Schutzkonzepte für kirchliche Einrichtungen

Das Thema bewegt weiter. Missbräuchen in Institutionen zuvorzukommen, braucht neue Strategien und selbstredend das Gespräch darüber. Nachdem bereits der Blick auf Missstände und deren Entstehung unter anderen Vorzeichen – wie pädagogisch problematischer Haltungen – gelenkt wurde, eröffnen wir hier die Reihe zur «Missbrauchsprävention». Dabei werden die nötigen Strategien und präventiven Massnahmen im missbrauchgefährdeten Arbeitsfeld von kirchlichen und anderen Institutionen näher unter die Lupe genommen. Das Thema bleibt anspruchsvoll.

«Prävention von Grenzverletzungen in Seelsorge, Beratung und Kirchen». Zu diesem Thema führte die Theologische Fakultät Bern im Mai 2014 eine Tagung durch. Hintergrund bildeten die zahlreichen Vorfälle der letzten Jahre und aktuelle Bemühungen zur Entwicklung nachhaltiger Schutzkonzepte. Man will den Problemen und Fakten nicht ausweichen und wahrnehmen, dass Institutionen als Hochrisikobereiche für Übergriffe gelten. Darum wird die vormals täterzentrierte Sichtweise ergänzt durch die Sicht auf die Dynamik Opfer-Täter-Institution und die Bedingungen für die Entstehung von Gewalt mitberücksichtigt. Umgekehrt sind auch Mitarbeitende im kirchlichen Alltag Gewalt in verschiedenen Formen ausgesetzt. Es gilt daher die Problematik in ihrer ganzen Dimension zu verstehen. Präventive Strategien umfassen ein Bündel von Massnahmen, die erst in ihrem Zusammenwirken den gewünschten Erfolg zeigen. Die Kirche steht in der Garantenpflicht für diejenigen Werte, die sie vertritt – sie kann dafür belangt werden, wenn sie nicht die erforderlichen Schutzkonzepte umsetzt.

Bisher richtete sich der öffentliche Diskurs in Zusammenhang mit sexualisierten Delikten in kirchlichen Einrichtungen in erster Linie auf Kinder und Jugendliche. Die weitaus häufigeren Übergriffe gegenüber erwachsenen Gläubigen und Schutzbefohlenen in Einrichtungen wurden kaum beachtet. Weltweit sind jedoch die Kirchen wichtige Träger von Einrichtungen für kranke und behinderte Menschen, für Heime, pädagogische Einrichtungen, den Freizeitbereich sowie die Allgemein-Seelsorge. Institutionen gelten als Hochrisikobereiche für Übergriffe, daher überrascht es nicht, dass die Entwicklung von nachhaltigen Schutzkonzepten ein vordringliches Anliegen geworden ist. Massgebend sind einmal mehr die ökonomischen Konsequenzen als Folge von Unterlassungen in diesem Bereich. Allein in den USA musste die katholische Kirche bisher weit über 2 Milliarden Dollar Schadenersatz im Zusammenhang mit Missbräuchen leisten; einzelne Diözesen kamen an den Rand der Zahlungsunfähigkeit und gingen in Konkurs. In Europa hat sich die Situation in den letzten Jahren in ähnliche Richtung bewegt, am deutlichsten in Irland und auch in Deutschland, wo 2010 Stephan Ackermann zum Beauftragten der Bischöfe für die Missbrauchsbelange ernannt wurde.

Ob den Aussagen der Opfer Glauben geschenkt wird oder nicht, ist eine Entscheidung, die jede Person für sich treffen muss. Zahlreiche Opfer berichten tatsächlich Unglaubliches. Gemäss den Ergebnissen des John-Jay-Reportes in USA haben über 50 Prozent der Opfer von Übergriffen durch katholische Geistliche mehr als 20 Jahre benötigt, bis sie jemandem etwas über die Vorfälle erzählt haben. Mit Verjährungsfristen von 10 Jahren schützt der Staat wissentlich die Mehrheit der Täter vor Strafverfolgung.

Das Erzbistum Köln ist am Entwickeln eines viel beachteten Modellprojektes zur Implementierung eines Schutzkonzeptes in Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie der Betreuung von Kranken und Betagten. Dieses Erzbistum ist selbst Träger von gegen 300 Einrichtungen und ging daran, auf Leitungsebene die erforderlichen Entscheidungshilfen bereitzustellen.

