Rom und die Reformation

Luther der Ketzer

 Dass sich das grosse Reformationsjubiläum nähert, macht sich zunehmend auch auf dem Buchmarkt bemerkbar. Dass dabei Martin Luther im Mittelpunkt steht, erstaunt nicht weiter, mehr aber, dass es – zum Teil schon seit längerem edierte – Quellenbestände gibt, die bisher noch nicht die nötige Aufmerksamkeit der Forscher auf sich gezogen haben. Volker Reinhardt, Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg i. Ü., der sich durch Veröffentlichungen über Pius II. Piccolomini, Macchiavelli, Alexander VI. und die Borgias, Florenz und die Medicis, den Sacco di Roma u. v. m. als ausgezeichneter Kenner des Renaissance-Papsttums profiliert hat (vgl. Kasten auf der Folgeseite) und aufgrund langjähriger Studien in Rom auch eine grosse Archiverfahrung aufweist, nutzt nun die bisher weitgehend übersehenen Quelleneditionen. Er gibt Aufschluss über die römisch-kuriale Sicht, um sich von dieser Seite her der Persönlichkeit Martin Luthers anzunähern: Volker Reinhardt: Luther der Ketzer. Rom und die Reformation. (Verlag C.H. Beck) München 22016, 352 S., Abb. Das Buch liegt nach nur zwei Monaten bereits in zweiter Auflage vor. Das ist insofern nicht erstaunlich, weil Volker Reinhardt auch hier flüssig und sprachgewaltig formuliert, so dass auch die Lektüre dieses Buches ein Lesevergnügen ist.

Die Sicht Roms

Volker Reinhardt löst die bisherige Einseitigkeit der Wahrnehmung auf, indem er auf die Gegner Luthers hinweist und deren Positionen aufzeigt (z. B. auf den ersten literarischen Gegner Luthers, Prieras, und den lebenslänglichen Kontrahenten und späteren Kardinal Girolamo Aleandro), und die zahlreich überlieferten Berichten von römischen Nuntien und Legaten auswertet. Dank der ebenso reichen Quellen auf der Seite Luthers wird oftmals eine «Simultanerzählung» möglich.

Reinhardt zeigt dabei die vielen Unterschiede zwischen Martin Luther und Deutschland gegenüber Rom und Italien auf. Dabei spielten unterschiedliche Mentatlitäten und Kulturen eine wesentliche Rolle. Martin Luther erachtete eine grundsätzliche Kirchenreform als unumgänglich, während in Rom in Sachen Lehre alles klar zu sein schien und höchstens der Lebenswandel von Einzelnen der Reform bedurfte. Römische Reformanstrengungen wurden dabei nicht selten durch päpstliche Ausnahmeregelungen intern sabotiert. So wurden die Dekrete des V. Laterankonzils (1512–1517), das eine bessere Ausbildung und Auswahl von Geistlichen forderte und die Residenzpflicht festschreiben wollte, durch päpstliche Dispensen de facto unwirksam gemacht.

Das römische Prinzip von Nehmen und Geben wurde von Nuntien für Deutschland als Heilmittel angesehen, obwohl Luther und dessen Anhänger anders und viel grundsätzlicher dachten. Während die Päpste, oftmals ohne theologische Fachausbildung, wie weltliche Fürsten handelten, das Wohl der eigenen Familie in den Vordergrund stellten und so eine innere Reform bis 1534 verunmöglichten, dachte Luther theologisch und betrieb für seine Sache eine so ausgezeichnete Öffentlichkeitsarbeit, dass die römische Gegenseite ständig im Rückstand war. Und die gegen Luther ergriffenen, früher durchaus effizienten römischen Massnahmen blieben wirklungslos; die päpstlichen Gesandten, die aus Deutschland berichteten, wurden oftmals sogar vom eigenen Auftraggeber nicht ernst genommen.

