Sich entscheiden – Identität formen

Tag für Tag stehen wir vor Entscheidungen. Sie formen unser Leben und prägen unsere Identität. Der Jesuit Alex Lefrank drückt es wie folgt aus: "Im Laufe seines Lebens wird der Mensch so immer ärmer an Möglichkeiten und reicher an Wirklichkeit. Nur so gewinnt er Identität …" Dieser Beitrag gilt dem besseren Verständnis der Entscheidungsfindung.1

Vor dem Kleiderschrank oder im Einkaufszentrum, in der Ausbildung, im Beruf oder in der Freizeit fordert uns ein vielfältiges "Angebot" heraus, uns zu entscheiden. Was mag ich, was wähle ich? Welchen Ausbildungsweg und Beruf wähle ich? Noch anspruchsvoller sind Entscheidungen in unseren Beziehungen: Welche Freundschaften sind gewachsen, welche sind es wert, vertieft zu werden? Welche Männer und Frauen wählen sich gegenseitig, um eine tragfähige Beziehung aufzubauen? Vielleicht beeinflussen dabei auch die Erwartungen meines näheren Umfeldes mein Verhalten. Welche Anregungen nehme ich von aussen wahr, und was will ich verwirklichen? Bei Entscheidungen geht es immer darum, in Freiheit und mit Freude, überlegt und verantwortungsvoll das zu wählen, was zu ganzheitlichem Wachstum als Persönlichkeit führt. Um dies besser tun zu können, sind einige Entscheidungskriterien in Erinnerung zu rufen.2

Ignatius von Loyola

Ignatius von Loyola hat im Laufe seines Lebens wichtige Entscheidungen getroffen und so zu einer neuen Identität gefunden. Er war ein Meister im Hören auf die innere Stimme und im Unterscheiden der verschiedenen Beweggründe. Bei einer Schlacht in Pamplona wurde nicht nur ein Bein des Basken zerschmettert, sondern auch seine Träume, Vorstellungen und die damit verbundenen Lebensziele. Ignatius kann uns im eigenen Suchen durch seine reflektierten Erfahrungen wertvolle Hinweise geben, wie wir besser auf unsere innere Stimme hören und unsere Beweggründe unterscheiden können. Seine Exerzitien sind geistliche Anleitungen zu einer guten Lebenswahl. Darin gibt er auch praktische Tipps zur Wahl: Etwa sollen wir weder in der Euphorie noch in Phasen der Frustration wichtige Entscheidungen fällen.3 Die folgenden Überlegungen zum Entscheiden gehen auf diesen Pilger und Wegsucher zurück.

Blick auf das Lebensziel

Welche Beweggründe, Motivationen und Ziele spielen bei Entscheidungssituationen eine Rolle? Aus christlicher Sicht besteht unser Lebenssinn darin, Gott, den Schöpfer zu lieben und seine Schöpfung, die Menschen und mich selbst wertzuschätzen. Jesus bringt dieses Ziel wie folgt auf den Punkt: "Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben." (Mt 6,33). Für wen gehen wir oder von wem lassen wir unser Leben in Dienst nehmen?

Die innere Freiheit – Träumen erlaubt

Mit Blick auf die Lebensziele suche ich jene guten Mittel, die mehr diesem Ziel dienen. Dabei benötige ich eine innere Freiheit, eine Offenheit gegenüber verschiedenen Optionen, mein Leben zu verwirklichen, und lasse träumend den Horizont weiten. Die unfruchtbare Haltung bestünde darin, stur zu sein, mit Scheuklappen etwas erreichen zu wollen und sich auf dieses Eine zu fixieren.

Um die geeigneten Mittel zu finden, benötige ich die Haltung der "Indifferenz", der Gleichmütigkeit. Dies bedeutet, innerlich für etwas oder gegenüber jemandem frei zu sein, und ist nicht gleichzusetzen mit "Gleichgültigkeit" oder "frei sein von allem". In einem zweiten Schritt überlege ich, welche Mittel mir mehr helfen und besser für mich sind, um mein Ziel zu erreichen.

