Schweizerisches Staatskirchenrecht - Modell für Religionsrecht?

1. "Twin Towers" und "Charlie Hebdo" stellen Fragen

Das Entsetzen über die brutalen Terroranschläge zu Beginn dieses Jahres in Paris hat in unseren Ländern erneut eine Diskussionswelle über Presse- bzw. Meinungsfreiheit und eine Islamdebatte ausgelöst. Schon die Anschläge auf die Twin Towers (11. September 2001) hatten eine Debatte über Religion und Gewalt in Gang gesetzt.

Diffuse Angst und politische Hilflosigkeit breiten sich aus. In einer ersten Reaktionswelle in der medialen Öffentlichkeit kreiste die Diskussion vor allem um die Pressefreiheit im Blick auf die Satire und beissenden Spott. Satire ist oft eine unzimperliche Waffe. Das Prinzip der Meinungsfreiheit wurde indessen zu Recht massiv verteidigt. Aber dieser Wert hat auch seine Grenzen und gilt nicht exklusiv und allein, denn es geht um weitere Werte wie Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität, Menschenwürde … Wenn wir diese Weite der Werte heute nicht verteidigen, schützen uns die Werte morgen nicht mehr. Auch die Medienwelt ist keine heile Welt, sondern ein Kampffeld zwischen notwendiger Information und freier Meinungsbildung auf der einen Seite und einer medialen "Verblödungsindustrie" auf der anderen Seite. Es zeigte sich auch, dass die Empörung über die Geschehnisse in der gesellschaftlichen und kulturellen Nähe (Paris) unachtsam wurde gegenüber den schrecklichen Gräueltaten z. B. von Boko Haram in Nigeria oder der Taliban in Peshawar, wo 130 Schulkinder massakriert wurden.

Inzwischen gehen die Meinungsgefechte stärker um die Angst vor dem Islam.1 Die Pegida- Veranstaltungen demonstrieren eine Stimmung gegen den Islam und gegen die jüdische Bevölkerung. Darin liegen u. a. grosse Herausforderungen, die in Zukunft viel kulturellen Brückenbau erfordern und noch schwere Auseinandersetzungen ankündigen. Eine erste Vorsicht ist geboten, wenn der Islam pauschal mit Terror verbunden wird und wenn man übersieht, dass die grosse Mehrheit der islamischen Mitbürgerinnen und Mitbürger die Sorgen und Anliegen mit der Bevölkerungsmehrheit teilt. Wenn Terroristen sich des religiösen Wortschatzes bedienen, heisst das noch lange nicht, dass sie religiös sind. Dahinter kann eine perfide Taktik des Terrorismus stecken. Zu übersehen sind aber auch nicht wirtschaftliche Notlagen, ein ramponiertes Selbstwertgefühl, die gesellschaftliche Ab- und Ausgeschlossenheit, Migrationshintergrund, Herkunft aus einer Stammesgemeinschaft und Aufprall mit den modernen Zivilgesellschaften, also eine gescheiterte Integration. Und Frust nährt Gewalt. Das ist eine Herausforderung an unsere westliche Gesellschaft, aber auch eine kulturelle und religiöse Herausforderung an die Muslime in unseren Ländern. Insofern ist die Islamdebatte kein nur religiöses Thema, sondern ein politisches Ereignis.

Die Frage geht dahin, warum sich die islamischen Gewalttaten gerade in Frankreich häufen,2 was sich natürlich auch wieder schnell ändern kann. Der Schweizer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan spricht von einer "permanenten Stigmatisierung von Muslimen in Frankreich", die es in dieser Form in keinem anderen europäischen Land gebe.3

2. Spannung zwischen Laizismus und Laizität

Es gibt für diese Situation ohne Zweifel viele Ursachen und Hintergründe. Sie alle sind zu beachten. Mich erstaunt nur, dass das Modell des Laizismus in diesem Kontext kaum diskutiert wird. Könnte es nicht sein, dass eine strikte Ideologie des Laizismus gerade das Aussenseitertum der religiösen Welt und deren Rückzug aus der Öffentlichkeit fördert? Man schafft soziale Ghettos und überlässt jene "am Rande" sich selber. Man wird in private Ecken abgedrängt. Und Isolation führt leicht in Sackgassen. Oft wollen dann junge Leute durch heldische Taten ihrer Existenz jene Bedeutung verleihen, die sie so schmerzlich vermissen. Ist in dieser Situation der Laizismus ein hilfreicher Weg zur Problemlösung oder zu seinen Anteilen Problem-Ursache? Er stammt geistesgeschichtlich – und zwar mit einer antiklerikalen Spitze – aus dem 19. Jahrhundert. Zum Teil wird er geradezu ideologisch überhöht. Er verweigert den Kirchen jede öffentliche Einflussnahme. Im Unterschied dazu ist Laizität, die Trennung zwischen Staat und Kirche, die nicht bestritten wird.

