Stehen, gehen, knien, liegen

Gebetshaltungen im Gottesdienst bringen den Glauben leibhaftig zum Ausdruck. Miriam Vennemann beleuchtet einige von ihnen und wünscht mehr Freiräume für individuelle und gemeinschaftliche Bewegungsformen.

(Bild: Basti Arlt/EKD)


Das Gebet bildet einen fundamentalen Bestandteil religiös-liturgischen Handelns und Verhaltens, das mit vielfältigen spirituellen, sozialen und psychologischen Funktionen für die Betenden einhergeht. Oft ist es an Gegenstände wie Bücher, Ketten und Bilder sowie an Haltungen, Gesten und Gebärden des menschlichen Körpers geknüpft und drückt in Inhalt wie Form symbolisch vermittelt das jeweilige Welt-, Menschen- und Gottesbild sowie die stets einzigartigen Gottesbeziehungen der Gläubigen aus.1 Dabei kann man sich dem einer einseitigen Definition entziehendem Gebet sowohl als kulturellem Phänomen als auch als Lebens- und Glaubensvollzug nähern. Über ersteres kann interdisziplinär nachgedacht und wissenschaftlich geforscht werden, zweiterer muss vorrangig «getan» und «gelebt» werden.2 Denn ohne das Zusammenspiel von konkretem, religiösem Glauben und das mit dem Leib und allen Sinnen geäusserte Gebet bleibt jener eine abstrakt-theoretische Idee, eine Seele ohne Wohnung und dieses eine hohle Nuss oder ein Körper ohne Herz. Obwohl das (vor allem gemeinschaftlich-liturgische) Gebet oft schriftlich in Büchern fixiert, Menschen sogar ihre persönlichen Gebete in einer spezifischen, traditionsreichen Gebetssprache und -struktur sprechen und das Gebet oft als Gespräch definiert wird3, ist Beten nie nur auf das Wort und Verstehen reduzierbar. Es stellt vielmehr einen Glaubensakt dar, der den Menschen nicht nur als seelisches, sondern auch als leibliches Wesen berührt, was sich schon biblisch bezeugt findet4: Die Psalmen betonen an vielen Stellen die Ganzheitlichkeit des Gebets («mein Herz und Leib jauchzen dir zu» [Ps 84,3]; «wie ein Rauchopfer steige mein Gebet vor dir auf; / als Abendopfer gelte vor dir, wenn ich meine Hände erhebe» [Ps 141,2]) und auch Jesus Christus heilte Menschen durch Berührung (Mk 6,6; Mk 9,27; Mt 8,15) oder seinen Speichel (Joh 9,1; Mk 7,33; Mk 8,28) und betete am Ölberg kniend derartig intensiv, dass «Schweiß […] wie Blut […] auf die Erde tropfte» (Lk 22,41–44).5 Insbesondere durch Gottes Menschwerdung in Jesus Christus, die durch Krippe und Kreuz gerahmt wird, erhalten der menschliche Körper und damit auch sein ganzmenschliches Beten vor Gott eine neue Würde und Aufmerksamkeit, die letztendlich in dem Auferstehungsglauben des menschlichen Leibes gipfeln.6  

Das Gebet konstituiert folglich ein dialogisches, lebendiges, seelisch-leibliches Geschehen, in dem sich der oder die Betende einem personalen, wirklich erfahrbar und präsent erhofften, wenn auch unverfügbaren, transzendenten Gegenüber öffnet. Das Ich wendet sich an dieses je nach Lebenssituation, Kontext und Kultur mal leise flüsternd, mal laut singend, dann wieder tief schweigend und manchmal auch gemeinschaftlich tanzend. Das Gebet verortet sich stets im eigenen Leben, da es fundamental um das Ich als einmaligen Menschen aus Fleisch und Blut geht, der in und von Beziehungen lebt und sich aufgrund seines allgemeinen Menschseins im Gebet auch mit der ganzen Welt verbinden kann.7  
Ausserdem vermag das Gebet, selbst die höchsten und dicksten Mauern einzureissen: Egal, ob es sich um Zäune der Vernunft, Mauern der Unmöglichkeit oder Grenzen des Sichtbaren handelt, das Gebet kann sie zum Einstürzen bringen, Menschen verwandeln und sie für ihre Mitmenschen und Gott anders und neu feinfühlig machen. Wenn der tiefe Graben der Sterblichkeit aufbricht, bietet das individuelle oder kollektive Gebet eine Brücke zur Bewältigung der Krankheits- oder Todessituation und zur Neubewertung des eigenen Lebens. Wenn eine plötzlich eintretende Naturkatastrophe menschliche Lebensräume zerstört und verheerende Verluste mit sich bringt, kann ein gemeinsam gesprochenes, aus der religiösen Tradition stammendes Vaterunser die Arche auf stürmischer See sein, die Zuflucht für Körper und Seele, der Abstand von der Eindringlichkeit der Erfahrung, die Einheit mit den anderen, und es kann sogar eine Sprache anbieten, wenn dem Menschen selbst die Worte fehlen.8  

