Reputation und Korruption

Wenn heute von Korruption die Rede ist, denkt man in erster Linie an verpönte Machenschaften in der Politik unter dem Begriff der "politischen Korruption". Darauf werde auch ich schwerpunktmässig eingehen. Jedoch möchte ich das Thema etwas breiter erörtern, zumal Korruption als Überbegriff für mannigfaltige gesellschaftliche Verhaltensweisen steht. Einige Beispiele: Korrupt ist der Stürmer, der einfach nicht treffen will; der parteiische Richter; der Liquidator, der nicht an den Meistbietenden, sondern den Meistschmierenden verkauft. Der Beispiele gäbe es unzählige, kein Lebensbereich ist vor Korruption immun. Sogar ein Universitätsprofessor könnte geneigt sein, statt der besten Bewerberin diejenige als Assistentin anzustellen, die ihm andere Vorteile verspricht.

Korruption ist Pflichtverletzung

Worin aber besteht der eigentliche Akt der Korruption? Es ist die Pflichtverletzung eines Entscheidungsträgers, der von einem anderen beeinflusst worden ist. Der Stürmer wird bestochen, damit er seine Mannschaft nicht zum Sieg bringt; der Liquidator, damit er nicht an den Meistbietenden verkauft; der Professor, damit er nicht die beste Kandidatin einstellt. Durch die Pflichtverletzung erlangen Bestechender und Bestochener Vorteile, ohne dass sie die Spielregeln als solche in Frage stellen würden. Sie suchen den persönlichen Vorteil in der Hoffnung, nicht aufzufliegen.

Wenn die Klüngeleien nicht aufgedeckt werden, kann das Spiel weitergehen. Werden sie aufgedeckt, dreht die "Kosten-Nutzen-Bilanz" allerdings ins Negative. Tatsächlich geht heute nicht nur die Justiz, sondern auch die Öffentlichkeit hart gegen Korruption vor (meist mehr gegen die Bestochenen als gegen die Bestechenden). Welcher Fussballklub würde einen korrupten Stürmer engagieren? Stärker als die rechtlichen wirken hier die gesellschaftlichen Sanktionen unfairen Verhaltens. Wer sich bestechen liess, verliert seine Reputation. Will er sie wiedererlangen, muss er seinen Beruf wechseln. Vielleicht täusche ich mich, aber ich glaube, dass es genau diese Gefahr gesellschaftlicher Stigmatisierung ist, welche die Korruption unter Privaten noch zur Ausnahme macht. Nicht jeden Sonntag begehen korrupte Stürmer "sportliche Vergehen" – und zwar unabhängig davon, ob diese auch strafrechtlich verfolgbar sind. Und Professoren, die hübsche Mädchen an Stelle begabter Forscherinnen anstellen, sind wohl die Ausnahme. Soziopsychologisch betrachtet wird die Korruption von jenem Loyalitätsgefühl im Zügel gehalten, das etliche gesellschaftliche Gruppen zusammenhält. Der gesellschaftlich Eingebundene wird zweimal überlegen, sich bestechen zu lassen, wenn er an die rechtlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen denkt. Nun gibt es in jeder Gesellschaft Schmarotzer, weil die "Ehrlichen" stets von "Schlauen " umgeben sind. Aber eine vollkommen schmarotzerhafte Gesellschaft ist nicht überlebensfähig.

Das Ausmass der Korruption

Freilich gibt es Stimmen,1 die einen gewissen Grad an Korruption als zuträglich erachten – als Laster, das in Mandevill’scher Manier zur gesellschaftlichen Tugend wird. Doch schmelzen solche Gewinne des Gemeinwohls dahin, sobald die Korruption überhandnimmt. Das Problem entsteht demnach noch nicht dort, wo Einzelne "käuflich sind", sondern nach Jon Elster "wo alle gekauft werden können"2 und man schliesslich nicht mehr weiss, was genau man "kauft". Korruption wird somit zum gesellschaftlichen Problem, wenn sie vom Ausnahme- zum Regelfall wird, wichtige Gesellschaftsbereiche infiziert und sich wie ein resistenter Keim weiterverbreitet. Leider ist genau dies in Italien geschehen, wo sich immer mehr öffentliche Persönlichkeiten in korrupte Geschäfte haben verwickeln lassen. So wurde generell bei Ausschreibungen der Auftrag nicht an den Bestbietenden, sondern an den Bestbestechenden vergeben. Als in den 1990er-Jahren diese Missstände von einigen mutigen Richtern aufgedeckt wurden, taufte man das damalige Italien "Tangentopoli ", wobei mit "Tangente" die Bestechungssumme vor allem bei Ausschreibungen gemeint war.