Abwägen und unterscheiden

Um den geeigneten Weg zu wählen, kann ich auf eine tiefer liegende Sehnsucht achten, die es zu entdecken gilt und der ich vertrauen kann. Auch durch sie spricht Gott zu mir. Denn der Wille Gottes fällt in der Regel nicht vom Himmel, sondern zeigt sich in konkreten Vermittlungsgestalten. Worin besteht also meine tiefe Sehnsucht? Jesus stellt zwei Jüngern des Johannes, die ihm nachfolgen wollen, folgende Frage: "Wonach sucht ihr?" (Joh 1,38). Um die tiefe Sehnsucht zu erspüren, beobachte ich meine Gefühle, Gedanken sowie den Nachgeschmack bei Gedankengängen über einen bestimmten Weg: Fühle ich mich im Nachhinein trocken und missgestimmt, oder flackert eine Freude auf, die bleibt? Je nachdem kann es Sinn machen, mögliche Wege etwas zu erkunden – etwa bei einem Praktikum oder einem konkreten Einblick können wir überprüfen, ob unsere Vorstellungen sich mit der Realität decken und ob uns der "Stallgeruch" behagt.

Nebst meinem Gespür, meiner Sehnsucht im Herzen achte ich auf die Intuition, das Bauchgefühl aus der leiblichen Mitte und auf die Vernunft und versuche diese in Entscheidungssituationen zusammenspielen zu lassen. Das Gespräch mit einem Freund, einer Freundin oder einer anderen Vertrauensperson kann helfen, die eigenen Vorstellungen auszudrücken und so besser zu begreifen. Nebst der inneren Welt, meinen Gaben und Talenten, gibt es auch die äussere Welt, die Umstände: Wo ist heute in meiner Umgebung die Not am grössten? Wo soll und kann ich mit meinen Begabungen helfen? Mutter Teresa hat ihre Berufung auf diese Weise entdeckt; oft ist sie an den Slums von Kalkutta vorbeigefahren; dieses Elend der Armen hat sie betroffen gemacht, und sie hat sich gefragt, wie sie helfen könne – woraufhin sie die Schwesterngemeinschaft von Kalkutta gründete.

Zaudern, hin- und hergerissen sein

Manche wollen in Entscheidungssituationen mit dem Kopf durch die Wand rennen und lassen sich zu wenig Zeit, um gründlich zu überlegen. Andere wiederum fühlen sich hin- und hergerissen, schieben die Entscheidungen lange hinaus, zögern und zaudern. Gerade junge Menschen fühlen sich manchmal frei, wenn sie sich möglichst viele Optionen offenhalten. Ist dies nicht bloss eine Scheinfreiheit? Oder sind sie in Wirklichkeit noch an zu viele Optionen gebunden? Diese falsch verstandene Freiheit führt letztlich zu einem Verharren im Zweifel und zu einer Blockade. Angesichts der schier unendlichen Möglichkeiten an Alternativen weichen viele Menschen wichtigen Entscheidungen lieber aus, entscheiden nicht – was auch eine Entscheidung ist – oder spüren den Druck, Entscheidungen zu fällen. Entscheidungen ständig hinausschieben kann eine Flucht vor Verantwortung bedeuten. Gisbert Greshake beschreibt diese Haltung treffend wie folgt: "Viele, vor allem junge Menschen werden mit der Herausforderung ihrer Freiheit angesichts der unabsehbaren Wahlmöglichkeiten nicht fertig. Sie wissen nicht, wie und wohin sie sich orientieren sollen, und haben Angst, in allzu klaren und eindeutigen Entscheidungen für ‹dieses Bestimmte› andere Lebensdimensionen zu verpassen."4 Zu viele Optionen schaffen ein Durcheinander und helfen nicht weiter. Deshalb ist es besser, wenn wir uns auf zwei bis drei gute Optionen eingrenzen und diese genauer zu verstehen suchen.

Sich eingrenzen müssen

Die Haltung der Indifferenz, die mit einem schwebenden Gefühl verbunden ist, steht in Spannung zur Entscheidung durch Eingrenzung. Wie gelingt es uns, den richtigen Moment, den Kairos zu finden, wo wir die Freiheit und den schwebenden Zustand aufgeben und uns auf eine Sache oder auf eine Person eingrenzen müssen und dürfen? Um als Persönlichkeit zu wachsen, müssen wir uns auf Wesentliches eingrenzen. Mit dem Alter werden wir "ärmer an Möglichkeiten" (Lefrank). Leben ist also auch mit Loslassen und Sterben verbunden. Perfekte Entscheidungen gibt es nicht. Lassen wir uns deshalb durch Ängste vor Fehlentscheidungen blockieren, oder sind wir bereit, etwas zu entscheiden? Es gilt, freudig und vertrauend Entscheidungen zu wagen, ohne Angst vor Fehlentscheidungen. Das Gleichnis vom Schatz im Acker (Mt 13,44) finde ich sehr passend dazu: "Und in seiner Freude verkaufte er alles, was er besass, und kaufte den Acker." Jemand wirft sein ganzes Vermögen in die Waagschale, um diesen einen Acker mit dem Schatz zu kaufen. Den Schatz aus der vielleicht sumpfigen Erde herauszuheben, ist mit Arbeit verbunden. Aber die Freude am Schatz gibt die Kraft dazu.