Es ist nun interessant, dass in den deutschsprachigen Ländern der öffentliche Status der Mus- lime diskutiert wird, und zwar mit Befüwortern und massiver Ablehnung auf beiden Seiten. Vor Jahren schon hat Farhad Afshar, Präsident der Koordination Islamischer Organisatinen Schweiz, bei einer Podiumsdiskussion an der Universität Freiburg i. Ü. diese Frage deponiert. Im Moment bringt man das Modell eines gemeinnützigen Vereins zur Sprache oder die "kleine" öffentliche Anerkennung. Diese Wege gingen allerdings über die einzelnen Kantone.

Auch wenn der Vorschlag als im Moment politisch unrealistisch erscheinen mag, so ist doch die Frage zu stellen, ob unser staatskirchenrechtliches Gewand nicht Elemente eines Religionsrechts enthält, die man nicht nur hierzulande, sondern über unsere Landesgrenzen hinaus genauer prüfen sollte.4

Näherhin geht es um die Möglichkeit einer öffentlich-rechtlichen Anerkennung freikirchlicher, islamischer oder anderer religiöser Gemeinschaften. Birgt das schweizerische Staatskirchenrecht Elemente für ein religionsrechtliches Modell?

3. Ergebnis einer langen Geschichte

3.1 Ein System gerät in Diskussion

Wer sich über unser staatskirchenrechtliches System äussert, setzt sich der Gefahr aus, mehr Verwirrung zu stiften, als Klärung zu bewirken.5 Selbst Insider dürften einige Mühe bekunden, einen klaren Überblick zu bewahren. Dies hängt mit der Vielfalt der Modelle in einem äusserst föderalistischen Staatswesen zusammen.

Unser staatskirchenrechtliches Gewand mit seiner demokratischen Struktur, mit Pfarrwahlrechten usw. ist im katholischen Ausland kaum zu vermitteln. Als ich zur Zeit der Würzburger Synode (1972–1975) dem damaligen Bischof von Münster von Pfarrwahlen in den katholischen Pfarreien der Schweiz erzählte, reagierte er empört: "Dann sind sie ja alle häretisch." – Zur Zeit der Konflikte um Bischof Wolfgang Haas hatte ich für den englischen "Tablet" einen Hintergrundartikel zu schreiben. Das staatskirchenrechtliche System war fast nicht zu übersetzen; es fehlt die vergleichbare Realität mit ihrer Begrifflichkeit. Auf alle Fälle liess mir die damalige Generaloberin der Baldegger Schwestern ausrichten, dass sie in Pakistan einem Erzbischof begegnet sei, der den Tabletartikel gelesen hatte und sich sehr beunruhigt geäussert habe, ob wir in der Schweiz noch katholisch seien. Und so könnte man zahlreiche weitere Anekdoten erzählen. – Es zeigt sich nur, dass dadurch auch Misstöne zwischen der römischen Kirchenleitung und der "eigensinnigen" Kirche eidgenössischer Prägung verursacht werden können.

3.2 Zivile Rahmenbedingungen

Um das staatskirchenrechtliche Gewand in der Schweiz verstehen zu können, ist auf die zivilen Bedingungen hinzuweisen. Die Kantone sind "souveräne " Einzelstaaten, die den Bundesstaat bilden. Die rund 3000 Gemeinden bilden kleine "Republiken" im Bereich jener Autonomie, die durch die kantonalen Verfassungen umschrieben und gewährleistet ist. Dahinter steht eine starke basisdemokratische und genossenschaftliche Überlieferung. Ein solch föderatives System lebt radikal-wurzelhaft von unten. Man identifizierte sich früher zuerst mit der Gemeinde und dem Kanton. Dieser Hintergrund prägt nun die stark basiskirchliche Ausrichtung der Schweizer Kirche(n) mit einem ausgesprochenen Gewicht der Pfarreiebene und im Vergleich zu anderen Ländern mit einer schwächeren Position der Bistümer. Die historischen Wurzeln gehen bis ins 9. Jahrhundert auf Genossenschaften und Patronatsrechte zurück und nicht nur ins 19. Jahrhundert, wie von bestimmter Seite wahrheitswidrig suggeriert wird.

