Nicht ohne die Erfahrungen der Menschen

Was beabsichtigt Papst Franziskus mit dieser oder jener Äusserung? Was wird er tun? In welche Richtung wird er die nächste Bischofssynode lenken? Ist ihm dies oder jenes bewusst? Solche Fragen werden in Gesprächen und Medienbeiträgen hin und her bewegt. Verständlicherweise, doch abgesehen davon, dass manches an Kaffeesatzleserei grenzt, macht sich hier eine bedenkliche Fixierung auf den Papst bemerkbar. Es ist, als sei man gespannt, ob Papst Franziskus wohl der "ideale" Papst ohne jegliche Begrenzung der Kultur, der Generation oder des Milieus ist. Entsprechend fallen die Enttäuschungen aus, wenn (aus der je eigenen Perspektive) diese oder jene Formulierung des Papstes unglücklich ist,1 in seiner kräftigen Sprache ein Bild etwas gewagt ausgefallen ist oder sich einseitig wirkende Einschätzungen geltend machen. Je nachdem wird dann auch schon pessimistisch prophezeit, dass dieser Papst zwar sympathisch ist, aber keine substantiellen Reformen anstossen wird.

Der Papst und die anderen Akteure

Natürlich ist Papst Franziskus – wie jede und jeder von uns – ein begrenzter Mensch mit begrenzten Perspektiven. Es wäre Vergötzung, von einem Papst anderes zu erwarten. Eben deswegen weist niemand anders als er selbst die Meinung zurück, "dass man vom päpstlichen Lehramt eine endgültige oder vollständige Aussage zu allen Fragen erwarten muss, welche die Kirche und die Welt betreffen" (Evangelii Gaudium Nr. 16). Umso wichtiger ist es, dass die diversen Akteure in der Kirche sich auf ihre Verantwortung besinnen, um konstruktiv daran mitzuwirken, dass die Kirche als ganze möglichst weite Perspektiven gewinnt, also möglichst katholisch ist. Wünschenswert wäre es insbesondere, wenn jene Akteure, die über "relativ mehr" Einfluss verfügen, sich ermächtigend für eine noch grössere Pluralität von Akteuren einsetzen würden. Dies gilt im Blick auf den Glaubenssinn, mit dem alle Gläubigen zur Wahrheitsfindung in der Kirche beitragen; es gilt ebenso im Blick auf die Theologinnen und Theologen, deren Stimmen kaum gehört werden. Auch in den sich abzeichnenden Reformansätzen fällt die Theologie noch kaum ins Gewicht. Das Beziehungsgeflecht, in dem diese Autoritäten Bedeutung für das Ganze der Kirche gewinnen könnten, ist verkümmert und bedürfte einer Entwicklung – die wiederum der Papst nicht allein leisten kann.

Autorität im Singular und im Plural

In einer Reflexion auf Autorität unterscheidet Michel de Certeau "zwischen der Autorität, die sich im Singular dekliniert (indem sie sich als die einzige ausgibt), und den Autoritäten im Plural, die aufeinander verweisen. Erstere verschliesst eine Gruppe oder ein Wissen in sich selbst; die letzteren ‹erlauben› anderes".

Die Autorität im Singular läuft Gefahr, dass sie "sich für den lieben Gott hält" oder ihn "in eine befestigte Stadt" einsperrt. Hingegen "rückt eine Autorität auf ihren wahren Platz, wenn sie sich als einen der Termini einer pluralen Verbindung erkennt. Dann verknüpft sie sich mit anderen. So manifestiert sie, dass sie nicht ohne andere ist, und diese notwendige Beziehung bezeichnet bereits ihre Rolle in der kommunitären Struktur der Kirche".2

Nachdrücklich unterstreicht der französische Jesuit Michel de Certeau (1925–1986), von dem es heisst, dass Papst Franziskus ihn schätzt: "Die christliche Sprache hat eine kommunitäre Struktur und kann nur eine solche haben."3

Dafür, dass es in der katholischen Kirche Autoritäten im Plural gibt, ist im Gefolge der Geschichte der Zentralisierung der Kirchenleitung zwar auch die päpstliche Autorität verantwortlich. Um Certeaus Sprache zu verwenden: Sie muss "bei der Bestimmung ihres eigenen Platzes anderen (…) erlauben, dass sie sich ausdrücken"4 (was nicht immer in der wünschenswerten Weise geschah). Wenn sie dies tut – und im gegenwärtigen Pontifikat werden zahlreiche entsprechende Signale gegeben –, ist sie darauf angewiesen, dass andere Autoritäten sich einbringen und nicht nur abwartend auf die päpstliche Autorität schauen und beobachtend deren "Vollkommenheit" taxieren.

