Schlagzeilen - Schlagworte

Heute im Blick

«… Schlagzeilen. Sie genügen nicht. Keinesfalls. Sie wollen vielmehr überraschen, herausfordern, anregen.» Wen überraschen sie? Wahrscheinlich solche, die Aussagen von einem Kirchenmann als langweilig, nichtssagend, lebensfern erleben. Wen fordern sie heraus? Sicher solche, die von der Kirche, vor allem vom Papst, erwarten, dass die ewigen Wahrheiten, «ob es gefällt oder nicht», in unanfechtbarem Ton gegenüber der gottlosen Welt, der Zeitströmung und den linken Theologen und Gemeindeleitern zum hundertsten Mal wiederholt werden. Wen regen sie an?

Es geht um Schlagzeilen eines Wiederholungstäters. Zum Jahr des Glaubens 2012/13 hatte er die vierzigseitige Schrift «Miteinander die Glut unter der Asche entdecken» herausgebracht.1 Jetzt erscheint von ihm – natürlich handelt es sich um Martin Werlen, den emeritierten Abt des Klosters Einsiedeln – eine längere Schrift mit dem Titel «Heute im Blick. Provokationen für eine Kirche, die mit den Menschen geht».2 Dem Text liegen persönliche Erlebnisse, Erfahrungen, Gespräche und Reflexionen zugrunde, die er nach seiner Demission als Abt während eines längeren Aufenthaltes in Ungarn und in Jerusalem verarbeitet hat. Der Text ist in 100 Nummern gegliedert, wobei der letzte ein Gebet ist. Vieles erscheint in der «Ich»-Form, aber nicht das Ich steht im Vordergrund, sondern Wahrnehmung, Deutung, Kritik, Anregung, Hoffnung und Freude, die aus dem hervorgehen, was festgestellt wird. Geblieben ist die klare Benennung von kirchlichen und kirchenamtlichen Tatsachen und Verhaltensweisen, die Menschen den Zugang zum Abenteuer des Glaubens verschliessen, geblieben ist aber ebenso der Mut, Visionen zu haben.

Die Schrift will begleiten, einen Prozess einleiten; sie besteht nicht aus Kapiteln, sondern enthält Schritte, die ärgern und Freude machen, die in Geduld abgeschritten werden wollen. Zu vielen Schlagworten werden Feststellungen und Wahrnehmungen gesammelt: Doppelbödigkeit und Überheblichkeit im Verhalten von Päpsten, Bischöfen und Priestern, Verdacht und Vorwurf der Häresie, Durchleuchtung von Haltungen, die im Namen des christlich-humanistischen Erbes daherkommen, Kleinlichkeit und Gefühllosigkeit in nebensächlichen Dingen. So wird z. B. die Dogmatisierung der Aufnahme Marias in den Himmel nicht als «katholisches» Vorgehen beurteilt, sondern als Alleingang, weil die Orthodoxen mit ihrer ekklesiologischen Sicht nicht berücksichtigt wurden. Ein zum Schmunzeln (oder eher Weinen) dienendes Beispiel für klerikale Falschheit ist jener italienische Bischof, der den Rubriken des Messbuches folgend betete, Gott solle «mit mir, deinem unwürdigen Diener» Erbarmen haben, aber dann dem Pfarrer einer Gemeinde befahl, «diesen Blödsinn» sofort zu unterlassen, der «für unseren unwürdigen Bischof» gebetet hatte.

Häufiger aber als solche Beispiele kirchlicher, klerikaler und frommer Heuchelei, Gefühllosigkeit, Starrheit und Engstirnigkeit sind die Zeugnisse erfahrener Gastfreundschaft von Palästinensern, von spontaner Hilfsbereitschaft trotz Armut, von Ausharren in schwieriger alltäglicher Not, von Humor im Unglück. So kann ein Palästinenser, dem das Portemonnaie und alle Ausweise abhandengekommen sind, wie ein immer die Araber verdächtigender Israeli schlagfertig sagen, es habe seine Sachen sicher ein Araber gestohlen. Wertvoll für jemanden, der ein Gespür dafür hat, dass Schriftsteller und Künstler oft in «unreligiösen» Formen grundlegende Fragen des Lebens und Glaubens zur Sprache bringen, sind Abschnitte und Zitate von Autoren wie Julien Green, Stefano Borgonovo oder Ulrich Harbecke.

Der geliebteste und am ausführlichsten zur Sprache kommende Gewährsmann des Autors aber ist der gegenwärtige Papst. In ihm sieht Martin Werlen das verkörpert, was sein grösstes Anliegen ist, nämlich das Gespür für die konkreten Menschen in ihrer Not, der Wille, ohne Scheu barmherzig auf die Menschen zuzugehen, keine Angst zu haben vor ihren Fragen und Schwierigkeiten. Dass ihm der unkomplizierte Umgang mit den Menschen, sein Verzicht auf Pomp und fürstliches Auftreten und seine klare Sprache, mit der er Luxus, Verschwendung, Ausbeutung und neoliberales Wirtschaftsdenken abwehrt, sympathisch ist, spürt man auf Schritt und Tritt. Da können auch die abgetretenen Schuhe des Papstes noch gewürdigt werden, die ein Verehrer des Vorgängers doch der Würde eines Pontifex als eher unangebracht taxiert.

Wie werden Leserinnen und Leser das Buch beurteilen? Martin Werlen weiss es selber am besten: Die «Progressiven» werden sagen, dass da nichts Aufregendes gesagt wird, die «Konservativen» werden aufschreien und den Wiederholungstäter der Ehrfurchtlosigkeit, Frechheit, Häresie, des mangelnden katholischen Glaubens bezichtigen. Wichtig ist, dass das, was im Buch gesagt wird, von einem stammt, der die Kirche liebt, der das Glaubensleben als ein nie abgeschlossenes Abenteuer erspürt und anschaulich zur Sprache bringt.

1 Das Buch erschien im März 2013 sogar in italienischer Sprache mit dem Titel «Fuoco sotto cenere» («San Paolo Edizioni»).

2 Martin Werlen: Heute im Blick. Provokationen für eine Kirche, die mit den Menschen geht. (Verlag Herder) Freiburg-Basel- Wien 2015, 192 Seiten.

Alois Kurmann

Alois Kurmann

Pater Alois Kurmann ist Kommunikationsverantwortlicher im Kloster Einsiedeln.