Sanfter Titel – brisanter Inhalt

Franz-Xaver Kaufmann: Soziologie und Sozialethik. Gesammelte Aufsätze zur Moralsoziologie [= Studien zur theologischen Ethik 136]. Hrsg. von Stephan Goertz (Academic Press Freiburg i. Ü./Verlag Herder) Fribourg-Freiburg i. Br. 2013, 448 S.)

Titel und Untertitel lassen zu Recht vermuten, dass es sich um (genau 20) Aufsätze aus den erwähnten Fachbereichen handelt (zwischen 3 und 38 Seiten), aber die Reihe, worin das Buch erscheint, schlägt den Bogen zur Theologie und somit zur Kirche als Institution und als Kirchenvolk. Selbst wer nicht sämtliche Aufsätze studieren würde, sähe sich von vielen unter ihnen reich beschenkt, denn sie greifen brennende Fragen auf und behandeln diese sorgfältig und resolut. Vorweg sei gleich erwähnt, dass die Aufsätze zwischen 1973 und 2012 erschienen sind (nur einer war unveröffentlicht, ausgerechnet im Gedenken an Franz Böckle, den Schweizer Moraltheologen, verfasst), dass aber sämtliche so aktuell wie eh und je geblieben sind. Nur einer ist (spürbar) aus einem Buch ausgezogen, die andern waren schon vorher selbstständige Abhandlungen oder Beiträge und in sich gut geschlossen. Sie wurden vom Herausgeber dankenswert in eine nachvollziehbare thematische Reihenfolge gebracht und mit einer trefflichen Einführung versehen.

Geschichtlich und kulturell bedingte Wirklichkeit

Kaufmann nennt sich einen skeptischen Soziologen, möchte aber den hoffenden Theologen nicht den Teppich wegziehen. Wohl aber insistiert er darauf, sie möchten endlich wahrnehmen, dass man die konkrete Weltwirklichkeit nicht mit ewigen, immer gleich geltenden Wahrheiten erfassen kann – diese ist insgesamt geschichtlich und kulturell bedingt. Das wird besonders deutlich an seiner klaren Abweisung des mittelalterlichen Naturrechtdenkens, das bis 1960 das Feld beherrschte. Es ist einmal historisch geworden und heute in dieser Form nicht mehr brauchbar. Das wird besonders deutlich an der Ehe- und Familienmoral, bei der die Kirche zeitfremd immer noch auf Positionen beharrt, die kein Mensch mehr, ausser verspäteten Theoretikern, ernst nimmt. Die weltweite Umfrage zu diesen Fragen, die Papst Franziskus angestossen hat, öffnet vielen die Augen – allzu viele aber verschliessen sie weiterhin und geben den Gläubigen das Ergebnis ihrer Antworten nicht bekannt.

Von der geschlossenen zur offenen Gesellschaft

Mit klaren Begriffen, aber immer konkret unterfüttert, zeigt Kaufmann, wie es zu diesen Resultaten kommt. Eine einst geschlossene Gesellschaft wie im Altertum und Mittelalter differenziert sich mehr und mehr, bis die Entwicklung sich vom 19. Jahrhundert an beschleunigt. Die direkten Kontakte zwischen den Menschen (auf der gleichen Ebene oder zwischen unten und oben) lösen sich, Organisationsstrukturen drängen sich auf, die Wirtschaft, das Recht, die Politik, die Gesellschaft selbst – sie zerfallen in eine Unzahl kleinerer Bereiche, die miteinander in Beziehung gebracht werden müssen. Das kompliziert das Leben, ruft aber auch Kompensationen hervor. So zeigt z. B. die Entkoppelung von Ehe, Familie und Sexualität nicht nur die allseits beklagten Zustände, sondern hat auch eine ganz andere Qualität menschlicher Zuneigung, Hilfsbereitschaft, Wärme, sogar Treue erzeugt. Kaufmann fragt immer nach einer «praktisch wirksamen » Soziologie (Sozialethik usw.). Man könnte sich fragen, ob auch die Theologie «praktisch wirksam» ist, nicht «praktische Theologie» im Sinne von Pastoral, sondern die in die Glaubensund Lebenswelt hinein wirksame theologische Lehre und Kirchenzucht. Weitere Umfragen könnten hier ernüchternd wirken.

Besprochene Personen und Positionen

Kaufmann diskutiert natürlich alle in seinem Fach prominenten Autoren, aber bei gegebener Gelegenheit befasst er sich mit dem einen oder anderen etwas ausführlicher, so etwa mit Josef Pieper (der am Anfang seine Karriere Soziologe war), mit Franz Böckle, wie erwähnt, mit Franz Furger, dem andern Landsmann, mit Johann-Baptist Metz (in einem rührenden Beitrag über die Trostlosigkeit des Kindes, die bis anhin theologisch überhaupt nicht wahrgenommen wurde). Von den Vorgängern werden Kant, Hegel, Marx einlässlich zitiert und diskutiert, natürlich auch Aristoteles und Thomas von Aquin, und von den grossen Soziologen Georg Simmel, Max Weber, Emile Durkheim usw. Was uns fast als Schlagworte ständig in den Medien um die Ohren geschlagen wird, legt uns der Verfasser sorgfältig auseinander, Begriffe wie Solidarität, Identität, Subsidiarität, alles was mit «sozial» zu tun hat, bekommt hier Konturen.

Mit Unsicherheiten leben

Man kann das Buch öffnen, wo man will, man stösst auf anregende und weiterführende Gedankengänge. Es verspricht keine billigen Lösungen, der Ernst der Weltlage mit der Globalisierung, den unübersichtlichen Finanzmärkten ist durchaus präsent. Vielleicht macht man sich bereit, nicht so sehr Sicherheit erzwingen zu wollen, als vielmehr zu lernen, mit der Unsicherheit umzugehen. Ein von Christentum und Aufklärung gespiesenes Denken hat alle Ressourcen, um darin zu bestehen.

 

 

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).