Im Italien der Jahre des Niedergangs der Ersten Republik war dieses Phänomen derart verbreitet, dass Bettino Craxi, einer der Protagonisten jener Epoche, der "Zeit" beichtete: "Das System war so. Wir haben alle gesündigt."3 Zunächst schienen sich die Dinge zu ändern. In der Tat wurden die alten Parteien durch die unzähligen Justizverfahren gleichsam hinweggefegt, Craxi zum Sündenbock einer ganzen politischen Klasse gemacht. Aber die Hoffnungen von damals wurden enttäuscht: Schon nach kurzer Zeit begann das alte System wieder Fuss zu fassen.4 Mit einem Unterschied: Unterschlug man in den 1990er-Jahren Geld für die Parteikassen, so heutzutage meistens für die eigene Tasche. Man denke nur an die jüngste Affäre um das Projekt Mose in Venedig (das umstrittene, über fünf Milliarden Euro teure Hochwasserschutzprojekt). Die Untersuchungen haben zur Festnahme des Bürgermeisters (Mitglied des Partito Democratico) und des Ex-Gouverneurs der Region Veneto (Mitglied und Parlamentsabgeordneter von Forza Italia) geführt. In einem Interview berichtete Claudia Minutillo, die ehemalige Sekretärin des Gouverneurs Galan: "Es floss so viel Geld, dass Galan oft den einen mit dem anderen Unternehmer verwechselte (…). Dermassen viele Personen waren involviert (Politiker, Richter, Militäroffiziere), dass ich bei meinem Entschluss auszupacken Angst hatte, dass die Steuerbeamten ein doppeltes Spiel treiben könnten. Wenn du Teil eines kranken Systems bist, glaubst du, alles sei krank."5 Am meisten erschüttert war man von der Verwicklung des Bürgermeisters, war dieser doch ein bekannter Anwalt und Universitätsprofessor, der bis dahin als über jeden Zweifel erhaben galt. So entsteht der Eindruck, dass sich jemand, sobald zum Berufspolitiker geworden, einer Korruptionskultur nicht entziehen kann, die dermassen mit dem System verwoben ist, dass man sie nicht mehr wahrnimmt, und zwar von rechts bis links: Der als rechte Hand des Römer Finanzmafia-Bosses Massimo Carminati überführte Präsident einer gemeinnützigen Stiftung erklärte einem Journalisten: "Weisst Du, warum Massimo unangreifbar war? Weil er der Geldbote von Finmeccanica war. Dicke Couverts für das ganze Parlament. Vier Millionen in einem Couvert. Massimo sagte mir: ‹Ich habe sie allen gebracht› – sogar den Kommunisten."6

Schneller Wiederaufstieg nach dem Fall

Lässt sich ein solches Phänomen mit den "persönlichen Interessen" materieller Bereicherung erklären, die den Politiker dazu verleiten, sich bestechen zu lassen, auch wenn er schon genug verdient? Wenn das ganze System korrupt ist und die Korruption zur Normalität wird, macht es wenig Sinn danach zu fragen, warum jemand für wirtschaftliche Vorteile seinen Arbeitsplatz riskiert. Und der "gute Ruf" scheint beim Politiker weniger zu zählen als bei anderen Berufsgruppen. Wenn die Wahl eines Abgeordneten von seiner Treue zum Parteichef abhängt, dann ist es offensichtlich, dass sein Ruf bei den Wählern am Ende recht wenig zählt. Während die Karriere eines Fussballers durch sein korruptes Handeln fast immer zerstört wird, entsteigt der korrupte Politiker oft nach erstaunlich kurzer Auszeit wieder der Asche und stellt sich, so sein Parteichef will, zur Wiederwahl, womöglich unterstützt von seiner ehemaligen Klientel. Ein auf Korruption beruhendes System schafft es meisterhaft, die sündigen Schäfchen in seinen Stall zurückzurufen. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die traditionellen Medien, vorab Fernsehen und Zeitungen. Sie haben ein kurzes Gedächtnis und vergessen so leicht wie gerne. Aber bis heute sind sie es, die das öffentliche Bild des Politikers prägen.