Rechtzeitig erkannte Problemlage

Das ist umso erstaunlicher, weil, wie Volker Reinhardt schlüssig nachweist, das Problem von Einzelnen rechtzeitig erkannt wurde. So warnte der schon erwähnte Girolamo Aleandro Papst Leo X. bereits 1516, dass in Deutschland der Ausbruch eines Sturmes von beispielloser Heftigkeit bevorstehe. In Rom aber meinte man, dass theologisch Wichtiges in genügender Form entschieden sei und dies nur von notorischen Querulanten in Frage gestellt würde. Leo X. selbst erkannte die Brisanz der von Luther 1517 in Umlauf gesetzten 95 Thesen, ihm war, obwohl er wahrscheinlich die Thesen nicht gelesen hatte, auf Hinweis eines Theologen bewusst geworden, dass die in den Thesen geschilderten Auffassungen nicht mehr mit den in Rom herrschenden Vorstellungen in Sachen Papstamt und kirchlicher Ordnung übereinstimmten. Aber diese Einsicht führte nicht zu effizienter Gegenwehr, obwohl Martin Luther in Sachen Bibel- und Traditionsauslegung kurzschlüssig dachte und so auch theologisch angreifbar gewesen wäre. Die Infragestellung des Papstamtes als Wahrheitsmonopol und letzte Entscheidungsinstanz durch Luther führte gewissermassen zwingend zum Bruch, verstärkt durch eine breite antipäpstliche Stimmung in Deutschland, selbst in gut katholischen Kreisen. Der Bruch wurde möglich und blieb dauerhaft, weil Luther sich auf die Protektion von weltlichen Herrschern verlassen konnte; er legitimierte diese Eingriffe der weltlichen Macht durch die Funktionalisierung dieser Herrscher als «Notbischöfe». Wie unaufmerksam und schwach Rom bis gegen 1550 gewesen ist, zeigt sich daran, dass Luthers Tod 1546 in Rom nur beiläufig zur Kenntnis genommen wurde.

«Clash of Cultures»

Im Epilog des Buches stellt Volker Reinhardt nüchtern fest, dass das heutige Luthertum mit dem historischen Luther nicht mehr viel zu tun hat. Dieses habe sich, «ohne es zu wollen (und vielleicht sogar oft, ohne es zu wissen), katholischen Vorstellungen von der Kooperation des Menschen mit der göttlichen Gnade und sogar der Werkgerechtigkeit stillschweigend angenähert. Selbst in Sachen der letzten Dinge scheinen sich die beiden Konfessionen nicht mehr fernzustehen. Die Hölle stört, darin stimmen Theologinnen und Theologen beider Seiten überein (...). So stünde im Zeichen allgemeiner theologischer Auflösung und der Patchwork- Religionen nichts mehr im Wege, wäre da nicht die pièce de résistence namens Papsttum» (S. 326 f.).

Am Schluss weist Volker Reinhardt darauf hin – seine Grundthese des Nationalismus und des damit verbundenen «clash of cultures», welche den roten Faden für das ganze Buch vorgeben, in die Gegenwart weiterführend –, dass der Nationalismus, der im 15. und 16. Jahrhundert erfunden wurde, auch heute «hinter der schönen Einheitsfassade der Europäischen Union heftiger und aggressiver denn je» sei (S. 328). Das Buch will und kann nicht auf alle Fragen, die sich noch heute in Sachen Reformation stellen, eine Antwort geben. Eine Frage stellt sich aber angesichts Reinhardts «clash of cultures»-These: Warum sind doch beachtliche Teile Deutschlands (und der Schweiz) katholisch geblieben, trotz der grossen mentalen und kulturellen Gegensätze?

 

Urban Fink-Wagner

Urban Fink-Wagner

Der Historiker und promovierte Theologe Urban Fink-Wagner, 2004 bis 2016 Redaktionsleiter der SKZ, ist Geschäftsführer der Inländischen Mission.