In Anbetracht des Themas der Gebetshaltungen im Gottesdienst scheint es unerlässlich, einen kurzen Blick auf die rituelle Gestaltung von liturgischen Gebeten in der römisch-katholischen Kirche zu werfen. Denn obwohl es im Gottesdienst Zeit und Raum für persönliche, mehr oder weniger freie, meist stille Gebete gibt, zeichnet sich die Liturgie massgeblich durch eine poetisch-zeichenreiche Gebetssprache aus, die in anderen Lebenskontexten nicht (mehr) vorkommt und die gelernt wie interpretiert werden muss.Generell überwiegen in gottesdienstlichen Feiern vorformulierte, genormte Gebete wie das Eucharistische Hochgebet und das Vaterunser. Formal gewährleisten rituell-liturgische Gebete aufgrund ihrer immer wiederkehrenden, vorgeschriebenen Verhaltensweisen und Textelemente einen strukturierten, gemeinschaftlichen Glaubensvollzug, der anhand von bestimmten individuellen und kollektiven Handlungen in festgelegten liturgischen Rollen in einem speziellen Raum zu einer bestimmten Zeit geschieht. Die «starre» Architektonik der liturgischen Gebete ist durch ihre konzeptionelle Schriftlichkeit und das Festhalten in liturgischen Büchern geprägt, die medial mündlich in meist gemeinschaftlich eingenommenen Körperhaltungen vollzogen werden. 

Den liturgischen Gebeten kommen diverse Funktionen zu: Sie ermöglichen der Gemeinschaft der Gläubigen, sich in sprachlichen und körperlichen Zeichenhandlungen dem von ihr angenommenen wirklich anwesenden dreieinen Gott in antwortender Selbstmitteilung und Verehrung zuzuwenden. Zudem führen die Gebete durch ihre Wiederholbarkeit und ihrer Verortung in einer Tradition von vorangehenden und nachfolgenden Gläubigen zu einer kontinuierlichen (Wieder-)Herstellung und Bekräftigung der eigenen Glaubensgemeinschaft sowie der Vergegenwärtigung der gemeinsamen religiösen Glaubensinhalte und -werte. Sie sichern die Weitergabe des Glaubens und drücken diesen symbolisch wie metaphorisch aus, sie schaffen einen zwischenmenschlichen Interaktionsraum und können ferner eine genuin subjektive Relevanz besitzen.10  


Liturgiefeiern als Fest für alle Sinne und menschlichen Ausdrucksformen im Tempel Gottes und des Menschen

Da der Mensch als Leib-Seele-Wesen nur mit, durch und in seinem Körper existieren und die Welt um ihn herum wahrnehmen und erfahren kann11, kann auch Liturgie nur in (zwischen-)leiblicher Vermittlung und in Bezug auf die Lebens- und Glaubenshorizonte der Gläubigen stattfinden. 
Im Gottesdienst hören wir das Wort Gottes, die Musik, den Gesang sowie die Gebete der anderen, wir sehen den Kirchenraum, die Kirchenfenster, die Gewänder, die Gefässe und Kunstwerke, wir spüren die Hand des anderen beim Friedensgruss oder die Hostie beim Kommunionempfang, wir schmecken die Gaben von Brot und manchmal auch von Wein, wir riechen den Weihrauch, die Blumen, das Holz der Kirchenbänke, das Parfum des Sitznachbarn. Dieses bunte Ensemble der Sinneseindrücke und -ausdrücke nehmen wir in einem besonderen Raum wahr, dessen Architektonik, künstlerische Ausgestaltung sowie Auswahl und Anordnung des Mobiliars und der liturgischen Orte wie Altar, Ambo, Vorstehersitz, Taufbrunnen und Tabernakel entscheidend die gottesdienstlichen Verhaltens- und Handlungsweisen, die Bewegungen und die Feieratmosphäre beeinflussen.12 

