde zum Meilenstein auf dem Weg zur Gründung des Zentrums: Prof. Antonio Loprieno übergab offiziell die Verantwortung für die weiteren Schritte der Gründung an die Universität Freiburg und bezeichnete Freiburg als seine «Wunschuniversität» für das Projekt. Der neue Freiburger Staatsrat Jean-Pierre Siggen lobte die Theologische Fakultät als «herausragenden Ort des interreligiösen Dialogs» und sicherte die Unterstützung des gesamten Freiburger Staatsrates zu. Diese Erklärung war ermutigend angesichts des Vorstosses von mehreren Freiburger Grossräten, die durch ein Mandat an die Kantonsregierung das geplante Zentrum verhindern wollen. Bereits am 4. Februar 2014 hatte der Staatsrat ausführlich auf eine parlamentarische Anfrage zweier Mitglieder geantwortet, die insbesondere den Verlust des katholischen Charakters der Universität und finanzielle Belastungen des Kantons befürchteten. In der Antwort heisst es u. a.: «Der Staatsrat ist überzeugt davon, dass die zweisprachige Theologische Fakultät für das besondere Profil der Universität Freiburg wichtig ist und der interreligiöse Dialog in der pastoralen Praxis unserer heutigen Gesellschaft eine wesentliche Rolle spielt (…). Mit der Schaffung dieses schweizweit einzigartigen Ausbildungszentrums würde die Theologische Fakultät eine wichtige Aufgabe für die ganze Schweiz übernehmen und einen bedeutenden Beitrag zur Integration der muslimischen Religionsgemeinschaft leisten. Zudem trägt die Universität Freiburg mit dieser Initiative auch zur Realisierung der Herausforderung 4 des Regierungsprogramms 2012–2016 bei, welche die Festigung des sozialen Zusammenhalts anstrebt.»

Theologie im Dienste einer sozialpolitischen Aufgabe

Theologie im Dienste einer sozialpolitischen Aufgabe – das sind ungewohnte Erwartungen, die neue Herausforderungen mit sich bringen. Die Theologische Fakultät der Universität Freiburg nahm daher aktiv an der Tagung teil. Neben Studierenden und Doktorierenden waren der Dekan und alle deutschsprachigen Professorinnen und Professoren der Fakultät anwesend. Die Veranstaltung einer Rahmentagung gab Raum zum Gespräch über die Konsequenzen für das eigene Selbstverständnis und die Arbeit der Fakultät. Als Experten waren dazu eingeladen P. Dr. Claudio Monge, der im Dominikanerkonvent in Istanbul lebt und seit vielen Jahren einen Lehrauftrag zum christlich- muslimischen Dialog in Freiburg wahrnimmt, sowie Prof. Dr. Emre Öktem, Jurist der Galatasaray Universität in Istanbul und Berater des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel. Die Tagung am 13. März als solche war als geschlossene Veranstaltung konzipiert, um erstmals das Konzept des geplanten Zentrums vorzustellen und zu beraten, hatte aber zugleich Medienvertreter eingeladen, um die Öffentlichkeit zu informieren. Von Seiten der Universität Freiburg präsentierte Rektor Prof. Guido Vergauwen erste konzeptionelle Überlegungen. Unter den Grundlinien des Zentrums nannte er neben der dialogischen Orientierung und der Interdisziplinarität einen sozialethischen Akzent, der an die gesellschaftliche Lebenswirklichkeit anknüpft, sowie die Verankerung in der Forschung. Dieses Konzept war von Herrn PD Dr. Hansjörg Schmid mit erarbeitet worden, der seit 2005 das Theologische Forum «Christentum–Islam» an der Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart leitet und als katholischer Theologe mit Schwerpunkt in der Sozialethik als Koordinator des Projekts an der Universität Freiburg in Aussicht genommen ist. Die Präsentation von Herrn Dr. Schmid wurde in ihrer Differenziertheit und Offenheit allseits geschätzt. Muslime kamen bei der Tagung ausführlich zu Wort. Sie begrüssten einhellig die Initiative und wünschten sich eine Partizipation an der Gestaltung des Zentrums von Anfang an, die Berücksichtigung auch der nicht-organisierten Muslime, die Ausweitung der Zielgruppen und eine deutliche Praxisorientierung. Klar benannt wurde die Befürchtung einer politischen Funktionalisierung des Zentrums für die «Zähmung» des Islam und eine Beschränkung der Gesprächspartner nach eigenen Interessen und Vorentscheidungen.

