Sich scheiden lassen oder nicht?

Ein (Buch-)Beitrag zur Bischofssynode vom Oktober 2015

Wenn eine Paarbeziehung in eine Krise gerät bzw. wenn der "Liebeskompass spinnt",1 sieht der Psychotherapeut und langjährige Leiter einer ökumenischen Eheberatungsstelle im Bistum Basel, Josef Lang, im Wesentlichen drei Möglichkeiten mit je verschiedenen Varianten: a) ausharren; b) sich scheiden lassen oder c) durchstarten bzw. neu beginnen.

Möglichkeit a) lebt von gemachten und gegenwärtigen positiven Erfahrungen in der Paarbeziehung, während die negativen in Kauf genommen werden. Man "bleibt auf dem bisherigen Kurs, auch wenn die Schlaglöcher spürbar und tiefer werden" (S. 7). Möglichkeit b) meint die Scheidung, die mehr als ein Drittel der Paare in Erwägung zieht, oft gefolgt von einer neuen Beziehung. Eine Scheidung wird beim Jawort anlässlich der Trauung nicht intendiert, und sie ist mit schmerzlichen Gefühlen, oft mit Trauer und Wut, verbunden. Dazu kommt, dass man sich selbst in eine weitere Beziehung mitnimmt: "you can’t escape your past" (172) (Abraham Lincoln). c), die dritte Möglichkeit, eine Paarkrise zu bewältigen, nennt der frühere Religionslehrer von Solothurn "Durchstarten". Darunter versteht er, dass beide Partner miteinander beschliessen, die Krise unaufgeregt anzuschauen und neu zu beginnen. "Sie schenken sich selbst und dem Partner/der Partnerin eine nächste Chance" (7).

Mehr als die Hälfte der Paare (in Deutschland und in der Schweiz) entscheidet sich für diesen Weg. Dazu braucht es "entwicklungsoffene Paare" (8), die lernbereit sind, fähig zur Selbstkorrektur und Versöhnung. In Treue bleiben sie auf dem Kurs ihres einstigen Jawortes. Allerdings kann auch diese Veränderung wehtun und Schmerzen verursachen. – Eine vierte Option, die "Trennung", arbeitet mit einer Bedenkzeit und mündet in der Regel in eine der drei Möglichkeiten a) – c) ein.

Die Scheidung

"Eine Scheidung kommt nicht plötzlich" (12). Sie fällt nicht vom Himmel, sondern ist das Resultat eines Prozesses monatelangen Ringens, wenn nicht jahrelangem Unbefriedigt-Sein. Selbst wenn andere Personen (z. B. Eltern, Schwiegereltern, Kinder, Liebhaber) ins Spiel kommen, die in Frage stehende Beziehung läuft zwischen den beiden Partnern ab. In der Schweiz haben Geschiedene eine durchschnittliche Ehezeit von über 14 Jahren miteinander verbracht (64): Das heisst, eine Scheidung wird nicht leichtfertig eingereicht. (siehe Bild)

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Scheidungsgründe

Fragt man nach den Gründen einer Scheidung, können je nach Fragerichtung verschiedene Antworten gegeben werden. Der erfahrene Autor legt folgende Liste (71) vor, der noch weitere Gründe mit weniger Prozentpunkten zugefügt werden könnten:

  • Die Partner haben sich auseinander gelebt: 37%
  • Ihre Kultur und ihre Charaktere sind zu different: 30%
  • Geben und Nehmen waren nicht ausgeglichen: 26%
  • Die Bedürfnisse nach Nähe und Freiraum waren verschieden: 26%
  • Eine gute Kommunikation ist nicht gelungen: 23%
  • Eine/r von beiden ist fremdgegangen: 21%
  • Wenig oder kein Sexualleben: 19%
  • Keine gemeinsamen Ziele: 17%
  • Es fehlte die gegenseitige Unterstützung: 16%
  • Eine/r von beiden hat sich in jemand anderen verliebt: 15%

Die Statistik lässt sich dahin interpretieren, dass das Interesse aneinander und die wechselseitige Kommunikation wichtiger sind als einzelne Events. Andere Frageraster dürften nach der beruflichen Einstellung fragen, dann wird die Alternative "Karriere oder Gemeinschaft" eine grosse Rolle spielen.