Die Ausgestaltung des Raumes begünstigt oder verhindert daher immer bestimmte liturgische Ausdrücke und Vollzüge durch ihre ausstrahlende Dynamik oder Starrheit, Verschlossen- oder Offenheit: Schon einfache Fragen wie die Überlegung, ob die Gemeinde in Kirchenbänken oder auf einzelnen Stühlen Platz nimmt, ob der Altar in der Mitte des Raumes und/oder das Taufbecken am Eingang der Kirche steht, unterstreichen die symbolisch-ästhetische Dimension der Liturgie sowie das jeweils vorherrschende Kirchenbild und Liturgieverständnis der Ortsgemeinde. Darüber hinausbewegen und verhalten sich die Gläubigen in einem Kirchenraum anders als in weltlichen Räumen: Der Kirchenraum als Kultstätte bildet eine Heterotopie13, einen Andersort, einen zwar in der Gesellschaft verankerten Mikrokosmos, der jedoch eine Tür zu einer transzendenten Wirklichkeit verspricht, nach eigenen Regeln funktioniert und bestimmte Verhaltens- und Handlungsmuster hervorruft. Scheint uns das gemeinschaftliche Knien oder respektvolle, ehrfürchtige Verneigen im Alltag als kulturell ungewöhnlich, gehört es im kirchlichen Raum zu den normalen, stark ritualisierten und symbolträchtigen Ausdrucksformen. A. Ronald Sequeira konstatiert zudem, dass Liturgie sich in die drei Grundformen der verbalen, klanglichen und bewegungsmässigen Ausdrucksformen untergliedert, die ein Feiern mit allen Sinnen ermöglichen.14  

Leibhaftiges Gebet und Körperlichkeit in Liturgiewissenschaft und offiziell-kirchlichen Dokumenten 

Da Liturgie immer ein gemeinschaftliches Tun («actio») bildet15, das zunächst von Gott ausgeht, und das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Liturgiekonstitution16 betont, dass die gottesdienstlichen Handlungen stets den «ganzen mystischen Leib» (SC 26) betreffen, folgt daraus, dass alle Getauften «voll», «bewusst» und «tätig» (SC 14) an den Gottesdiensten teilhaben dürfen und sollen. Wenn nun diesem Prinzip Rechnung getragen werden soll, muss ein gründlicher anthropologischer und theologischer Blick gleichermassen auf die in der Liturgie anwesenden Körper sowohl der individuellen Subjekte als auch allgemein auf diejenigen der Gemeinschaft der Feiernden geworfen werden (vgl. SC 37–40).
In der Liturgiekonstitution heisst es – sehr offen und weit formuliert – bezüglich der Körperhaltungen und Gebärden zur Umsetzung der «participatio actuosa» wie folgt:
«Um die tätige Teilnahme zu fördern, soll man den Akklamationen des Volkes, den Antworten, dem Psalmengesang, den Antiphonen, den Liedern sowie den Handlungen und Gesten und den Körperhaltungen Sorge zuwenden» (SC 30).
Romano Guardini hob bereits vor dem Konzil die Wichtigkeit des Zusammenhangs von Körperlichkeit und Symbol für ein ganzheitliches und ganzmenschliches Liturgiefeiern hervor: Der Leib stelle für ihn das Symbol und Ausdrucksbild der Seele schlechthin dar. Ein Symbol liege vor, «wenn etwas Innerliches, Geistiges seinen Ausdruck im Äußerlichen, Körperlichen findet»17 und diese Symbole allgemeingültig und verständlich seien.18 Speziell zum leiblichen Gebet hält er fest, dass der Mensch als ein «verkörperter Geist» und «durchseelter Leib»19 existiere und «der Körper […] Werkzeug und Ausdruck der Seele», die «aus jeder Linie und Form und Bewegung des Leibes»20 herausspricht, sei. Jedoch seien die Haltungen und Gebärden nichts rein Äusserliches, sondern können das Innere der Seele ausdrücken. Er setzt sich folglich mit den wesentlichen Bewegungen und Gebetshaltungen des Menschen als symbolhafte Ausdrucksform auseinander und betitelt charakteristische Gebärden und Körperhaltungen als «heilige Zeichen».21  
Diese Wiederentdeckung der Körperlichkeit und der Bewegungsdimension der Liturgie wurden von vielen Wissenschaftlerinnen und Wisseschaftler wie Eisenhofer22, Ohm23 und Sequeira24 aufgegriffen und zum Beispiel neuerdings um gendertheologische Aspekte25 und mit Blick auf das Leibgedächtnis26 ausgeweitet und vertieft. 
In der «Allgemeine[n] Einführung in das Messbuch» finden sich nur wenige konkrete Äusserungen und Regelungen zu den Gebetshaltungen. Es wird aber die Gemeinschaftsdimension der Körperhaltungen im Gottesdienst stark unterstrichen, indem darauf hingewiesen wird, dass diese die Einheit der Feiernden ausdrücken und die geistige Einstellung der Versammelten fördern würden.27 So sollen in der Messe die Gläubigen eine Gemeinschaft bilden, «wenn sie Gottes Wort hören, am Gebet und Gesang teilnehmen, gemeinsam das Opfer darbringen und gemeinsam am Tisch des Herrn teilhaben. Diese Verbundenheit findet einen passenden Ausdruck in den Gesten und in der Haltung, die alle Gläubigen einheitlich einnehmen» (AEM 62). Hier wird deutlich, dass die leibliche Dimension in der Liturgie von offiziell-kirchlicher Seite als wichtig für den liturgischen Vollzug anerkannt wird. Die ortsspezifische Auslegung und liturgisch sinnvolle Anpassung liegen jedoch in der Verantwortung der jeweiligen Bischofskonferenz, um den regionalen Traditionen und Umständen bezüglich der Körperhaltungen gerecht zu werden (vgl. AEM 21). Des Weiteren wird das Stehen als generelle Gebetshaltung vorgeschrieben: «Soweit keine andere Regelung getroffen wird, möge man in allen Meßfeiern stehen» (AEM 21). Zudem wird in der AEM erläutert, zu welchen Zeitpunkten die Gläubigen sich hinsetzen oder hinknien sollen (vgl. ebd.). Es ist jedoch bedauerlich, dass keine Gebetshaltung in ihrer Symbolik und Geschichte erklärt wird.


