«Ein Katholik ist kein Satellit»

Vor gut fünf Monaten begann Bischof Peter Bürcher seinen Dienst als Apostolischer Administrator der Diözese Chur. Im Interview mit der SKZ zog er eine kurze Zwischenbilanz.

Mgr Peter Bürcher (Jg. 1945) wurde 1971 zum Priester und 1994 zum Bischof geweiht. Von 1994 bis 2007 war er Weihbischof von Lausanne, Genf und Freiburg und von 2007 bis 2015 Bischof von Reykjavik. Am 20. Mai 2019 ernannte ihn der Papst zum Apostolischen Administrator «sede vacante et ad nutum Sanctae Sedis» der Diözese Chur. Weiter ist Bürcher Mitglied der Kongregation für orientalische Kirchen. (Bild: SBK)

 

SKZ: Sie sind seit ein paar Monaten Apostolischer Administrator in Chur. Sind Sie bereits angekommen?
Peter Bürcher: Ja, ich bin sogar sofort angekommen! Den Empfang habe ich überall als freundlich erleben dürfen. Es ist mir klar, dass der Bischof für alle da sein soll. Im Bischofsrat des Bistums kommen beispielsweise die Anliegen aller ins Gespräch. Gespräche hatte ich schon mit sehr vielen Personen, und zwar in allen sieben Kantonen des Bistums. Ebenso mit vielen verschiedenen Gremien und Institutionen des Bistums, wie zum Beispiel mit unserem Priesterseminar, unserer Theologischen Hochschule, mehreren unserer Domherren, mit unserem Bischofsrat, unserem diözesanen Administrationsrat, mit manchen unserer Dekanate, mit Verantwortlichen in der Katechese und Jugendseelsorge, in der Spitalseelsorge und in Altersheimen sowie mit vielen anderen Personen an der Basis. Dieser vielfältige Dienst gefällt mir und gehört natürlich zu meiner apostolischen Aufgabe. Alle haben auch ihren Platz im Gebet in jeder meiner täglichen Messfeiern.

Sie waren in drei sehr unterschiedlichen Regionen Bischof, in der Westschweiz, in Skandinavien und nun in Chur. Welche Unterschiede fallen Ihnen am meisten auf?
Ja, und da käme noch das Heilige Land dazu! Seit meiner Kindheit bin ich ein Migrant und, wenn Sie lieber wollen, im Amt, ein Nachfolger der Apostel! Beginnen wir also mit der Westschweiz: Da verbrachte ich, nach sieben Jahren im Oberwallis, als Kind, Student, Seminarist, Priester und Weihbischof, 52 Jahre meines Lebens. Meine 18 Priesterjahre in der Pfarrei waren stark durch das Zweite Vatikanische Konzil geprägt. Nach fünf Jahren in der Ausbildung folgten meine ersten 13 Jahre im bischöflichen Amt in der Westschweiz, mit allen Hoffnungen, die von der Synode 72 und der Umsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils geweckt wurden, von denen viele bis heute noch nicht verwirklicht sind, nach mehr als 50 Jahren! Dann folgte Island. Was mich zuerst beeindruckt hatte, war die Schönheit der Landschaften und die wunderschönen Farben des Himmels. Der Empfang war sehr herzlich und kontrastierte mit dem kalten Klima dieser schönen Nordinsel. Ich war acht Jahre lang in Island als Bischof von Reykjavik. Es waren für mich Jahre vieler Neuigkeiten! Die geografische, die geologische, die soziale, die kulturelle Situation Islands – das ist alles bemerkenswert. Auch die sozio-religiöse Lage der Christen und besonders der Katholiken war für mich eine wunderbare Entdeckung! In den letzten Jahren verzeichnete die nordische Diözese Reykjavik beispielsweise einen beträchtlichen Anstieg an Katholiken; dies geschieht zum einen aufgrund der jungen Arbeitssuchenden aus mehrheitlich katholischen Ländern (wie z. B. Polen und Philippinen), zum anderen aufgrund der hohen Geburtenrate in Island, was sich dann in der Zahl der Taufen niederschlägt. Dazu kommt jedes Jahr die Zahl der Lutheraner, die in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche aufgenommen werden. Die Zahl der Katholiken ist in den nordischen Ländern in ständigem Wachstum! Derzeit machen die Katholiken in Island nur 3,5 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, verteilt auf ein Gebiet, welches das Zweieinhalbfache der Schweiz ausmacht. Und für den Dienst eines Bischofs bedeutet dies eine übersehbare Gemeinde, mit 18 Priestern und 30 Ordensfrauen unterschiedlicher Herkunft, die er leiten muss. Aber die katholische Bevölkerung wächst, und die Katholiken sind im gesellschaftlichen Leben sehr präsent. Es waren beispielsweise Klosterfrauen, die die ersten Krankenhäuser des Landes errichteten. Die katholische Schule nimmt auch viele lutherische Kinder auf. Diese Krankenhäuser, diese Schule und die jüngste Vergangenheit der katholischen Kirche in Island fördern in hohem Masse die hervorragenden ökumenischen Beziehungen.