Stimme der Opfer

Warum werden die Stimmen der Opfer nicht gehört? Weil ihre Aussagen so verstörend sind? Weil es unsere Auffassungen tiefgreifend erschüttert? Oder ist es so, wie Pater Klaus Mertes, ehemaliger Leiter des Canisius-Kollegs von Berlin, formuliert hat: «Warum erfährt ein Jugendlicher oder auch ein Kind, das sich gegen die Gewalt wehrt, so viel Gewalt? Die Antwort lautet: aus Angst vor dem Opfer. Das Opfer hat eine Geschichte zu erzählen, die das Selbstverständnis von Gruppen, von Familien, Schulen und Gesellschaften erschüttert. Einem Opfer zuzuhören – nicht aus der beobachtenden, begleitenden oder therapeutischen Perspektive, sondern aus der beteiligten, sich selbst dem System zurechnenden Perspektive – bedeutet, sich einem anderen Blick auf sich zu öffnen, Mythen des Selbstverständnisses loszulassen, den Stolz aufgrund von Zugehörigkeit zurückzustellen. Das tut weh. Um den Schmerz zu vermeiden, bietet sich als Alternative an, das Opfer zum Schweigen zu bringen.»1 Dann wendet sich der Blick ab, man schaut nicht mehr hin, zuckt mit den Achseln und versucht sich einzureden, dass einen dies alles nichts angeht. Oder man betrachtet die Täter als die einzig Schuldigen, die, einmal gefasst und aus dem Verkehr gezogen, suggerieren, dass das Problem nun gelöst sei. Dann schaut man auch nicht mehr hin auf die Strukturen und Hintergründe, die sich oft dem Blick entziehen – weshalb eine aktive Auseinandersetzung erforderlich wird.

Der Einbezug der Opfer als Experten für Missbräuche und deren Folgen ist entscheidend. Sie wissen, worum es geht, und sehen die dunklen Seiten von Fachleuten und Strukturen, die uns in der Regel verborgen sind. Ich habe als Experte am erweiterten Runden Tisch der deutschen Bundesregierung in Berlin den Vorgang erlebt. Solange wir Fachleute unter uns waren, war alles ziemlich unverbindlich: «Es wäre gut, man hätte dies und das; es wäre wünschenswert, man würde dies und jenes tun.» Als die Opfervertreter dazustiessen – sie benötigten eine gewisse Zeit, um sich zu organisieren –, wurde alles viel konkreter. Sie zeigten unmissverständlich den Handlungsbedarf auf und verdeutlichten die Notwendigkeit von Schritten, die schon längst getan sein müssten. Noch etwas wurde deutlich: Unter den Opfern sind auch Ärzte, Juristen, Pädagogen usw. – notabene dieselben Berufsleute wie die Fachexperten. Auch dies war eine heilsame Erfahrung.

Kinderrechte überdenken

Die Rechte der Kinder in unserer Gesellschaft sind grundlegend zu überdenken. Es genügt nicht, dass sie NEIN sagen – sie müssen auch gehört werden. Die UN-Kinderkonvention gibt den Rahmen vor, wie das Anliegen umgesetzt werden kann. Darum ist ein Projekt der Theologischen Fakultät Bern beachtenswert, welches eine eigenständige kindliche Sicht der Theologie postuliert. Möglicherweise klingt es für viele wie eine Utopie. Doch bedenke man: Frauenrechte, selbst Menschenrechte, galten in früheren Epochen nicht. Was heute selbstverständlich erscheint, musste über Generationen entwickelt werden.

Strukturelle Gewalt bezeichnet diejenigen Bereiche, wo weder Verfassungsrechte noch Gesetzgebung Opfer hinreichend schützen. Da Gewalt stets Selbstbestimmungsrechte verletzt, darf dies nicht weiter hingenommen werden – die Gesellschaft muss NEIN sagen, nicht bloss die Opfer. Kinder als häufige Opfer von Gewalt müssen in denen sie betreffenden Bereichen mitbestimmen und ihre Anliegen einbringen können, auch eine Form von Gewaltprävention. «Im Leben der Kinder gibt es genau zwei Menschen, die für ihre leibliche und seelische Gesundheit potenziell um ein Vielfaches gefährlicher sind als der gesamte Rest der Menschheit: ihre Väter und Mütter beziehungsweise deren jeweilige Lebensgefährten»2. Alles andere sind seltene Ausnahmen.

