Spiritualität in Prozessen der Organisationsberatung (I)

Organisation und Spiritualität. So unterschiedlich die beiden Bereiche sind, sie werden neuerdings näher zusammengedacht. Bernhard Lindner legt als Theologe und Organisationsberater mit seinen Beiträgen umfassend dar, wie der Weg einer von Spiritualität geprägten Beratungspraxis gangbar wird. Die hier dargelegten Reflexionen zur "Spiritualität in Prozessen der Organisationsberatung" sind facettenreich und öffnen Türen für neue Wege.

Business und Spiritualität – das verhielt sich bis vor kurzem noch wie Wasser und Öl zueinander." Heute "bekennen sich viele unverblümt zu ihrer Spiritualität (…) Selbst über jeden Esoterikverdacht erhabene Institutionen haben das Thema Spiritualität in ihren Seminarkatalog aufgenommen."1 Die Nachfrage nach Spiritualität in Organisationen weist über den kirchlichen Kontext hinaus hohe Aktualität auf. Wenn im ausserkirchlichen Bereich so selbstverständlich der Begriff Spiritualität in die Betrachtung und Veränderung sozialer Systeme eingeführt wird, besteht erst recht im kirchlichen, durch christliche Spiritualität geprägten Kontext Klärungsbedarf darüber, von welcher Spiritualität strukturelle Veränderungsprozesse in ihm getragen sind.

Welche Rolle spielt Spiritualität allgemein in jeder Organisation, damit auch in der Organisationsberatung? Könnte das bewusste Wahrnehmen von Spiritualität einen wichtigen Beitrag für den konkreten Beratungsprozess leisten? Ist es möglich, dass Methoden christlicher Spiritualität in verantwortbarer Weise die Methoden der Organisationsberatung bereichern, ja sogar qualifizieren?

Mit dem Titel "Spiritualität in Prozessen der Organisationsberatung" verortet die vorliegende Arbeit zunächst die Fragestellung beispielhaft in konkreter Beratungspraxis. Dann versucht sie den schillernden Begriff Spiritualität zu definieren und zu erörtern, ob der Gebrauch des Begriffs Spiritualität in Organisationen berechtigt ist und was er bezeichnen könnte. In weiteren Schritten wird die Bedeutung der Spiritualität in der Organisationsberatung und die Suche nach Methoden mit "spiritueller Qualität" dargelegt. Schliesslich werden Möglichkeiten eines Beratungsdesigns aufgezeigt, das von explizit christlicher Spiritualität getragen ist. Abschliessend wird der Erkenntnisgewinn zu bündeln gesucht.

Die konkrete Beratungspraxis als Kontext der Fragestellung

Zwei Beispiele aus der eigenen Beratungspraxis im Rahmen der Fachstelle Bildung und Propstei der Röm.-kath. Landeskirche im Aargau wollen die Fragestellung kontextuell einordnen und ein besseres Verstehen ermöglichen.

Gemeindeleitung und Pfarreirat von G haben eine Zeit der pastoralen Neuorientierung der Pfarrei hinter sich. Bei der Anfrage nach Gemeindeberatung steht eine Zwischenevaluation an. Es ist nun ausdrücklicher Wunsch der Gemeindeleitung und der Pfarreiratspräsidentin, nicht nur den Erfolg der unterschiedlichen Projekte anzuschauen, sondern sich darüber hinaus zu fragen: Sind wir auf dem richtigen Weg? Was ist unsere zentrale Aufgabe? Gelingt es uns als Pfarrei, die Aufgabe der Verkündigung der Frohen Botschaft mehr bzw. angemessener zu erfüllen? Als methodisches Vorgehen schlage ich den Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln vor und stosse beim Klientensystem auf Akzeptanz. In der Evaluation der gelungenen Prozessbegleitung drängt sich die Hypothese auf: Spiritualität ist im kirchlichen Kontext ein wichtiger Referenzpunkt in Veränderungsprozessen, auf den ausdrücklich Bezug genommen werden sollte.