Die Vielfalt von Autoritäten und die Bischofssynode

Dabei ist mit den Autoritäten die Vielfalt der Zeugen und Zeuginnen gemeint, die in unterschiedlichen Rollen ihre unterschiedlichen Erkenntnisse und Erfahrungen einbringen. Diese Beiträge sind jeweils partiell und fragmentarisch, aber dadurch, dass sie in Beziehung zueinander treten, eröffnet sich der Raum, in dem der Weg des Glaubens erkennbar wird. "Eine Verbindung der Autoritäten miteinander lässt den Sinn jeder einzelnen deutlich werden und macht gleichzeitig einen Kreislauf sichtbar. Sie ermöglicht eine Gemeinschaft in dem Masse, in dem jeder Terminus [gemeint ist: jede Autorität] anderen Platz lässt, ohne sich selbst zu verleugnen."5

Es gibt Anlass zur Konkretion: Auf Wunsch von Papst Franziskus soll die Zeit bis zur Synode im Herbst 2015 "wiederum weltweit genutzt werden, um in der Kirche mit möglichst vielen Menschen nach Antworten zu suchen". Darum ermutigen die Schweizer Bischöfe "alle Gläubigen, Seelsorgenden und Engagierten, den synodalen Prozess in der Schweiz fortzuführen und über die offenen Fragen miteinander ins Gespräch zu kommen".6 Es wird dann Aufgabe nicht zuletzt der Bischöfe sein, dafür zu sorgen, dass der Ertrag dieses Gespräches in die Synode eingebracht wird, damit die Vielfalt der Autoritäten auch im Rahmen einer Synode von Bischöfen sichtbar wird.

Es ist zu wünschen, dass viele Menschen die Autorität ihrer Einsichten und Erfahrungen einbringen. Nicht ein lethargisches Abwarten dessen, was da vielleicht herauskommen könnte und ob Papst Franziskus dies oder jenes tun wird, ist angesagt. Im Denken Certeaus spielt die doppelte Negation "nicht ohne" eine grosse Rolle.7 Die Glaubenden bekennen im Glauben, dass sie nicht ohne Gott sein wollen, aber auch, dass sie nicht ohne einander, ja, nicht einmal ohne die Menschen, die nicht zur Kirche gehören, auskommen. Die Bischofssynode will nicht ohne die Erfahrungen der Menschen auskommen. Wer immer heraushört: "Nicht ohne mich", ist nun gefragt.

 _____________________________________________________________________

"Moraldoktrin oder Moral der Wahrnehmung ‹im Kontext der Evangelisierung›?"

Konrad Hilpert, emeritierter Professor für Moraltheologie an der Universität München, benannte bereits im vergangenen Sommer, noch vor Beginn der ausserordentlichen Bischofssynode, zentrale Aufgaben und Klippen zum Thema "Pastorale Herausforderungen der Familie im Rahmen der Evangelisierung" (in: Stimmen der Zeit 232 [2014], Heft 7, 448–457). Die Fragen der vorgängigen Umfrage seien durch "eine ungebrochene binnenkirchliche Perspektive" geprägt, während gewisse Fragen, etwa nach allfälligen negativen Wirkungen bisheriger Verkündigung, ausgelassen werden. Die durch die Umfrage ermittelten Befunde erwiesen sich als niederschmetternd, sodass gemäss Hilpert "nur die Alternative bleibt, neue und gründliche Anstrengungen zu unternehmen, um sie aufzuarbeiten oder sie komplett als Ausdruck eines moralischen Werte- und Sittenverfalls oder gar von Böswilligkeit zu verurteilen" (ebd., 452). Hilpert erwartet nicht eine grundlegende Revision der kirchlichen Sexuallehre, hofft aber auf neue Impulse und Gewichtungen – gegen eine abstrakte Verteidigung der "Lehrkontinuität". Die notwendige moraltheologische Vor- und Zuarbeit sei dafür längst geleistet worden. (ufw)

 

1 Ich habe diesen Artikel Ende Januar geschrieben. Die Aussage des Papstes zur Frage körperlicher Züchtigung am 4. Februar 2015 enthält zwar nicht all das, was in sie hineingelegt wurde, ist aber gleichwohl nicht nur unglücklich, sondern äusserst fragwürdig. Umso mehr gilt: Es braucht in der Kirche auch sich gegenseitig kritisierende Akteure und Autoritäten.

2 Michel de Certeau: GlaubensSchwachheit. Stuttgart 2009, 110 f.

3 Ebd.,178.

4 Ebd., 113.

5 Ebd., 111.

6 Siehe den Aufruf der Schweizer Bischofskonferenz zur Teilnahme am Synodenprozess 2015, in: SKZ 183 (2015), Nr. 5–6, 68.

7 Vgl. de Certeau, Glaubens- Schwachheit (wie Anm. 2), 103, 177.

Eva-Maria Faber

Eva-Maria Faber

Prof. Dr. Eva-Maria Faber ist Ordentliche Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Theologischen Hochschule Chur