Einige Gebetshaltungen im Gottesdienst

Knapp und ohne Anspruch auf Vollständigkeit prägen folgende Gebetshaltungen und -bewegungen die römisch-katholischen Gottesdienste:28  
Das Stehen wird als liturgische Grundgebetshaltung der Christen angesehen, da es – neben der gesteigerten Aufmerksamkeit, der menschlichen Würde vor Gott als sein Ebenbild, der Anerkennung und Ehrfurcht – in erster Linie die österliche Existenz der Christinnen und Christen symbolisiert. Da in jedem Gottesdienst das Paschamysterium gefeiert wird, zeigt sich im Stehen der Gläubigen symbolisch der erlöste, aufgerichtete und zum königlichen Priestertum berufene Mensch. Ferner ist das Stehen an andere Gebärden wie das Segnen und Sich-Bekreuzigen geknüpft und akzentuiert in Abwechslung mit weiteren Haltungen wie dem Knien und Sitzen bestimmte liturgische Übergänge. Zudem beginnt und endet das Gehen oder Tanzen in der Liturgie mit dem Aufstehen bzw. Stehenblieben, sodass es nicht nur eine autonome Haltung, sondern auch der Beginn bzw. Abschluss einer Bewegung sein kann. 

Eng verwandt mit dem Stehen ist die Bewegung des Gehens, welche die menschliche Würde, das Aufbrechen, das Auf-dem-Weg-Sein und das wandernde Gottesvolk symbolisiert. Aus dem gemeinschaftlichen Gehen kann auch der sakrale Tanz hervorgehen. In der Liturgie spielt das Gehen exemplarisch bei dem Gang zur und von der Kirche, beim Ein- und Auszug, bei der Gabenbereitung sowie bei Prozessionen oder Wallfahrten eine primordiale Rolle. Das «Beten mit den Füßen»29 erlaubt eine ganzmenschliche-ganzleibliche Glaubenserfahrung, die den Menschen zu sich selbst kommen lässt und ihn ebenso mit seinen Mitmenschen und der Welt verbindet, ihn regelrecht in Bewegung versetzt. Insbesondere die Verbindung vom Gehen mit meditativen, auf Wiederholung angelegten Gebeten wie dem Rosenkranzgebet und Gesängen wie den Taizé-Liedern kann ein Beten mit allen Sinnen und dem ganzen Körper ermöglichen, da Beten und Gehen harmonisch miteinander verschmelzen können. 
Das Sitzen konstituiert die Körperhaltung der Ruhe, Entspannung, Meditation und innerlichen Sammlung. Es symbolisiert die gemeinsame Aufnahmebereitschaft und wird daher bei den Lesungen und der Predigt zum aktiven Zuhören eingenommen. 
Das Knien, die Kniebeuge und die Verneigung, die durch das Sich-kleiner-Machen Symbole der Verehrung und Demut sowie beim Knien der Bussgesinnung sind, bilden weitere essenzielle Gebetshaltungen im Gottesdienst. Die Gläubigen knien beispielsweise bei der Wandlung und vor der Kommunion, vollziehen beim Betreten einer Kirchenbank eine Kniebeuge oder Verneigung in Richtung Tabernakel oder verneigen sich beim Vorbeigehen am Alter als Zeichen der Ehrfurcht und Anbetung. 