Die Pfarrei D ist in einer Umbruchphase, die sich mit den Worten Personalweggang, Vakanz und Übergangslösungen beschreiben lässt. Sie äussert als Wunsch an die Gemeindeberatung das Bedürfnis nach Stärkung und Orientierung. Wir gestalten einen Prozess der persönlichen spirituellen Vergewisserung, der achtsamen und wertschätzenden Wahrnehmung der einzelnen Subsysteme und ihrer Motivation bzw. Spiritualität sowie der Entwicklung von Visionen. Das Ergebnis dieses Prozesses ist auf der Ebene der Freisetzung von Energie für uns überwältigend und veranlasst zu folgender Hypothese: Wenn es einem System gelingt, Kontakt zu seinen eigenen persönlichen Ressourcen (Motivation, Spiritualität) herzustellen, wird eine hohe Energie freigesetzt, die sich sehr positiv auswirkt auf die Kompetenz zur Gestaltung von Zukunft und auf die Bereitschaft, sich auf Veränderungsprozesse einzulassen.

Der Begriff Spiritualität

Spiritualität ist als Substantiv ein relativ junger theologischer Begriff. Wurde das Adjektiv "spiritualis" seit Tertullian als christlicher Neologismus für das griechische Wort πνευματικός = "dem Geist gemäss" gebraucht, taucht das Substantiv "spiritualitas" erst ab 1900 auf, zunächst im französischen Katholizismus als Lehre vom geistlichen Leben und nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Deutschland als Synonym für Frömmigkeit.2 Heutige systematisch-theologische Überlegungen verstehen christliche Spiritualität als eine lebendige Wirklichkeit, die der menschlichen Erfahrung zugänglich ist. Der Spiritualität geht das Wirken des Heiligen Geistes voraus, der im Menschen Glauben als existentieller ganzmenschlicher Lebensvollzug mit Leib und Seele evoziert. Wenn der Mensch den Impulsen des Heiligen Geistes "folgt, entsteht Spiritualität als die konkrete geistgewirkte Gestalt seines Glaubenslebens im Sinne des paulinischen ‹aus dem Geiste (Jesu) leben› (Gal 5,25) (…). Die ‹Zeichen der Zeit› im Erleben der eigenen Geschichte werden im Licht überkommenen Glaubens gedeutet. Somit hat jede Spiritualität einen Zeit- und Traditionsbezug."3

Ab 1980 hat sich der Begriff Spiritualität zu einem säkularisierten Modebegriff entwickelt, der insbesondere im esoterischen Bereich eine "vagabundierende weder institutionell noch dogmatisch festgelegte Religiosität"4 bezeichnet. Spiritualität allgemein, d. h. nicht mehr allein auf den christlichen Kontext bezogen, lässt sich dann definieren als "Mentalität, die sinngebend die Tatsachenwelt übergreift (z. B. unter Bezug auf Gott, Sein, Buddha-Natur, Leere, Evolution, Network, Energie u. a.). Der Begriff wird sowohl abstrakt-systematisch wie konkret-lebenspraktisch gebraucht und auch auf kleinere Sinnbereiche angewandt".5 Der Transzendenzbezug wird nicht mehr unmittelbar als konstitutiv erachtet.

Mit dieser knappen begrifflichen Vergewisserung lässt sich feststellen, dass der Gebrauch des Begriffes immer die Rückfrage benötigt: Was ist im jeweiligen Kontext gemeint? Im Deutungskontext christlicher Religion, christlichen Glaubens und christlicher Kirchen ist Spiritualität immer an die Inhalte der christlichen Tradition zurückgebunden. Wenn ich diese im vorliegenden Text meine, spreche ich ausdrücklich von christlicher Spiritualität.