Ergebnisoffenheit als Stärke

Auf diesem Hintergrund erweist sich die erklärte Ergebnisoffenheit als eine der Stärken des Projekts. Die akademische Reflexion stellt sich einerseits den gesellschaftlichen Herausforderungen, verweigert sich jedoch zugleich durch ihre Verpflichtung auf die kritische Analyse im Dienst der Wahrheitsfindung jeglicher Funktionalisierung. Diese Gratwanderung wird innerhalb der universitären Arbeit des Zentrums durchzuhalten sein. Erforderlich ist der Mut, Ungewissheiten und Spannungen in das Zentrum selbst hineinzunehmen und innerhalb seiner Arbeit auszutragen. Zur Suche nach einer angemessenen Struktur gehört auch die Frage der Zuordnung des geplanten Zentrums zur Theologischen Fakultät. In der Ablehnung dieser Konzeption zeigte sich eine paradoxe Allianz zwischen Freidenkern, die mit grossem Bekenntniseifer religiöse Deutungen aus der Öffentlichkeit verbannen wollen, traditionsbetonten Muslimen, die eine katholische Bevormundung befürchten, und Katholiken, die das katholische Profil in der Abgrenzung suchen. Jenseits dieser Positionen zeichnet sich eine Perspektive ab, die das Katholische in der Kraft des Zeugnisses im Dialog sieht. Die Integration des christlich-muslimischen Dialogs schwächt in dieser Sicht nicht das katholische Profil, sondern stärkt es. Auf der Grundlage der Entscheidungen des Zweiten Vatikanischen Konzils liegt gerade in der Bekenntnisgebundenheit der Theologie die Aufgabe, einer Kultur den Weg zu bereiten, «die imstande ist, andere menschliche und religiöse Kulturen aufblühen zu lassen und in eine Zivilisation der Liebe zu verwandeln» (Historisch-Theologische Kommission für das Jahr 2000). Dazu gehört die Bereitschaft, Muslime ebenfalls in ihrem religiösen Bekenntnis ernst zu nehmen und in die akademische Arbeit vorbehaltlos einzubeziehen.

Verankerung und Offenheit

Während der christliche Koordinator des Dialogprojekts in der Theologischen Fakultät verankert sein wird, werden die muslimischen Dozentinnen und Dozenten einen akademischen Status erhalten, der ihnen eine weitgehende Autonomie ihrer religiösen Selbstauslegung erlaubt, wobei zugleich die akademische Qualität ihrer intellektuellen Arbeit zu gewährleisten ist. Es war ein muslimischer Theologe, der bei der Tagung die Integration der kritischen Analyse auch in die religiöse Selbstdeutung einforderte. Theologie ist nicht Katechese. Auch katholische Theologie ist nicht Priesterausbildung, sondern die Priesterausbildung setzt in unserem gesellschaftlichen Kontext mit gutem Grund eine qualifizierte theologische Ausbildung voraus.

Der Anteil der Muslime an der Schweizer Bevölkerung beträgt derzeit zwischen fünf und sechs Prozent, etwa doppelt so viel wie die Zahl der orthodoxen Christen in der Schweiz. Es gehört zu den Aufgaben und Bewährungsproben der Demokratie, Minderheiten nicht zu marginalisieren, sondern ihnen eine Stimme zu geben.

Dies gilt umso mehr in einem Kontext der Transformation von Identitäten, der auch Christen unterworfen sind und denen sie sich in ihrem intellektuellen Diskurs zu stellen haben. Gemeinsam sind wir «zurückgeworfen auf die Anfänge des Verstehens», wie Bonhoeffer angesichts der Umbrüche des Zweiten Weltkriegs formulierte. Gemeinsam müssen wir das ABC des gesellschaftlichen Lebens in einer pluralen Kultur neu entziffern und uns als Bürger und Glaubende zugleich verstehen lernen. Eines ist sicher: Niemand wird unverändert aus diesem Projekt hervorgehen, und das ist gut so.

 


Barbara Hallensleben

Prof. Dr. Barbara Hallensleben (Jg. 1957) ist Professorin der Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg und Direktorin des Zentrums für das Studium der Ostkirchen.