Das Liegen – im liturgischen Kontext «prostratio» (lat. Niederwerfen) genannt – bildet eine in der Bedeutung intensivierte Form des Kniens sowie der Verneigung, da es den gesamten Körper impliziert. Es versinnbildlicht Demut, Hingabe und flehentliches Bitten und kann je nach Arm- und Handhaltung (an den Körper angelegte oder horizontal ausgestreckte Arme und Hände) unterschiedliche Bedeutungsakzente setzen. In unserem Kulturkreis wird das Liegen in der Liturgie meist nur noch von einzelnen Personen und zu bestimmten Anlässen wie am Karfreitag, bei Weiheliturgien, bei der Ordensprofess und der Jungfrauenweihe vollzogen. 
Besonders wichtig im liturgischen Kontext sind die diversen Handgebärden: Wir falten, erheben und breiten unsere Hände zum Gebet aus; mit unseren Händen bekreuzigen wir uns, schlagen uns an die Brust, empfangen die Kommunion und teilen sie aus, segnen und salben wir andere Menschen und Gegenstände, teilen wir den Friedensgruss aus und klatschen wir. Laut Guardini stehen die gefalteten Hände insbesondere für Sammlung, Ergebung und Hingabe, die ausgebreiteten und erhobenen Hände für Offenheit und Empfangsbereitschaft.30 Die Handgebärden spiegeln die Komplexität und Diversität der liturgischen Körpersprache mit all ihren Nuancen und verschiedenen Bedeutungen wider: Sie öffnen die Tür zum individuellen Ausdruck der eigenen Spiritualität und der Auslebung der eigenen Gottesbeziehung im Gebet und sie stehen auch für die zwischenmenschliche Verbundenheit besonders durch das Berühren und Berührtwerden von anderen Gläubigen. 
Anhand der Vielfalt der Gebetshaltungen und -bewegungen wird der Glaube leibhaftig in der Liturgie ausgedrückt und es wird ersichtlich, dass Liturgie ein existenziell ästhetisches, symbolisches und performatives Gemeinschaftsgeschehen ist, das Menschen durch und mit ihrer Körperlichkeit vor Gott erleben und das diese ganzmenschlich verwandeln kann.31 


Liturgische Gebetshaltungen zwischen kollektivem und individuellem Glaubensausdruck

Heutzutage wird oft der Mensch als körperlich-seelisches Subjekt ins Zentrum der human- und kulturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt; in der Liturgiewissenschaft und auch in kirchlich-offiziellen Dokumenten werden hingegen oft die Objektivität, die Öffentlichkeit und die Gemeinschaftsdimension als Wesen der Liturgie und somit auch die Kirchlichkeit des Liturgievollzugs akzentuiert.32 Diese Ausrichtung auf die öffentlich feiernde Gemeinschaft liegt in der Kritik der vorkonziliaren Liturgieformen begründet, die durch einen sehr starken Subjektivismus, eine ausgeprägte Privatisierung und Klerikalisierung sowie durch die individuelle Frömmigkeitspraxis geprägt waren. Liturgie als gemeinschaftliches «Tun» aller Gläubigen wiederzuentdecken, das zudem mit gottesdienstlicher Verantwortung und Feierkompetenzen aller einhergeht und dem Prinzip der «tätigen» (u.a. SC 11; 14), «vollen», «bewussten» (SC 14; 48; 79), «inneren und äußeren» (SC 19), «aus ganzem Herzen» (SC 17) mitgestalteten Teilnahme eines jeden Individuums folgt, kann als der grösste liturgische Gewinn des Zweiten Vatikanischen Konzils und als Grundlage sämtlicher Liturgiefeiern gelten. 

