Sterben und Tod bei Astrid Lindgren

Der Tod ist unausweichlich, trotzdem fällt das Sprechen darüber schwer. Astrid Lindgren hat ihn in ihre Bücher eingewoben und so eine Hilfe geschaffen, darüber ins Gespräch zu kommen.

Als Vater einer Tochter kommt man an Astrid Lindgren und ihrer Literatur nicht vorbei. Aber schon in meiner Kindheit spielten Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga und die diesbezüglichen Fernsehproduktionen eine wichtige Rolle. Ich habe immer gespürt, dass die Werke Lindgrens zwar nicht als christliche Verkündigung zu verstehen sind, aber eine Nähe zum christlichen Glauben haben.

Lindgren schrieb keine theoretischen Werke – das entsprach nicht ihrem Schaffen. Sie war Literatin. Ihre theologische und religionspädagogische Relevanz ist deshalb aus ihren literarischen Werken und aus ihrer Lebensgeschichte zu entwickeln.

Vom Leben beeinflusst

Lindgren steht in einer Traditionslinie einer «freien Erziehung», die Prägung durch Jean-Jacques Rousseau, Ellen Key und Bertrand Russell ist in ihren Werken spürbar. Auch die Literatur von Selma Lagerlöf mit ihrer Hochschätzung von Märchen und Legenden hat sie beeinflusst. Lindgren kann als Vorläuferin der Kinderphilosophie und Kindertheologie gelten, wobei Kinder für sie ernst zu nehmende Denker sind, was so zu verstehen ist, dass Kinder nicht einfach weniger oder schlechter denken als Erwachsene, sondern dass ihr Denken eine eigene, von Erwachsenen unterschiedene Logik aufweist, die in ihrem Denken konsequent eingesetzt wird. Pippi z.B. ist Philosophin und Michel Theologe, die es mit der Erwachsenenwelt aufnehmen können. Pippis neu erfundenes Wort «Spunk» ist im Sinne des «logos spermatikos», des alles umfassenden, alles erklärenden Wortes zu verstehen.1 Michel ist Theologe in eigener Art und Logik, dessen Erkenntnis oft treffender ist als die der Erwachsenen. So erkennt er z.B. den eigentlichen Sinn von Weihnachten in der Speise für die Armenhäusler in helfender Nächstenliebe. In «Montag, der 26. Dezember, als Michel ‹Das grosse Aufräumen von Katthult› veranstaltete und die Maduskan in der Wolfsgrube fing»2 entlarvt Michel die Maduskan, die dem Armenhaus vorsteht, als selbstsüchtige Alte, die die Essensspenden nicht an die Armen weitergibt, sondern selbst verspeist. Als seine Eltern und auch die Maduskan am zweiten Weihnachtstag zu einem Weihnachtsschmaus ausser Haus sind, bereitet Michel den hungernden Armenhäuslern mit den Vorräten aus dem Elternhaus ein Festessen.

Über alles hinaus prägend für das Werk Lindgrens war ihre eigene Lebensgeschichte, die gelebte Frömmigkeit im Elternhaus, die schwierige Lebenssituation mit dem unehelichen Kind, dem «melancholischen Einschnitt» in den ersten Stockholmer Jahren, dem Alkoholismus in der Familie und die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod (Tod ihres Mannes Sture). Ihr Kinderbücherschreiben war ein gegen die Melancholie Anschreiben und zugleich ein Hineinschreiben in die Geborgenheit der Kindheit. Lindgren verarbeitete in ihren Werken die Verlusterfahrungen ihres Lebens, wobei insbesondere das Schicksal ihres ersten Sohnes Lasse – aufgewachsen in einer Pflegefamilie in Kopenhagen, dann wieder zu ihr zurückgekommen, im damaligen gesellschaftlichen Denken mit einem Makel belegt, gegen den sie allerdings ankämpfte – nachhaltig auf ihr Leben und Schreiben auswirkte.

Lindgren wird nicht leichthin christlich vereinnahmt werden dürfen. Sie hat sich selbst als Agnostikerin bezeichnet. In einem Gespräch mit Felizitas Schönborn 1994 äusserte sie: «Oft zweifle ich an meinen eigenen Zweifeln. Ich pflege zu sagen, dass ich an Gott glaube, wenn ich ihn brauche.»3

Ihre Haltung wird präzis als «religionsoffener Agnostizismus im Kontext des Christentums» zu beschreiben sein. Karl-Joseph Kuschel prägte in den 1970er-Jahren den Begriff der «christophorischen Literatur». Ich halte diesen Deutungsansatz für ihre Literatur als sehr adäquat. Er ist nicht unbestimmt verschwommen, sondern theologisch dezidiert. Lindgren wollte keine christliche Literatur schreiben, wohl aber enthält ihr Werk die Christuswahrheit, trägt es Christus (die Liebe) in sich. In den 69 von mir behandelten veröffentlichten Werken in deutscher Sprache werden immer wieder christliche Bezüge deutlich. So wird eine Interpretation ihrer Werke ohne Berücksichtigung der christlichen Glaubensperspektive nicht zu einer vollen Erschliessung ihrer Literatur führen.

Breites Angebot an Trost

In Hinsicht auf Tod und Sterben leistete Lindgren einen wesentlichen Beitrag zur Enttabuisierung des Themas in der Kinderliteratur, vor allem durch das Buch «Die Brüder Löwenherz».