Die Option: Durchstarten und sich erneuern

Die Option des Autors für Lösungen in einer Beziehungskrise ist zugunsten der dritten Möglichkeit: Durchstarten und sich erneuern. Statt "Phobbing" (sich mit dem Handy in Anwesenheit der Partnerin zu beschäftigen) empfiehlt Josef Lang das wechselseitige Verstehen-Lernen als Form der Zuneigung. Dies impliziert eine neue Achtsamkeit für den Partner/ die Partnerin, oft eine Flurbereinigung, ferner die Bereitschaft, "um Verzeihung (zu) bitten und (zu) verzeihen, über den eigenen Schatten (zu) springen und sich (zu) versöhnen" (106). Insgesamt votiert er als Paartherapeut und Theologe für "Liebe" im Sinne von 1 Kor 13 als gute Option für Phasen der Krise: Barmherzigkeit statt Rache, Güte statt Härte, Wertschätzung statt Abwertung.2

Drei Merkmale erweisen das Buch als besonders wertvoll:

  • Die literarische Kunstfigur eines "Kobold", der die Funktion des "advocatus diaboli" wahrnimmt, der alternative Gedankengänge einbringt und die Selbstreflexion anregt;
  • Zwanzig ausführlich dargelegte "Wege der Entscheidung" (133–149) und "fünf Stimmen des Entscheidungsprozesses" (166 f.): Vernunft, Verstand, Gefühle, Phantasie und Erfahrungen;
  • ein Selbsttest, der die eigene Phase in einer Beziehungskrise bewusst macht, analysieren und nach Kriterien auswerten lässt (46-48).

Ich habe das spannend geschriebene und mit einprägsamen Bildern versehene Taschenbuch mit Interesse und Gewinn gelesen. Es ist allen zu empfehlen, die in der allgemeinen Seelsorge Verantwortung tragen und ihre Entscheidungskompetenz erhöhen möchten. Es ist gespeist von dreissigjähriger Erfahrung in der Paarberatung und zeigt auf, wie Beziehung "funktioniert."

Der Verfasser zieht folgendes Fazit zur Scheidungsproblematik durchaus vor christlichem Hintergrund: "Ein Rezept für Tage, an denen der Liebeskompass spinnt, gibt es nicht. Sich selbst und die zur Wahl stehenden Optionen zu kennen, wäre ein klärender Beginn. Die inneren Prozesse wahrzunehmen und zu kennen, der Vernunft also und der Intuition gleichermassen Vertrauen zu schenken, wären Folgeschritte. Das Wissen darum, dass das Leben täglich neue Situationen ausbreitet, die wir mit positiven oder negativen Vorzeichen ausstatten können, sowie Phasen von Entspannung trotz allem und ein Schuss Humor wären Magnete, die dem Kompass der Liebe eine sinnvolle Ausrichtung verschaffen könnten. Sicherer ist nur der Kompass, der Liebe heisst" (158).

1 Josef Lang: Wenn der Liebeskompass spinnt. Die Suche nach der stimmigen Beziehungsform. (Verlag uni-edition) Berlin 2015, 184 S.

2 Vgl. Josef Lang: Wertschätzen und Abwerten. Vitamin und Virus einer Paarbeziehung. (Verlag uni-edition) Berlin 2005, 236 S.

Stephan Leimgruber

Stephan Leimgruber

Dr. Stephan Leimgruber ist seit Februar 2014 Spiritual am Seminar St. Beat in Luzern und zuständig für die Theologinnen und Theologen in der Berufseinführung. Bis zu seiner Tätigkeit in Luzern war er Professor für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät in München.