Jedoch kann diese vielseitige Teilnahme am Gemeinschaftsgeschehen nur über die vollumfängliche seelisch-leibliche Berücksichtigung, Wertschätzung und Würde eines jeden einzelnen Menschen mit seinem spezifischen Lebenskontext, seiner stets einzigartigen Gottesbeziehung und seinen eigenen Glaubensvorstellungen, die sich auch in individuellen Ausdrucksformen und Gebetshaltungen wiederfinden, gelingen.33 Die christliche Kirche wird heutzutage immer pluriformer, was sich auch in den unterschiedlichen Menschen-, Welt-, Gottes- und Kirchenbildern ihrer Mitglieder zeigt. Daher sollte der gemeinschaftlich gefeierte Gottesdienst sich auch für Phasen und (Bewegungs-)Formen, welche die intim-persönliche Dimension des Glaubens fördern, öffnen und sich auch nicht a priori vor ausserliturgischen und individuellen Ausdrucksformen verschliessen, sondern diese – durch die Gemeinschaft gerahmt und getragen – in die Liturgie integrieren. 
Hierbei kann es sich um Leerstellen und Pausen vom «durchgetackteten Programm» der Liturgiefeiern handeln. Es sollte je nach Kontext und Profil der versammelten Gemeinde Feiermomente geben, in denen die Gläubigen sich beispielsweise frei im Kirchenraum in Stille oder zu einer vorgespielten Musik bewegen, gemeinsam meditativ-repetitive Gesänge und Gebete singen bzw. sprechen, schweigend zur Feier passende Bilder betrachten oder zeichnen, diverse Gebetshaltungen wie Bewegungsformen ausprobieren oder einem sakralen Tanz assistieren bzw. zuschauen dürfen, um ihre je eigene Gottesbeziehung pflegen und intensivieren zu können. 


Gottesdienst als Lernort einer vollumfänglichen Feierkompetenz, oder: Habe Mut, dich deines eigenen Körpers zu bedienen!

So kann Liturgie in einem Zusammen- und Wechselspiel von persönlicher und gemeinschaftlicher Dimension nicht nur ein Ort individueller und kollektiver Heilserfahrung und Gottesbegegnung werden, sondern auch ein bilateraler Lernort: Einerseits können die Gläubigen ihre Körperkompetenz ganzheitlich ausbauen, indem sie sich aktiv auf ihre Sinne konzentrieren, ihren Körper bewusst fühlen und verschiedene gemeinschaftliche und individuelle Körperhaltungen wie Bewegungen in der Liturgie kennenlernen, ausprobieren, einüben und reflektieren. Auf diese Weise können liturgische Ausdrucksmöglichkeiten ergänzt und entwickelt sowie Authentizität und Selbst- und Gottesannäherung im leibhaftigen Gebet erlangt werden. Zudem wird in der Liturgie durch das gemeinsame Feiern das Symbolverständnis geübt, indem die Symbole körperlich vollzogen und somit ganzheitlich verstanden werden können. Darüber hinaus können die Feiernden ihre Wahrnehmungskompetenz ausbauen, indem sie beispielsweise den Kirchenraum als Lebens- und Interaktionsraum mit anderen vor Gott erfahren und ihn mit ihrer körperlichen Präsenz selbstbewusst einnehmen und indem sie Liturgie als Möglichkeit für Transformationsprozesse in Körper und Seele wahrnehmen. Durch die gemeinsame und individuelle Verantwortung für das Gelingen der Liturgiefeiern werden die Sozial- und Ritualkompetenz der zum Gottesdienst Versammelten gestärkt. So können leiblich-seelisch vollzogene Rituale – ungeachtet der Ermöglichung von Bewältigungsstrategien und von Orientierungshilfen im eigenen Glaubensleben – zur Einheit und Identifikation mit der Gemeinschaft beitragen. Auch im Bewusstsein, dass Liturgie sich stets mit der lebendigen Tradition und der langen Geschichte der Getauften vergangener und zukünftiger Epochen verbindet, kann die kollektive Verantwortung für deren Fortbestand sogar über das eigene Leben hinaus unterstrichen werden. 

Andererseits kann die Liturgie selbst viel vom ganzmenschlichen-ganzheitlichen Gebet profitieren: Äussere wie innere Gebetshaltungen und vielfältige Bewegungsformen können zu Gottesdiensten führen, die sich an den Kriterien der Intensität, der (Ko-)Präsenz, der Ganzheitlichkeit und der Lebendigkeit orientieren, sodass das liturgische, symbolische Sich-Ausdrücken zu einem vollumfänglichen Zu-sich-selbst-Kommen in der zwischenmenschlichen Beziehung vor und mit Gott wird. 

Miriam Vennemann

 

 

1 Vgl. beispielsweise Theologie und Spiritualität des Betens. Handbuch Gebet. Hg. von Matthias Arnold und Philipp Thull, Freiburg i. Br. 2016; Identität durch Gebet. Zur gemeinschaftsbildenden Funktion institutionalisierten Betens im Judentum und Christentum, hg. von Albert Gerhards, Andreas Doeker und Peter Ebenbauer, Paderborn 2003; Mauss, Marcel, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, übers. von Eva Moldenauer, Frankfurt am Main 1990 (franz. Originalausg. Paris 1950 [erstmals 1925]). 