«Die Brüder Löwenherz» ist zu verstehen als Trost- und Mutmachgeschichte angesichts kindlicher Todesangst. Lindgrens Enkel Nisse hatte keine religiöse Vorstellung. Er wusste nur, man muss in die dunkle Erde, und das wollte er nicht. Dahinein spricht das Buch «Die Brüder Löwenherz». Karl Löwe, genannt Krümel, ist sterbenskrank. Sein Bruder Jonathan rettet ihn bei einem Brand, indem er ihn auf den Rücken nimmt und aus dem Fenster springt, wobei er allerdings sein Leben verliert. Nachdem schliesslich auch Krümel entschlafen ist, treffen sich beide in der jenseitigen Welt Nangijala wieder. Sie erleben gemeinsam Abenteuer und befreien die dort Lebenden von einer Tyrannei. Die Ungeheuer der Urzeit Katla und Karm töten sich schliesslich gegenseitig. Doch Jonathan ist von einer winzigen Flamme des Feuers Katlas getroffen worden, er wird sich bald nicht mehr bewegen können. Jonathan und Krümel entscheiden sich, gemeinsam in die Tiefe, ins Licht, nach Nangilima zu springen. Angesichts von Sterben und Tod ist in «Die Brüder Löwenherz» das Tröstliche die Gemeinschaft der Brüder Jonathan und Krümel, das Füreinanderdasein, welches bis zum Füreinandersterben geht. Die «hingebende Liebe» ist der christophorische Kern in den Werken von Lindgren.

Lindgren bietet in ihren Werken eine ganze Palette von Trostmöglichkeiten angesichts von Tod und Sterben an: Die Natur (die zum Gleichnis für das Paradies wird, besonders in «Mio, mein Mio»), das nicht Einsamsein resp. die Gemeinschaft («Die Brüder Löwenherz», «Ronja Räubertochter»), die Musik (schon bei «Britt-Mari» und bei «Mio, mein Mio»), das Schlafen («Wanthai aus Thailand»), den Humor, der für sie wichtig ist, erfrischend in «Pippi Langstrumpf», herzergreifend in «Leb wohl, du olle Galle». Sie weiss auch um eine Verbundenheit mit Tieren, die tröstend ist. Im Buch «Ferien auf Saltkrokan» machen Kinder im Sterben ihrer Haustiere Erfahrungen mit dem Tod. Trostwirkung hat auch die Fantasie (Märchensammlung: «Im Wald sind keine Räuber», «Klingt meine Linde», «Tomte Tummtetott», «Der Drache mit den roten Augen» u.a.). Zumindest in den Büchern der 1940er- und 1950er-Jahre ist das Gebet eine Trostmöglichkeit und eine Hilfe gegen die Angst vor dem Tod (Kati-Bücher, Blomquist-Krimis).

Erfahrungen aus dem Unterricht mit Grundschülern und Konfirmanden zeigen, dass von ihnen selbstständig das religiöse Potenzial der Lindgren-Literatur erkannt wird. Die Geschichten Lindgrens können zu einer ergebnisoffenen Kommunikation des Evangeliums (Ernst Lange, Christian Grethlein)4 beitragen, wobei sie allerdings sensibel einzusetzen sind. Sie haben der differenzierten Position Lindgrens zum christlichen Glauben Rechnung zu tragen. Lindgren wird bis zum Ende ihres Lebens Vollzüge des christlichen Glaubens wie das Beten praktiziert haben («Wenn ich in einer grossen Schreibarbeit stecke, so sage ich: Bitte lieber Gott!»5), blieb aber trotzdem Agnostikerin. «Aber kleine Kinder sind wie Heilpflanzen für die Seele.»6 Aus der Begegnung mit Kindern schöpfte Astrid Lindgren Kraft. Das grosse Verdienst Lindgrens ist, dass sie den Fokus auf die Kinder richtet, die Kinder in die Mitte stellt (vgl. Mt 18,2) und damit Gesellschaft und Kirche den Weg weist.

Roland Mettenbrink

 

1 Im Buch «Pippi in Taka-Tuka-Land» erfand Pippi spontan den Begriff Spunk und versuchte daraufhin herauszufinden, worum es sich bei einem Spunk handeln könnte.

2 Lindgren, Astrid, Immer dieser Michel, Hamburg 1988, 153–192.

3 Zitiert in: Mettenbrink, Roland, Religion in Kinderliteratur – Sterben und Tod bei Astrid Lindgren, Leipzig 2018, 56.

4 Ernst Lange (1927–1974) war ein deutscher protestantischer Theologe. Er prägte den Begriff von der «Kommunikation des Evangeliums». Christian Grethlein (Jg. 1954) ist Professor für Praktische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Eine an der Evangeliumskommunikation orientierte Praktische Theologie plädiert für ein dialogisches Grundverständnis der Selbstmitteilung des Christentums sowie für die Nutzung der vielfältigen Kommunikationsmittel.

5 Zitiert in ebd, 56.

6 Zitiert in ebd, 352.

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Roland Mettenbrink

Dr. theol. Roland Mettenbrink (Jg. 1962) studierte evangelische Theologie in Münster, Heidelberg und Bethel. Er ist Pfarrer im evangelischen Kirchenkreis Lübbecke und zusätzlich für die religionspädagogische Arbeit in vier Kindergärten zuständig.