In anthropologischer Perspektive lässt sich ergänzen: Spiritualität gehört zum Menschsein. Der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow spricht von Spiritualität als einem Grundbedürfnis des Menschen. Seine erstmals 1943 veröffentlichte Bedürfnispyramide erweitert er 1970 um eine oberste Stufe, die Transzendenz, d. h. die Suche nach Gott, nach einer das individuelle Selbst überschreitenden Dimension oder nach etwas, das ausserhalb des beobachtbaren Systems liegt.6 Spiritualität bzw. Transzendenzbezug, um das Wort Maslows zu benutzen, haben also eine allgemein menschliche Bedeutung. Der hl. Augustinus (354–430) verbindet – in christlicher Tradition – dieses menschliche Grundbedürfnis Spiritualität mit dem Wort Sehnsucht, der im Menschen angelegten Ursehnsucht nach dem Göttlichen: "Ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir, o Herr" (Inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te, Domine., conf. I 1).

Spiritualität in Organisationen

Spiritualität spielt eine zentrale Rolle in kirchlichen Organisationen. Wie steht es mit anderen Organisationen? Eine Organisation lässt sich als "künstliches Gebilde, das die Zusammenarbeit von Menschen durch Strukturen regelt",7 bezeichnen. "Der ‹menschliche Faktor› spielt in sozialen Organisationen eine zentrale Rolle."8 Aus systemtheoretischer Perspektive ist somit grundsätzlich zu bejahen, dass Spiritualität im Sinne eines menschlichen Grundbedürfnisses Bestandteil jeder Organisation ist, da sie grundlegend zu seinen Subsystemen, den Kommunikationen der beteiligten Menschen, gehört.9 Insofern nehmen also die Mitarbeitenden mit ihrer Spiritualität Einfluss auf die Organisation. Die Spiritualität der Mitglieder ist eine mögliche Ressource des Systems, die genutzt werden kann oder nicht.

Ausgehend vom Konzept der Spiritualität als "Mentalität, die sinngebend die Tatsachenwelt übergreift",10 entdecken wir aber auch Elemente einer Spiritualität einer Organisation als Ganzes, insbesondere in deren Zweck, Zielen und Visionen. Im Kontext der Managementlehre definieren Kappeler und Mittenhuber Vision als "ein Fernziel, das das Fortkommen des Unternehmens sicherstellen soll".11 Sie weisen darauf hin, dass reine quantitative Ziele dies nicht leisten. Visionen hingegen geben Mitarbeitende eine konkrete Vorstellung der Zukunft und begeistern sie.12 In den Visionen einer Organisation zeigt sich ihre Sinnhaftigkeit und Kohärenz.

Das "Sechs-Felder-Modell" von Marvin Weisbord dient der Organisationsdiagnose. Weisbord beschreibt Organisation als einen Transformationsprozess, der einen gewissen Input erhält, um einen Output zu generieren, der einen "Mehrwert" zum Input darstellt. In dieser Transformation benennt er sechs voneinander zu unterscheidende Funktionsaspekte, die jedoch systemisch in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander stehen: "Ziele", "Beziehungen", "Leitung", "Anerkennung", "Arbeitsstruktur", "Technische Systeme". Die Veränderung eines dieser Funktionsaspekte führt zur Veränderung aller anderen und damit des ganzen Systems.13 Beim Durchgang durch die einzelnen Funktionsaspekte zeigt sich spirituelle Bedeutung nicht nur bei den Zielen.

Beziehungen zwischen Menschen sind nie rein funktional und weisen grundsätzlich über sich hinaus, haben einen transzendentalen und damit spirituellen Charakter. Dies gilt grundsätzlich auch für den Funktionsaspekt der Leitung, als einer speziellen Art der Beziehung, die in den letzten Jahren zunehmend auch mit Spiritualität verbunden wird.14 Das Vergelten von menschlicher Arbeitsleistung mit Geld ist in unserer heutigen Welt üblich, doch Geld als einzige Form der Anerkennung bleibt unzureichend, denn Arbeit ist für Menschen mehr als nur Gelderwerb. Anerkennung braucht also nicht nur eine materielle Form, sondern auch ideelle bzw. spirituelle Formen.

