Selbstbespiegelung? - Nein: Rückspiegelung!

Zwischen Wissenschaft und Glauben

Wenn ein weltweit anerkannter Soziologe wie Franz-Xaver Kaufmann mit persönlichen Texten an die Öffentlichkeit tritt,1 kann man von vornherein nichts Sensationelles erwarten, denn seine Wissenschaft hat ihn gelehrt, auf alles zurückhaltend, wenn auch zupackend zuzugehen. Mehrfach hat man ihn um autobiographische Erläuterungen zu seinen Stellungnahmen gebeten, und oft drängten sie sich aus sachlichem Zusammenhang auf. Ohne alle Eitelkeit reflektiert (Reflexion: Rückspiegelung!) Kaufmann in seinen persönlichen Texten auf die Art, wie er mit Sachfragen umgegangen ist, und diese sorgfältige, aber direkte Art hat ihm grosse Hochachtung eingebracht. Was von seinem Beruf als Universitätslehrer zunächst im Vordergrund stand – Soziologie, Sozialpolitik, Sozialstaat – wurde mehr und mehr ergänzt durch kirchliches Engagement, und gerade diese Verbindung verleiht seinem Wort besonderes Gewicht. Hie und da geschieht es, dass in diesen zu verschiedenen Zeiten entstandenen Arbeiten sich eine Aussage überschneidet – das verdeutlicht nur die wichtigsten Anliegen. Wenn einmal ein Aufsatz grösste Aufmerksamkeit erheischt, so erleichtert das folgende Interview mit intelligenten Fragen den Zugang. Die unerlässlichen Daten zum Leben und zu Auszeichnungen (da ist die Bundesrepublik freigebiger als die Schweiz!) und zu Publikationen über ihn, v. a. aber die 139 – z. T. dankenswert ausführlichen – Anmerkungen sind im Anhang verzeichnet; sie bringen manche zusätzliche Bemerkungen. So steht z. B. (in Anm. 82), es seien «die Möglichkeiten einer empirischen Erfassung allgemeiner Charakteristiken des Menschen, die man als dessen unwandelbares Wesen deuten könnte, sehr beschränkt».

Der Weg

Mehrfach unterstreicht er seine Herkunft aus grundsatztreuer katholischer Familie in der zürcherischen Diaspora.2 Sie bildeten eine Vorzeigefamilie: alle akademisch gebildet, schon der Grossvater (Arzt), der Vater (Rechtsanwalt), die drei Söhne, wovon einer Hochschulrektor und Bundesrichter (der berühmte «OKK», dessen «kleiner Bruder» Franz-Xaver durchaus nicht sein wollte), der andere, Ludwig SJ, berühmt als Konzilsberichterstatter. Das Gymnasium verbrachte er zuerst in der Klosterschule Disentis, dann auf Wunsch der Mutter, die bald darauf sterben sollte, in Zürich, wo er am religionsneutralen Literar-Gymnasium der Kantonsschule maturierte. Rechts- und Wirtschaftswissenschaften studierte er in Zürich und St. Gallen, in Paris dann Soziologie. Geprägt hat ihn auch Hans Urs von Balthasar. Schon früh machte er sich mit der Philosophie des französischen Existenzialismus vertraut: Sartre, Camus, Marcel. Dem anglo-amerikanischen Kulturkreis näherte er sich erst später. Nach einem Abstecher in der Personalabeilung der Geigy AG in Basel geriet er mit 30 Jahren nach Deutschland, wo er mit den berühmtesten Soziologen in Kontakt kam und schliesslich an die erst noch zu eröffnende Universität Bielefeld berufen wurde, der er trotz Berufungen anderswohin bis zur Eremitierung treu blieb. Er ist dankbar für seine Ehe, hat zwei Söhne, pflegt weit verzweigte Bekanntschaften, forscht, lehrt und publiziert sehr fruchtbar.3 Seit Jahren lebt er in einer Altersresidenz in Bonn, reist aber noch und ist aktiv.

Aktiver Beobachter

Als Wissenschaftler wahrt er Abstand, möchte aber indirekt doch in die Wirklichkeit der Politik, Gesellschaft, Kirche eingreifen bzw. Änderungen anstossen und auslösen – denn was sich nicht ändert, erstarrt. Er kümmert sich intensiv um ganz konkrete Themen wie Gesundheit, Familie, Alter, Arbeitsmarkt, und seine Forschungen werden von den Politikern zur Kenntnis genommen. Er bleibt aber nicht bei der reinen Analyse, er ist überzeugt, dass das Gemeinwesen nicht ohne normative Begriffe wie Gerechtigkeit, Solidarität, Verantwortung, Gemeinwohl gedeihen kann. Schon als Gymnasiast, und erst recht im Kontakt mit seinem Bruder im Jesuitenorden, gewinnt er eine durchaus wohlwollende, aber kritische Einstellung zur Kirche. Für ihn ist Kirche nicht ohne das Korrektiv von Aufklärung hilfreich. So wie sie sich in zwei Jahrtausenden entwickelt hat bis zu ihrer monarchischen Aufgipfelung im Ersten Vatikanischen Konzil von 1870 kann sie nicht weiter gedeihen. Hier tauchen einige Überlegungen wieder auf, die er bereits in zwei früheren Werken gut begründet vorgelegt hat: «Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum? » (2011, 4. überarbeitete Auflage seit Erscheinen anno 2000) und «Kirche in der ambivalenten Moderne» (2012).4