Entscheiden setzt Vertrauen voraus

Bei den meisten Entscheidungen erfinden wir nicht etwas völlig Neues, sondern sie sind mit einer konkreten Wahl verbunden: Zwei Menschen, die so geschaffen sind, lieben und wählen sich. Indem ich mich auf eine Option einlasse, die für mich besser ist, schliesse ich andere aus, die auch gut sind. So kann ich als Person wachsen. Die Kraft zum Entscheiden setzt Vertrauen voraus: "Yes, you can". Dieses Vertrauen wächst auch im Gebet. "In diesen Tagen ging Jesus auf einen Berg, um zu beten. Und er verbrachte die ganze Nacht im Gebet zu Gott. Als es Tag wurde, rief er seine Jünger zu sich und wählte aus ihnen zwölf aus …" (Lk 6,12 f). Wie Jesus kann jede und jeder von uns in Tagen der Stille und des Gebetes Lebensentscheidungen vor Gott bringen und um sein klärendes Licht und um Vertrauen bitten.

Im Entscheiden übernehme ich durch gezieltes Wählen Verantwortung – mit dem Risiko verbunden, Fehler zu machen. Getroffene Entscheidungen muss ich in Krisensituationen überprüfen, um entschiedener dranzubleiben oder mich allenfalls neu zu orientieren.

Grosse Lebensentscheidungen betreffen den Kern der Person, unsere ganze Persönlichkeit, unsere einzigartige Individualität. Dabei benötigen wir Orientierungswissen, womit etwa die Philosophie und die Theologie sich beschäftigen. Entscheidungen betreffen uns umfassend; je grösser die Entscheidung, umso tiefer geht sie. Zusammenfassend können wir von den Lebenszielen her erspüren und reflektieren, welche guten Mittel uns dazu mehr helfen. Das Abwägen von zwei, drei guten Optionen ist erforderlich – es geschieht im besten Fall in der Verbindung, im Zusammenspiel von Intuition, Gespür und Vernunft. Die bleibende Freude ist dabei ein guter Ratgeber, nicht jedoch die Angst. Entscheiden ist mit Loslassen verbunden und setzt Vertrauen voraus. Im Wählen erfahren wir echte Freiheit und wachsen und reifen als Persönlichkeiten.

Sich entscheiden

Sich träumend verschiedene Wege eröffnen, die ansprechen und faszinieren.

Gute Alternativen bewahren vor Fixierung und erhalten die Freiheit.

Den schwebenden Zustand, viele Optionen offenzuhalten, dürfen wir geniessen.

Dauert er zu lange, wirkt er beklemmend, lähmend, ja verwirrend.

Sich eingrenzen bedeutet gute Optionen loslassen und ist wie ein Sterben.

Sich entscheiden erfordert Mut und Vertrauen und formt unsere Identität.

Andreas Schalbetter SJ

 

1 Vgl. Stefan Kiechle: Sich entscheiden, Ignatianische Impulse 2, Würzburg 72016, oder Hans Schaller: Wie finde ich meinen Weg? Eine christliche Lebenshilfe, Kevelaer 52015.

2 Zur hier nicht berücksichtigten gemeinsamen Entscheidungsfindung vgl. Bernhard Waldmüller: Gemeinsam entscheiden, Ignatianische Impulse 27, Würzburg 2008.

3 Vgl. Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Nach dem spanischen Urtext übersetzt von Peter Knauer, Würzburg 42006, 128.

4 Gisbert Greshake: Hören auf den Ruf und geistliches Unterscheiden, Würzburg 2012, 11.

Andreas Schallbetter SJ

Andreas Schalbetter

P. Andreas Schalbetter SJ ist kath. Hochschulseelsorger in Luzern und ausgebildeter Kommunikationsberater.