Schliesslich gilt: "Was wir sind, spricht mehr, als was wir sagen!" Dies bedeutet, dass auch die Aspekte "Arbeitsstruktur" und "Technische Systeme" nicht gleichgültig für die Spiritualität einer Organisation sind, bzw. ob eine Organisation als kohärent, glaubwürdig, kompetent usw. wahrgenommen wird von ihrer Umwelt.

Spiritualität liesse sich im Sinne einer Quintessenz meiner Überlegungen als etwas bezeichnen, das überall im System präsent ist: als das Verbindende der verschiedenen Aspekte, als der "Schmierstoff" zwischen den Subsystemen einer Organisation, als der gemeinsame Geist, die organisatorische Mentalität, sinnstiftend, verbindend und gleichzeitig das Hier und Jetzt transzendierend.

Nun kann eine Organisation "ihre Spiritualität" bewusst formulieren oder dies nicht tun. Analog zur Diagnose einer Organisation, die zwischen deren "formellem System" (Was wird gesagt? Was ist aufgeschrieben?) und deren "informellem System" (Was denkt man? Was sagt man hinter vorgehaltener Hand?) unterscheidet,15 liesse sich zwischen einer "formellen Spiritualität" und einer "informellen Spiritualität" unterscheiden. Diese Unterscheidung gilt auch für eine kirchliche bzw. weltanschauliche Organisation. Allein die Tatsache, dass man eine weltanschauliche Organisation bildet, führt noch nicht zu einer Klärung der Spiritualität.

 

1 www.managerseminare.de/ms_Artikel/Spiritualitaet-im-Business-Manager-auf-Abwegen (13. 1. 2011)

2 Vgl. Josef Sudbrack: Artikel Spiritualität I. Begriff, in: LThK3 Bd. 9, 852–853.

3 Bernhard Fraling: Spiritualität IV. Systematisch-theologisch, in: Ebd., 856.

4 Sudbrack (wie Anm. 2)., 853

5 Ebd.

6 Vgl. Abraham H. Maslow: Motivation und Persönlichkeit. Reinbeck 2002.

7 Wolfgang Kappeler / Regina Mittenhuber: Managementkonzepte. Bewährte Strategien für den Erfolg Ihres Unternehmens. Wiesbaden 2003, 265.

8 Eva-Renate Schmidt / Hans Georg Berg: Beraten mit Kontakt. Handbuch für Gemeinde und Organisationsberatung. Frankfurt 2004, 122.

9 In der neueren Systemtheorie wird nicht mehr der ganze Mensch als Teil einer Organisation gesehen, sondern lediglich seine Kommunikationen in der Organisation (vgl. Fritz B. Simon: Einführung in die systemische Organisationstheorie. Heidelberg 42013. 35). Die Spiritualität jedes Menschen nimmt jedoch auch Einfluss auf seine Kommunikationen.

10 Sudbrack (wie Anm. 2), 853.

11 Kappeler / Mittenhuber (wie Anm. 7), 374.

12 Vgl. ebd., 374 f.

13 Vgl. Schmidt / Berg (wie Anm. 8), 120–125.

14 Vgl. www.change.ch/aktuell/management/spiritualitt.html (13. 1. 2011)

15 Vgl. Schmidt / Berg (wie Anm. 8), 125.

Bernhard Lindner

Bernhard Lindner

Dr. Bernhard Lindner ist Fachmitarbeiter bei der Fachstelle Bildung und Propstei der Römisch-katholischen Kirche im Kanton Aargau. Er ist Theologe, Pädagoge, Supervisor und Organisationsberater BSO. Lindner sieht sich als kirchlicher Mitarbeiter selber «als spiritueller Mensch mit der Aufgabe von Organisationsberatung und Supervision in einem von Spiritualität geprägten Kontext».