Interne Meldestellen

Damit Opfer sich melden, braucht es niedrigschwellig operierende Anlaufstellen 24 Std./7 Tage – nicht bloss zu Bürozeiten. Deutschland hat auf nationaler Ebene eine solche Stelle geschaffen und mit kompetenten Fachleuten ausgestattet. Die Erfahrungsberichte können im Internet eingesehen werden. Zusätzlich müssen alle Einrichtungen mit Schutzbefohlenen über interne Meldestellen verfügen, die allen Klienten, Angehörigen und Mitarbeitenden bekannt gemacht werden. Als nicht weisungsgebundene Stabstellen konzipiert können sie unabhängig von betrieblichen Hierarchien funktionieren. Erst wenn die Einrichtung Kenntnis von Vorfällen erhält, kann sie auch handeln. Die Bedeutung solcher Meldestellen ist zentral für jedes Schutzkonzept. Es geht nicht um ein Klima von Denunziantentum, sondern um Schutz für alle in der Einrichtung, was auch so kommuniziert sein muss. Die Stellen sollen in der Lage sein, Betroffenen und ihren Angehörigen die erforderliche Hilfe und Unterstützung zu vermitteln. Die Mitarbeitenden sind in die interne Entscheidungsfindung im Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen einzubeziehen, wobei die operativen Entscheide auf der Leitungsebene getroffen werden.

Unter kleineren Einrichtungen müssen sich Netzwerke mit gemeinsamen «internen» Meldestellen bilden. Als externe Stelle sollte die erwähnte nationale Anlaufstelle zur Verfügung stehen. Mitarbeitende erarbeiten sich die erforderlichen Kompetenzen, wozu der professionelle Umgang mit Betroffenen (mit Kenntnissen aus der Psycho-Traumatologie), Fakten- und Handlungswissen, Bereitschaft zu interdisziplinärer Zusammenarbeit und zur Vernetzung gehören. Die Stellen sind genderneutral zu besetzen, so dass je weibliche oder männliche Ansprechpartner nach Bedarf zur Verfügung stehen. Die Einrichtungen erarbeiten Guidelines sowohl für Klienten als auch für Mitarbeitende sowie transparente Interventionskonzepte. Weiter werden strukturierte Konzepte für die Nachsorge und damit für die Betreuung von Betroffenen (Opfer, Angehörige, Teams, Institutionen) entwickelt.

Fakten zur Gewaltprävention

Gewalt ist, was die Gesellschaft unter Gewalt versteht. Insofern hat unter dem Einfluss eines jahrelangen, massgeblich durch Frauen geführten Gewaltdiskurses ein deutlicher Paradigmenwechsel stattgefunden. Gewalt ist jedoch kein «Frauenthema», sondern ein Menschenrechtsproblem. Weltweit wurden in den letzten Jahren mehrere Bischöfe wegen sexualisierter Übergriffe verurteilt. In den USA sind in den zurückliegenden 50 Jahren weit über 4000 Priester3 wegen sexualisierter Gewaltdelikte angeklagt worden, wobei in 3300 Fällen die Angeklagten vor Abschluss der Untersuchungen gestorben sind. Man wird folglich kaum von Einzelfällen sprechen können. Als der US-Kirchenskandal 2002 durch die Reportagen des «Boston Globe» weltweit bekannt wurde, hiess es hierzulande, dass dies ein nordamerikanisches Problem darstelle. Nach dem Bekanntwerden der Vorfälle in Europa, insbesondere Irland und Deutschland4 in den Jahren 2009–2010, wurde klar, dass sich Gewalt durch Kirchenleute auch hier mit unglaublicher Häufigkeit zugetragen haben muss. Vorfälle im Kloster Einsiedeln und in weiteren Institutionen verdeutlichten die Problematik auch für die Schweiz. Damit war die Zeit reif für die Diskussion von Schutzkonzepten.