Zwei Merkmale des schweizerischen Staatskirchenrechts sind zu nennen:

Mit der öffentlich-rechtlichen Anerkennung werden die Mitglieder einer bestimmten Konfession zu einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zusammengefasst. Diese Körperschaften sind territorial gegliedert in Kirchgemeinden, z. T. in Kirchgemeindeverbände (in grösseren Städten wie z. B. Zürich) oder in kantonale bzw. landeskirchliche Verbände. Die Grundlage von Landeskirchen wie Kirchgemeinden ist somit staatlich, ihr Zweck ist indes kirchlich.

Alle Kantone haben als Ausfluss der bundesrechtlichen Garantie der Glaubens- und Gewissensfreiheit einen inneren Bereich offengelassen. In diesen mischt sich der Staat grundsätzlich nicht ein. Er umfasst in jedem Fall die Fragen der kirchlichen Lehre, des Gottesdienstes und der Seelsorge sowie der Caritas und Diakonie.

In den sog. äusseren Belangen der Kirchgemeinden und der kantonalen Landeskirchen wie Organisation im Einzelnen, Verwaltung, Finanzen, teils Ordnung des Ämterwesens (z. B. Pfarrwahl) sind kantonale Vorgaben und Rahmenbedingungen zu beachten.

Grundsätzlich liegt die Funktion der staatskirchenrechtlichen Einrichtung darin, die wirtschaftlichen bzw. vermögensrechtlichen Voraussetzungen dafür zu sichern, dass das kirchliche Leben personell, räumlich (Gebäude) und finanziell spielen kann. Für die Sendung und den Dienst der Kirche selber ist die pastoral handelnde kanonische Kirche zuständig und verantwortlich. Formal handelt es sich somit um ein duales oder zweipoliges System. Das staatskirchenrechtliche System macht nicht den gläubigen Kern der Kirche aus; es ist auxiliarer Natur. So ist es kein Recht im Sinne einer Staatskirche, sondern letztlich ein Modell der Entflechtung von Kirche und Staat.

3.3 Staatskirchenrecht und kirchliches Recht

Dieses staatskirchenrechtliche System, das ja für die drei Landeskirchen und für jüdische Kultusgemeinschaften Anwendung findet, reibt sich besonders mit Vorgaben des kanonischen Rechts der römisch-katholischen Kirche. Das kanonische Recht bewegt sich von oben nach unten – umgekehrt das schweizerische Staatskirchenrecht. Für beide Seiten bedeutet dies "Gegenverkehr". Aber das helvetische System mit seinen fundamentalen Prinzipien der Mitsprache, der Transparenz der Entscheidungen – auch bei Konflikten und Beschwerden, der Dezentralisierung, des Subsidiaritätsprinzips (Verlagerung der möglichen Problemlösung nach unten) und der Gleichberechtigung ist diesbezüglich dem Kirchenrecht aus dem Jahre 1983 meilenweit voraus. In dem Sinn erfüllt es einige Grundsätze der katholischen Soziallehre weit mehr als das kanonische Recht selber.

3.4 Dringlichkeit eines allgemeinen Religionsrechts

Wer nur ein wenig die weltweite Öffentlichkeit beobachtet, dem wird schnell deutlich, dass die Werteorientierung und die grosse Politik nicht verstanden werden können ohne den Faktor Religion. – Eine Rolle mag auch spielen, dass der Alltag der Menschen ohne Religion und Solidarität kälter und trostloser wird in einer Gesellschaft, in der alles bis ins Detail geregelt erscheint. Die Gesellschaft mit ihrer medialen Virtualität scheint zuweilen an Grenzen ihrer Selbstorganisation zu gelangen. So bedarf der Staat gesellschaftlicher Kräfte wie der Kirchen und Religionsgemeinschaften, die neben ihrer sozialen, karitativen und kulturellen Tätigkeiten auch die Aufgabe der Wertevermittlung wahrnehmen. "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht selber garantieren kann", so der deutsche Verfassungsjurist E.-W. Böckenförde. Es geht um die Rolle von Religion in unserer Gesellschaft und unter modernen Bedingungen

