Scholastik – gestern, heute, morgen

Vorlesung Ende des 14. Jahrhunderts in Paris. Künstler unbekannt. (Bild: Grandes chroniques de France, Bibliothèque municipale, Castres)

 

Theologische Herausforderungen gehen nicht selten auf aussertheologische Entwicklungen zurück – soziale, ethische, naturwissenschaftliche. Um ein Beispiel herauszugreifen: Der Transhumanismus sowie naturalistische Positionen, die im Menschen nicht Geist oder Seele, sondern nur die messbaren Prozesse neuronaler Aktivitäten als gegeben ansehen, zwingen die theologische Anthropologie zu einer Nachschärfung ihrer Positionen. Hier scheint auf den ersten Blick kaum Unterstützung aus dem Mittelalter zu erwarten – hatte doch schon der Humanist Erasmus von Rotterdam († 1536) der Scholastik vorgehalten, sich in abwegigen Spinnereien wie etwa der Frage zu verlieren, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz hätten. Und doch gibt es eine originelle und m. E. ziemlich überzeugende Position in der aktuellen Mind-Brain-Debatte, die mit Thomas von Aquin († 1274) einen Mittelweg zwischen Dualismus und Monismus sucht.

Scholastikrezeption geschieht also mitunter an unerwartetem Ort.

Was aber ist Scholastik, was macht sie aus? So schwierig es ist, eine genaue Begriffsdefinition zu geben: Die Scholastik entstand aus dem Streben nach einer Theologie, die spirituelle Tiefe mit gedanklicher Akkuratesse und einer Methodik verband, die den aktuellsten Wissenschaftlichkeitsstandards genügte. In der Aristotelesrezeption des Thomas von Aquin erreichte diese Theologie ihre reifste Gestalt, gedieh zu einer «Kathedrale des Denkens», wie man es im bildhaften Vergleich mit den beeindruckendsten architektonischen Denkmälern der zeitgleich blühenden Gotik ausgedrückt hat: hochaufstrebend, fein ausdifferenziert und zuhöchst komplex. Dabei täte man dieser Denkbewegung Unrecht, wenn man sie als traditionalistisches Unternehmen einschätzen würde. Thomas von Aquin entfaltete seine aristotelisch inspirierte Theologie zu einer Zeit, als kirchlicherseits noch Aristotelesverbote in Geltung waren. Und selbst die späteren Rückgriffe auf die Theologie des Mittelalters – die frühneuzeitliche «Barockscholastik» und die spätere «Neuscholastik» – können zu ihrer Entstehungszeit in gewisser Hinsicht durchaus als theologische Aufbruchs- und Erneuerungsbewegungen betrachtet werden.

Fakt ist nämlich: Es gibt nicht die eine Scholastik, nicht die eine Orientierung am Mittelalter, nicht die eine Rezeption des Thomas von Aquin. Viele der intensivsten und kontroversesten theologischen Debatten der vergangenen Jahrhunderte waren letztlich Debatten um die richtige Form der Thomasdeutung. Und selbst wenn sich die hohe Pluralität und Heterogenität der gegenwärtigen Theologie auch in ihrem Verhältnis zur Scholastik widerspiegelt, so kann doch von einem völligen Abbruch der Scholastikrezeption keine Rede sein. Zu stark bleibt die Anziehungskraft von begrifflicher Klarheit, von Gedanken, die bis heute das theologische Denken vorantreiben können, und vom herausfordernden Vorbild einer wissenschaftlich brandaktuellen und zugleich spirituellen Theologie.

Ursula Schumacher*

 

* Prof. Dr. Ursula Schumacher (Jg. 1979) studierte Theologie, Hispanistik und Pädagogik in Bochum und in San Cristóbal de La Laguna. Sie promovierte 2013 zum Thema «Zwischen donum supernaturale und Selbstmitteilung Gottes. Die Entwicklung des systematischen Gnadentraktats im 20. Jahrhundert». Seit 2022 ist sie Professorin für Dogmatik in Luzern.