Also immer das Gleiche? Vielleicht, aber jedesmal anders gesagt. Wer meint, die Mauern von Jericho seien schon beim ersten Trompetenstoss gefallen, täuscht sich: An sechs Tagen mussten die Israeliten je einmal die Stadt mit Posaunen- (oder Hörner-, Trompeten-)Stössen umrunden, am siebten Tag siebenmal, bis die Mauern endlich einstürzten. Die Geschichte ist tiefgründig wahr, auch wenn sie weder historisch noch archäologisch bezeugt ist. Kaufmann sieht im Zweiten Vatikanischen Konzil einen deutlichen Umbruch in der Kirche, v. a. hinsichtlich der Anerkennung der Religionsfreiheit. Die ständigen Versuche, darin nur Kontinuität zu sehen, entfernen sich von den eigentlichen Anliegen, v. a. wenn man das Konzil dauernd mit Hife der früheren, veralteten Denkkategorien interpretiert. Die Kirche in ihrer gegenwärtigen Struktur, wie sie 1870 festgeschrieben wurde und bis etwa 1960 unwandelbar schien, ist ein hinfälliges Modell geworden.

Was am Konzil 1962–1965 aufgebrochen ist, kann gar nicht in einer Generation verwirklicht werden. Das Konzil ist nicht ein kurzfristiges Ereignis, sondern ein langfristiger Prozess, der bei weitem noch nicht ans Ende gekommen ist. Das Verhältnis Papst–Kollegialität z. B. ist noch nicht bereinigt. Kaufmann befürchtet sogar, dass die Kirche in ihrer heutigen Gestalt für die Menschen bisweilen ein Hindernis sein kann, dem lebendigen Gott zu begegnen. Natürlich sieht er auch, welch gewaltige Hoffnung mit dem Erscheinen von Papst Franziskus aufgebrochen ist, aber es bestehen noch zu viele Fragezeichen, als dass man sich dabei schon beruhigen könnte.

Immer wieder bricht die tiefe Gläubigkeit von Kaufmann durch. Er kann nicht viel anfangen mit dem antiquierten «Naturrecht» und mit überhöhten Formeln zur Erfassung der Weltwirklichkeit, aber er sieht Gott wirksam in vielen Bereichen. Wer nicht glauben kann, den verweist er darauf, dass man Gott eben suchen muss. Gott ist der Unergründliche, dem man nicht mit ontologischen Gottesbeweisen beikommt. Kaufmann weiss um die Schwierigkeiten, den Glauben weiterzugeben; er kennt den Traditionsabbruch nur zu gut. Aber daran sind nicht einfach die lauen Eltern oder Priester schuld, das Problem ist viel zu komplex. Kaufmann selber spricht von den Mit-Glaubenden, die die stärkste Stütze sind. Die Kirchenverwaltung muss sich aller aufgeplusterten Sakralität entkleiden und insgesamt sich ihrer historischen und gesellschaftlichen Bedingtheit bewusst werden und darum vieles relativieren.

Anderseits stellt er in seiner Eigenschaft als nüchterner Soziologe fest, dass der Ablauf des Zweiten Vatikanischen Konzils nur erkärt werden kann durch den festen Glauben der Konzilsväter, an einem Werk mitbeteiligt zu sein, das im Wesentlichen der Heilige Geist schafft; dieser Glaube kann sehr wohl wissenschaftlich als Tatbestand festgestellt werden. Wenn man genau zusieht, steht Kaufmann nicht «zwischen Wissenschaft und Glauben», sondern gleich authentisch in beiden Bereichen, die sich nicht ausschliessen, sondern ergänzen.

1 Franz-Xaver Kaufmann: Zwischen Wissenschaft und Glauben. Persönliche Texte. (Herder) Freiburg-Basel- Wien 2014, 224 S.

2 Kaufmann hat auch einen Beitrag beigesteuert zum Buch: Zürich – Katholische Kirche in urbanem Kontext; vgl. meine Besprechung in: SKZ 182 (2014), Nr. 20, 281 f.

3 Vgl. meine vierspaltige Rezension über sein Werk «Soziologie und Sozialethik» unter dem Titel «Sanfter Titel – brisanter Inhalt» in SKZ 182 (2014), Nr. 12, 180.

4 Vgl. meine Rezensionen in: SKZ 179 (2011), Nr. 29–30, 491, und SKZ 180 (2012), Nr. 40, 785 f.

 

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).