Umfangreiche Untersuchungen aus den USA über den Zusammenhang zwischen Krankheiten und negativen Kindheitserlebnissen (adverse childhood experience) bei Mitgliedern eines Health Care Plans führen zur Erkenntnis, dass rund zwei Drittel der amerikanischen Mittelklasse deutliche bis erhebliche Beeinträchtigungen in ihrer Entwicklung erfahren.5 Demgemäss ist davon auszugehen, dass beispielweise Ärzte in ihren Praxen täglich mehrere Personen sehen, die massive Gewalterlebnisse in ihrer Biografie erlebt haben. Die Forscher haben diese Daten retro- und prospektiv im Hinblick auf gesundheitliche Folgen ausgewertet: ab einer Punktzahl von 6 bei max. 10 – für jedes negative Kindheitserlebnis wurde unabhängig vom Schweregrad ein Punkt vergeben – ist die Lebenserwartung um 20 Jahre verkürzt. Zwischen den untersuchten Krankheiten und den Gewalterlebnissen zeigt sich eine robuste Korrelation in allen Datensätzen. Mit anderen Worten: Gewalterlebnisse in der eigenen Biografie haben erhebliche bis schädliche gesundheitliche Auswirkungen. Diese Untersuchungen führen zu einem Paradigmenwechsel in der Medizin über die Ursachen von Krankheiten.6

In dieselbe Richtung weisen Forschungen über epigenetische Auswirkungen von Gewalterfahrungen, besonders in der Entwicklung. Die Zellregulation wird durch negative Erlebnisse nachhaltig beeinflusst und dauerhaft verändert. Bei gesunden Personen werden durch Methylgruppen bestimmte Abschnitte der Erbsubstanz (DNA) blockiert, die damit nicht weiter aktiv sind. Auf diese Weise wird die Genregulation den Umwelterfordernissen angepasst. Bei Gewalterlebnissen unterbleibt diese Inaktivierung, mit der Folge, dass Betroffene zeitlebens eine überschiessende, unangepasste und lange anhaltende Stressregulation zeigen.

Nicht in Worte zu fassen

Gewalterlebnisse werden in vorsprachlichen Gedächtnisinhalten abgespeichert und können deshalb von Betroffenen nicht in Worte gefasst werden. Damit sind sie kaum in der Lage, sich adäquat zur Wehr zu setzen. Es muss deshalb die Frage diskutiert werden, ob wir im Rechtssystem weiterhin davon ausgehen wollen, dass bei Gewaltdelikten die Opfer eine Anzeige erstatten sollen, oder ob eine Meldeplicht für Fachleute zu schaffen ist, wie wir dies beispielsweise bei Hundebissen kennen. Die Ärzteschaft ist gemäss eidgenössischer Gesetzgebung verpflichtet, jeden Hundebiss der kantonalen Behörde zu melden, welche gestützt auf die Meldung die notwendigen Abklärungen durchführt. Damit wird deutlich, dass die Etablierung von Schutzkonzepten nur möglich ist, wenn der Gesetzgeber die erforderlichen Voraussetzungen schafft, wie das Beispiel einzelner Länder zeigt. So hat Norwegen die UN-Kinderschutzkonvention in das nationale Recht übernommen und Meldepflichten für Fachleute geschaffen, ebenso die Niederlande. In den USA und Kanada haben u. a. die in den 1980ern geschaffenen Meldepflichten zu einem deutlichen Rückgang der Gewaltdelikte an Kindern und Jugendlichen beigetragen.

 

1 Mertes 2013, 20–21

2 Tsokos et al. 2014, 112

3 Siehe John Jay Report, 2004: The Nature and Scope of the Problem of Sexual Abuse of Minors by Catholic Priests and Deacons in the United States

4 Siehe Ryan Report 2009 bzw. betr. Deutschland siehe Canisius-Kolleg, Kloster Ettal, Ingenbohler Nonnen.

5 Siehe ACEstudy.org mit einer deutschen Übersetzung auf der Homepage

6 Tschan 2013

Werner Tschan

Dr. med. Werner Tschan ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und ist spezialisiert für Psychotraumatologie und sexuelle Gewalt.