Eine Rolle dabei spielt auch die Sorge, dass die Vielfalt von Religionen Konflikte verschärfe. Viele verbinden damit die schrecklichen Ereignisse vom 11. September 2001 und die religiös verbrämten Terroranschläge. Der Staat müsste somit ein eigenes Interesse an einem System für die Religionen haben, das öffentliche Transparenz garantiert und gleichzeitig die Freiheit religiöser Orientierung positiv schützt, ohne selber Religionsersatz zu werden. In diesem Sinn beherbergt das schweizerische Staatskirchenrecht Elemente und Prinzipien, die über die schweizerischen Grenzen hinaus Beachtung verdienen dürften. Leider ist es auch in der Zunft der Theologinnen und Theologen bis heute kaum gelungen, diesem Anliegen länderübergreifend eine Stimme zu verleihen. Dabei haben die Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils hierzulande zu einer pastoralen Vermischung der kanonischen und der staatskirchenrechtlichen Ebene geführt.

4. Langer Atem auf einem weiten Weg

Mit Daniel Kosch, René Pahud de Mortanges und mit Quirin Weber u. a. teile ich das Anliegen einer öffentlich- rechtlichen Anerkennung der muslimischen Gemeinschaft und eines Eintretens für zielorientierte und besonnene Schritte für das gemeinsame Anliegen. Bewegen müssen sich beide Seiten. Dies wird alles andere als leicht sein, aber unverzichtbar, wenn ein gedeihliches Neben- oder Miteinander erreicht werden soll. Dies braucht Zeit und die Überwindung schwerfälliger Mentalitäten. Aber auch die römisch-katholische Kirche unseres Landes musste weit über 100 Jahre warten, bis die feindlichen Artikel des Kulturkampfes im 19. Jahrhundert (gegen Klöster und Orden, die Bistumseinteilung …) verschwanden.

Alles, was Brücken und Wege heute zueinander baut, ist somit entschieden an die Hand zu nehmen: Dialogforen, Zentrum für Islam und Gesellschaft an der Universität Freiburg i. Ü., Religionsunterricht, Gefängnis- und Krankenhaus-Seelsorge, Weltethos (Hans Küng) und das grossartige "Haus der Religionen" als gesellschaftspolitisches Friedensprojekt in Bern usw.

Je mehr die moderne Zivilgesellschaft Minderheiten pauschal ablehnt oder aus der politischen Öffentlichkeit verbannt, desto mehr werden sich manche Betroffene in der eigenen Welt "einigeln" und dort ihr Wesen und Unwesen treiben. Dies wäre konfliktanfällig. Auf der anderen Seite könnten die Erfahrungen einer guten "Nachbarschaft" auf der Basis eines Religionsrechts, das den Kirchen und verschiedenen Religionen die Selbstorganisation mitermöglicht und damit Öffentlichkeit und Kontrollen gewährt, Impulse in jene Länder senden, in denen Christen heute noch ihres Glaubens wegen verfolgt werden. Das wird von der sonst so beflissenen Medienwelt wenig thematisiert. Es geht weltweit um Humanität als Vision und als praktische Politik. Der Weg ist zu wagen, Brücken sind zu bauen und Fremdheit ist auszuhalten, auch wenn die strukturelle Erfüllung des Anliegens politisch zurzeit wenig Chancen hat. Es geht um kleine Schritte grosser Optionen. Eine humanere Chance ist nicht absehbar.

 

1 Vgl. Erich Gujer: Religion und Gewalt, in: NZZ, 17. Januar 2015, 23.

2 Vgl. Claudia Monde: Hat Hass eine Religion?, in: Publik-Forum 2, 30. Januar 2015, 26–28.

3 Ebd., 27.

4 Nach Paris: Schlägt jetzt die Stunde der Anerkennung der Muslime?, in: kath.ch, News, 13. Januar 2015, 2.

5 Vgl. Leo Karrer: Katholische Kirche Schweiz. Der schwierige Weg in die Zukunft. Fribourg 1991, 362–377; ders.: Schweiz und Rom reiben sich. Staatskirchenrechtliches System in der Schweiz — Modell für Religionsrecht?, in: Kanisius- Stimmen 4/2010, 25.

Leo Karrer

Leo Karrer

Leo Karrer studierte Philosophie, Theologie und Psychologie in Wien, Chicago, München und Münster (Promotion 1967, Habilitation 1976). Er war u. a. Assistent von Karl Rahner, Referent für Pastoralassistenten im Bistum Münster und Bischöflicher Personalassistent im Bistum Basel. Von 1982 bis 2008 war er Professor für Pastoraltheologie an der Universität Freiburg im Üechtland