2 Vgl. Dalferth, Ingolf U. / Peng-Keller, Simon, Einleitung, in: Beten als verleiblichtes Geschehen. Neue Zugänge zu einer Hermeneutik des Gebets, hg. von Dens., Freiburg i. Br. 2016 (Quaestiones Disputatae 275), 9f. 

3 Erstmals bei Clemens von Alexandrien (vgl. Ders., Stromata, Teppiche, siebtes Buch, XII. Kapitel; abrufbar unter: Projekt «Bibliothek der Kirchenväter», http://www.unifr.ch/bkv/index.htm); vgl. Praktisches Lexikon der Spiritualität, hg. von Christian Schütz, Freiburg i. Br. 1992, 436. 

4  Siehe vertiefend: Negel, Joachim, Und das Wort ist Fleisch geworden… Liturgie und Leiblichkeit in phänomenologischer Perspektive, in: Beten als verleiblichtes Geschehen (wie Anm. 2) 138–172.

Alle Bibelstellen sind entnommen aus: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe, im Auftrag von u.a. der Deutschen Bischofskonferenz, Stuttgart 2016.

6  Vgl. Rieger, Hans-Martin, Leiblichkeit in theologischer Perspektive, Stuttgart 2019, 161; Gerl-Falkovitz, Hanna-Babara, Leibhaftes Spiel. Zur Anthropologie der Liturgie, in: Journal für Religionsphilosophie 5 (2016), 106– 117, hier 115; Jeggle-Merz, Birgit, Liturgie und Körper. Auf den Spuren der Leiblichkeit in der Begegnung mit Gott, in: transformatio; (2022/1) 16–31, hier 23f.

7  Vgl. Fischer, Georg /Backhaus, Knut, Beten. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments, Würzburg 2009, 79–84. 

8  Vgl. vertiefend z.B. Spilka, Bernard / Hood, Ralph W. / Hunsberger, Bruce / Gorsuch, Richard, The psychology of religion, New York 2003; Watts, F. N., Emotion regulation and religion, in: Handbook of emotion regulation, ed. by James J. Gross, New York 2007, 504–520. 

Vgl. zum Thema «Liturgische Sprache»: Liturgie und Sprache, hg. von Andreas Odenthal und Albert Urban, Trier 2014; Lang, Uwe Michael, Die Stimme der betenden Kirche. Überlegungen zur Sprache der Liturgie, Einsiedeln 2012 (Neue Kriterien 14).  

10  Vgl. Stein, Stephan, Das Gebet aus sprachwissenschaftlicher Perspektive. Am Beispiel liturgischer Gebete und gebetsartiger Textteile in Todes- und Traueranzeigen, in: Handbuch Gebet, 329–333; Greule, Albrecht, Sprache und Liturgie, in: Sprache und Religion, Darmstadt 2009, 165–179. 

11  Vgl. Rieger, Leiblichkeit (wie Anm. 6) 43. 

12  Zur Besonderheit liturgischer Räume siehe Stückelberger, Johannes, Raum und Bild als Elemente der Liturgie, in: konstruktiv. Theologisches aus Bern. Beilage zur Reformierten Presse. Liturgische Kompetenz (2011/42), 9–11; Lebensräume. Den Kirchenraum erfahren mit Aktionen, Liturgie und Kunst, hg. von Markus Zink, Frankfurt am Main 2011.

13  Zum Begriff der Heterotopien siehe Foucault, Michel, Die Heterotopien/Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Michael Bischoff, mit einem Nachwort von Daniel Defert, Frankfurt 2005; Ders., Andere Räume, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, hg. von Karlheinz Barck et al., Leipzig 72002, 34–47.

14  Vgl. Sequeira, A. Ronald, Gottesdienst als menschliche Ausdruckshandlung, in: Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft. 3. Gestalt des Gottesdienstes. Sprachliche und nichtsprachliche Ausdrucksformen, hg. von Hans Bernhard Meyer et al., Regensburg 21990, S. 7–39, hier 15f. 

15  Vgl. ebd., 13; vgl. Guardini, Romano, Von heiligen Zeichen. H. 1–2. Mainz 1922f. (danach viele Neuauflagen); vertiefend zur Anthropologie bei Romano Guardini siehe Gunda Brüske, Anruf der Freiheit. Anthropologie bei Romano Guardini, Paderborn 1998.

16  Im folgenden Text abgekürzt mit SC; abrufbar unter: https://www.vatican.va/archive/hist_councils /ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19631204_sacrosanctum-concilium_lt.html (Stand: 20. Juli 2022). 

