Spiritualität und Sexualität

Wunibald Müller: Vom Kusse seines Mundes trunken. Sexualität als Quelle der Spiritualität (= Topos Taschenbuch 802). (Verlagsgemeinschaft topos plus) Kevelaer 2012, 92 S. Pierre Stutz: Deine Küsse verzaubern mich. Liebe und Leidenschaft als spirituelle Quellen. (Kösel Verlag) München 2012, 192 S.

Seit einiger Zeit sind katholische Theologie und Kirche auf der Suche nach einer neuen Sexualethik und Sexualpädagogik. Hierzu erhoffen sich einige auch Impulse vom neuen Papst. Offensichtlich sind herkömmliche Denkformen dem Menschen nicht (mehr) gerecht geworden. Mittlerweile bahnt sich ein Paradigmenwechsel an, der durch die Aufdeckung der Missbrauchsdelikte beschleunigt worden ist: Dazu gehören eine Neueinschätzung der Leibhaftigkeit des Menschen, weiter eine Infragestellung der objektivistischen Sündenmoral, wie sie in Beichtstühlen konkret wurde, und ein Verzicht auf eine autoritäre Gehorsamspädagogik mit dem Kürzel: «Das darfst du nicht!» Als neue Konturen zeichnen sich ab: eine an der Person orientierte Beziehungsethik, welche auf die Qualität der Beziehung achtet, ferner das Bemühen um eine dialogische Erziehung, die versucht, die Menschen in ihrem Gewissen anzusprechen. Die traditionellen Sündenkataloge werden hinterfragt, nicht weggeworfen. Neu ins Blickfeld kommen Tugenden, die eine innere Nähe zwischen Einstellungen vieler Jugendlicher und Werten der Kirche bzw. des Evangeliums sichtbar machen, etwa bei den Werten Freundschaft, Liebe, Treue und Ausschliesslichkeit intimer Beziehungen. Neue Projekte der sexuellen Aufklärung, wie sie von der Caritas, von MFM und Teenstar entwickelt werden, weisen in dieselbe Richtung.

Neue Verbindungen

Hier sollen zwei wertvolle Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt kurz angesprochen werden, die sich um eine (früher undenkbare) Verbindung von Sexualität und Spiritualität mühen. Die eine stammt vom Psychologen und Exerzitienleiter Wunibald Müller (Münsterschwarzach), die andere vom bekannten spirituellen Autor und geistlichen Begleiter Pierre Stutz (Lausanne). Wunibald Müller konturiert Sexualität (in seiner Überarbeitung einer früheren Publikation aus dem Jahre 2003) auf der negativen Folie einer traditionellen Domestizierung und ihrer Belastung mit der Erbsünde neu als Gabe Gottes. Aufgrund eigener Erfahrung verband nämlich Augustinus die Sünde Adams und Evas mit Sexualität und dem fleischlichen Begehren des Menschen, ohne dass diese Verbindung in der Sündenfallerzählung oder bei Paulus (Röm 5,12 ff.) vorkäme. Anselm Grün meinte dazu, dass die christlichen Kirchen versuchten, die Sexualität in den Turm zu sperren, anstatt mit ihr ins Gespräch zu kommen.

Schattenseiten der Sexualität

Weder Pierre Stutz noch Wunibald Müller sind blind für die Schattenseiten der Sexualität und sprechen keiner laxen «Laissezfaire »-Moral das Wort. Während Letzterer von der Banalisierung in der Werbung und von der Ausbeutung der Sexualität spricht, insbesondere von den bestürzenden Missbrauchsfällen, redet Stutz von der Verletzlichkeit des Menschen in diesem sensiblen und intimen Bereich. Dabei hat er sich bei christlichen Mystikerinnen wie Mechthild von Magdeburg (1207 –1282) umgesehen und durchaus wertvolle Erfahrungen identifiziert: Erotik liegt genauso nahe bei Schmerz, Verwundung und sogar Tod wie bei Glück und Erfüllung. Denn jede menschliche Erfahrung ist begrenzt, bedingt und kann in die «Egoismusfalle» (S. 71) tappen. Weiter spricht der ehemalige Jugendseelsorger von der «dunklen» Seite der Sexualität, etwa ihrer Käuflichkeit und der damit verbundenen Beziehungslosigkeit. Leibhaftige Nähe setzt indessen geistig-seelische Nähe voraus (S. 73). Es braucht insgesamt Mut, neben der neuen optimistischen Sicht auf Sexualität «auch das Destruktive dieser Schöpfungskraft zu benennen» (S. 73). Gerade in der Erziehung und Prävention wird heute darauf geachtet, dass Frauen und Kinder lernen, Nein zu sagen.

Riten und Selbstbejahung

Wie geschieht nun in den beiden zukunftsweisenden Schriften die Verbindung von Sexualität und Spiritualität? – Pierre Stutz hat schon länger auf die Bedeutung von Riten und Ritualen für das Leben aufmerksam gemacht. Solche führt er auch hier unter dem Stichwort «Zärtlichkeit» an und meint damit einen kultivierten Umgang der Menschen untereinander: speziell in Konflikten, beim Verzeihen und bei jedem Neuanfang. Rituale – etwa das Grüssen – werden so zu Zeichen der Liebe und machen den Segen Gottes transparent. Sie bringen in ihrer Zärtlichkeit, die auf Besitzansprüche verzichtet, eine neue Wertschätzung der Person in ihrer Ganzheitlichkeit und Leibhaftigkeit zum Ausdruck.

Ein weiterer spiritueller Zugang besteht in der unumwundenen Bejahung der eigenen Person mit all ihren Talenten und Fähigkeiten, aber auch mit ihrem Sosein, ihrer Herkunft und Biografie, nicht zuletzt mit der sexuellen Orientierung, die viele nicht eigens so gewählt haben, wie sie ihnen geschenkt wurde. Wunibald Müller akzentuiert das Ja zur Leibhaftigkeit als Zugang zur Spiritualität «Ich habe nicht einen Leib, ich bin ein Leib» (S. 37), sogar ein «Tempel des heiligen Geistes» (1 Kor 3,16). Und er plädiert für eine Bejahung der inneren Gefühle als Ja zur Herzmitte der Person. Von einer besonderen Transzendenzerfahrung spricht er anlässlich der gegenseitigen Überschreitung der Partnerschaft in der Fruchtbarkeit. Das Kind verweist (für glaubende Menschen) auf seine Weise auf den Schöpfer. Wer die beiden Bücher liest und auf sich wirken lässt, stellt zuerst einen neuen Grundton in diesem Bereich fest. Dann sind besonders neue Grundpositionen in dem gesamten Bereich auszumachen. Gewiss sind damit noch nicht alle diesbezüglichen Probleme gehört, doch scheinen beide Werke in ihrer schonungslosen Offenheit authentische Erfahrungen des Glaubens zu deuten und für das weiterführende Gespräch in der römisch-katholischen Kirche gewinnbringend zu sein.

 

Stephan Leimgruber

Stephan Leimgruber

Dr. Stephan Leimgruber ist seit Februar 2014 Spiritual am Seminar St. Beat in Luzern und zuständig für die Theologinnen und Theologen in der Berufseinführung. Bis zu seiner Tätigkeit in Luzern war er Professor für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät in München.