Dann folgte offiziell der Ruhestand …
Nach dieser Zeit in Island war ich drei Jahre lang aus gesundheitlichen Gründen im Ruhestand in der Schweiz und im Heiligen Land. In den letzten Jahren unternahm ich durch meinen Dienst in Verbindung mit den Ostkirchen im Heiligen Land viele Reisen in diese Region. Jeder Bischof, der in das Bischofskollegium eintritt, in Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom, soll ja die Sorge aller Kirchen tragen. Es ist eine missionarische Herausforderung, die ständig wach und aktiv gehalten werden soll. Und nun, vor ein paar Monaten, hat mich Papst Franziskus überrascht. Ich war schon in allen Regionen des Bistums. Welche Schönheit und welche Diversität zwischen Lungern und Müstair, Kloten und S. Vittore! Es sind ja nicht nur geografische und kulturelle Verschiedenheiten. Diversität ist auch Reichtum! Pastorale Besuche, Feiern und Firmungen konnte ich auch schon viele machen. Zusammenfassend für all diese vier Regionen bin ich der Überzeugung, dass es grundsätzlich überall noch mehr Sehnsucht nach Gott braucht! Der Glaube aller muss wachsen können! Und das beginnt in mir und in jeder Person! Eine grosse Herausforderung ist der Übergang von einer Volkskirche zu einer Entscheidungskirche, weil ja der gesellschaftliche Mainstream immer mehr der Lehre der Kirche entgegensteht. Wir müssen auch lernen, den Glauben heute so zu erklären, dass kirchlich nicht sozialisierte Menschen ihn wieder verstehen können. Was ist ein Sakrament, was ist mit Auferstehung gemeint, wozu Kirche? Eine neue Sprache für die wesentlichen Glaubenselemente finden, aber ohne die Substanz zu verwässern oder dem Mainstream zu opfern. Es braucht dafür nicht nur Strukturreformen der Kirche, sondern qualitative Glaubensbildung der Kinder, der Jugendlichen sowie konkrete Fortbildungsgremien für Erwachsene. Das beginnt auch mit einer Priesterausbildung, die auf dem neuesten Stand ist. Das Gleiche gilt für die Ausbildung der Laientheologinnen und Laientheologen. Bis zu einem gewissen Grad gibt es bestimmt Unterschiede zwischen der Situation in Island und in der Schweiz, vor allem in Bezug auf das Feuer für die Verkündigung des Glaubens und die gelebte Mitfeier in der heiligen Messe, die man in der Diasporakirche eher antrifft als bei uns. Auf der anderen Seite haben wir doch auch ganz andere Herausforderungen. Wir haben Diözesen mit sehr vielen, zum Teil gegenläufigen Erwartungen. Erwartungen zwischen den Interessen der Körperschaften in den einzelnen Regionen und innerhalb der Basis der Gläubigen mit sehr traditionellen bis progressiven Vorstellungen. Das sind Spannungen, die die tägliche Arbeit anders prägen als in der Diaspora.

Ein Telefon aus Rom und Sie hatten einen neuen Auftrag jenseits des Ruhestandes. Geht das gut?
Dieses Telefon aus Rom erreichte mich in Jerusalem. Das war für mich eine totale Überraschung! Aber aus der Ferne dachte ich manchmal, dass es sicher nicht einfach sei, Bischof einer grossen Diözese wie Chur zu sein, mit so vielen, zum Teil gegenläufigen Erwartungen. Gott hat für uns oft unerwartete Überraschungen bereit! Und Papst Franziskus sagte mir, dass ich nur ein paar Monate als Apostolischer Administrator dem Bistum Chur vorzustehen haben werde. Also, vedremo! Was ich im persönlichen Gespräch mit Papst Franziskus zu verstehen bekam, ist, dass ihm das Bistum Chur am Herzen liegt. Er versucht deshalb, sobald wie möglich eine gute Lösung zu finden.

Das Deutschschweizer «duale Kirchensystem» – Ist es dysfunktional oder funktional?
Dieses System erlebte ich schon damals in der Westschweiz. Die Synode der Römisch-katholischen Körperschaft in Zürich lud mich im vergangenen Sommer in den Parlamentssaal, sozusagen ins politische Zentrum des Kantons Zürich, ein. Um den Dialog mit allen zu suchen, nahm ich die Einladung gerne an. Die Mitglieder der Synode sind alle Katholiken. Das wollte ich dort unterstreichen. Das Grundziel all dieser Getauften ist, Christus mitten in der Gesellschaft des Kantons Zürich zu verkündigen. Die Verkündigung Jesu Christi in einer globalisierten Welt ist heute auch das grosse Anliegen von Papst Franziskus. In seinem programmatischen Schreiben «Evangelii Gaudium» hat er sich so ausgedrückt: «Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient» (27). Um auf Ihre Frage über das sogenannte «duale System» kurz zu antworten: Das System braucht ja gemäss dem «Vademecum» der Schweizer Bischofskonferenz gewisse Reformen. Zu den Einzelheiten dieser Reformen möchte ich wenig sagen. Alle regional bedingten oder kulturell geprägten Weisen, sich in der Kirche vor Ort zu organisieren oder in die Gesellschaft hinein zu wirken, sind so gut wie sie eben auch der Einheit im Glauben dienen. Das Bewusstsein, mit der ganzen Katholischen Kirche im Dienst des Herrn und der Mitmenschen zu sein, ist unumgänglich. Zürich gehört zum Bistum Chur, das Bistum Chur gehört zur Katholischen Kirche und sie ist das Volk Gottes! Ein Katholik ist kein Satellit: Er ist ein Glied des Leibes Christi, also der Kirche.

Die Kirche ist in einer Krise. Was wünschen Sie sich für die Kirche?
Die grösste Herausforderung ist die eines jeden Bistums: bei aller Verschiedenheit ein Teil der Weltkirche zu bleiben. Die Einheit nicht nur vor Ort zu wahren, sondern auch mit dem Rest der Universalkirche. Das geht nur durch die Einheit im Glauben, über die kulturellen, regionalen Eigenheiten hinaus. Was die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute «Gaudium et Spes» schreibt, ist immer noch ganz aktuell: «Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.» Jesus sagt: «Siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt» (Mt 28,20). Das ist mein Glaube, das ist meine Hoffnung!

Interview: Heinz Angehrn und Rosmarie Schärer

 

 

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