17 Guardini, Romano, Vom Geist der Liturgie, Freiburg 181953, 80.

18  Vgl. ebd., 81.

19 Guardini, Romano, Liturgie und liturgische Bildung, Passau 1966, 35.

20 Guardini, Romano, Von heiligen Zeichen, Main 21995, 18. 

21 Vgl. ebd., 10–15. 

22 Siehe Eisenhofer, Ludwig, Handbuch der katholischen Liturgik. 1. Allgemeine Liturgik, Freiburg i. Br. 1932–1933; 21941, 251–282. 

23 Ohm, Thomas, Die Gebetsgebärden der Völker und das Christentum, Leiden 1948.

24 Siehe Sequeira, Gottesdienst (wie Anm. 14).

25 Vgl. z. B. Plüss, David, Die Grundgesten der Liturgie, oder: Wie kommt der Körper in den Gottesdienst hinein?,
in: Profan – sinnlich – religiös. Theologische Lektüren der Postmoderne, hg. von Susanne Dungs et al., Frankfurt u. a. 2005, 189–208.

26  Vgl. z.B. Jeggle-Merz, Liturgie und Körper (wie Anm. 6), 16–31.

27 Vgl. Allgemeine Einführung in das Römisch Messbuch, in: Die Feier der Heiligen Messe. Messbuch. Für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch. 1. Die Sonn- und Feiertage deutsch und lateinisch. Die Karwoche deutsch, hg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie der Bischöfe von Luxemburg, Bozen-Brixen und Lüttich. Einsiedeln u.a. 1975, 19*–69*, hier 27* (Art. 20) (im folgenden Text abgekürzt mit AEM). 

28 Bei meinen Ausführungen rekurriere ich nebst eigenen Beispielen auf Sequeira, Gottesdienst (wie Anm. 14), Guardini, Zeichen (wie Anm. 20), Ohm, Gebetsgebärden (wie Anm. 23) und Anselm Grün / Michael Reepen, Gebetsgebärden, Münsterschwarzach 1988 und Elmar Salmann, Was ist Kult? Zum Verständnis von Liturgie und Leiblichkeit, in: EO 12 (1995,) 245–251. 

29 Rosenberger, Michael, Schritte werden Erlösung – Pilgern als Gebet, in: Handbuch Gebet (wie Anm. 1) 177–186, hier 184. 

30 Vgl. Guardini, Zeichen (wie Anm. 20), 18–21.

31 Vgl. Guardini, Liturgie und liturgische Bildung (wie Anm. 19), 48; Liturgie und Ästhetik, hg. von Albert Gerhards und Andreas Poschmann, Trier 2013; Plüss, David, Körper und Kult. Gestisch-mimetische Kommunikation im ganz gewöhnlichen reformierten Gottesdienst, in: Körper – Kulte. Wahrnehmungen von Leiblichkeit in Theologie, Religions- und Kulturwissenschaften, hg. von Christina aus der Au und David Plüss, Zürich 2007 (Christentum und Kultur 6) 197–217; Schnütgen, Tatjana K., Tanz bildet Liturgiekörper. Oder: wie Liturgie zur Choreographin wird, in: Körper und Liturgie (wie Anm. 6,) 32–48, hier 36.

32 Vgl. z. B. SC 7, 13, 26, 27; siehe beispielsweise: Meyer, Hans Bernhard, Gottesdienst und Spiritualität, in: Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft. 2.2. Theologie des Gottesdienstes. Gottesdienst im Leben der Christen. Christliche und jüdische Liturgie, hg. von Martin Klöckener, Angelus A. Häussling und Reinhard Messner, Regensburg 2008, 159–279, hier 249; Haunerland, Winfried, Gottesdienst zwischen kirchlichem Anspruch und individueller Spiritualität. Perspektiven liturgischer Erneuerung, in: Objektive Feier und subjektiver Glaube? Beiträge zum Verhältnis von Liturgie und Spiritualität, hg. von Stefan Böntert, Regensburg 2011 (Studien zur Pastoralliturgie 32), 171–186. 

33 Vgl. Faber, Eva-Maria, Persönliches in Gemeinschaft. Liturgisches Beten in der Spannung von Intimität und öffentlich-sozialer Handlung, in: Handbuch Gebet (wie Anm. 1), 197–229.

 

 


Miriam Vennemann

Miriam Vennemann (Jg. 1991) arbeitet zurzeit als Diplomassistentin am zweisprachigen Institut für Liturgiewissenschaft der Universität
Freiburg i. Ü. , wo sie auch zu dem Thema «Religiöses und liturgisches Leben im Québec des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage autobiografischer Schriften» promoviert.