So erstaunt nicht, dass das italienische Parlament bis heute noch voll von Korrupten ist. Angesichts der gigantischen Geldströme, die es zu lenken vermag, stellt es geradezu ein potenzielles Korruptionszentrum dar. Öffentliche Mittel, die für das Wohl der Gesellschaft bestimmt wären, werden für die Aufrechterhaltung der sogenannten "Kaste" verwendet.7 2008 wurden den Parteien 800 Millionen Euro an "Wahlkampfgeldern" zugestanden, doppelt so viel wie in Deutschland. Die jährliche Summe indirekter Zuwendungen ist enorm: 250 Millionen an Abgeordnetenentschädigungen, etwa 3 Milliarden für lokale politische Institutionen (Regionen, Provinzen, Gemeinden), 3 Milliarden für mehr als 300 000 "politische Berater". In Italien werden sogar die Reisen von Ex-Parlamentariern aus der Staatskasse bezahlt.

Staatsabbau als Lösung?

Neoliberale Stimmen wollen das Problem durch Staatsabbau lösen, ganz nach dem Motto "weniger Staat = weniger Korruption". Die Schuld läge somit beim "interventionistischen" Staat. Diese Argumentation trifft wohl kaum auf jeden Staat zu. In Italien ist der Staat zur Geissel der Parteien geworden. Sie haben die Korruption zu einer chronischen Krankheit der italienischen Politik gemacht. Bezeichnenderweise hat Italien bis heute keine griffige Antikorruptionsgesetzgebung. Der Präsident der neu geschaffenen Antikorruptionsbehörde monierte vor kurzem namentlich zu kurze Verjährungsfristen, mangelnde Durchgriffsmöglichkeiten bei der polizeilichen Ermittlung und der Zwangsvollstreckung sowie gravierende Lücken im Stiftungsrecht. Den Geldwäschereiaktivitäten der Finanzmafia bleiben Tür und Tor weit geöffnet.8

Andererseits ist Vorsicht geboten, die Korruption als Alibi zu gebrauchen. Wohl besteht ein negativer Zusammenhang zwischen Korruption und Wirtschaftswachstum: Schlechte Zuteilung öffentlicher Ressourcen, wechselnde Konkurrenzregeln und abnehmende Auslandsinvestitionen haben sicherlich eine bremsende Wirkung auf die wirtschaftliche Entwicklung. Aber die alleinige Eindämmung der Korruption würde nicht ausreichen, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Ausserdem ist die Korruption nicht nur ein wirtschaftliches Problem. Sie wird zum politischen Problem, wenn sie in die Hände der organisierten Kriminalität gerät, die dadurch auf politische Entscheidungen Einfluss nimmt.

Korruption, Krise und Kriminalität

Der korruptionsbedingte Missbrauch von Steuergeldern sowie das Eindringen der Kriminalität in die Politik führen besonders während einer Wirtschaftskrise zu einem irreparablen Vertrauensverlust in die politischen Institutionen. Die politische Kaste floriert nahezu ungeschmälert weiter, während die italienischen Mittelstandsfamilien unter die Armutsschwelle zu fallen drohen. Es fliessen gigantische, kaum kontrollierbare Geldströme. In dem 2014 von Transparency International herausgegebenen, 175 Staaten umfassenden «Corruption Perceptions Index» rangiert Italien auf dem 69. Platz (zusammen mit Bulgarien und Griechenland; als Schlusslicht der G7 und der EU), wobei gerade der Machtmissbrauch im öffentlichen Sektor als Hauptproblem angegeben wird.

Dies mag den alle Erwartungen übersteigenden Erfolg des «Movimento 5 Stelle» bei den letzten italienischen Wahlen im Frühjahr 2013 erklären. Die Bekämpfung der Korruption war denn auch das primäre Wahlkampfthema der Bewegung, die neuen Wind in den Parlamentsbetrieb gebracht hat: Anders als ihre fürstlich bezahlten Kolleginnen und Kollegen (mit monatlichen Bezügen und Entschädigungen bis zu 14 000 Euro!) begnügen sich ihre Abgeordneten mit 5000 Euro. Auch wenn das mit Verfassungsreformen beschäftigte Parlament die Antikorruptionsgesetzgebung gegenwärtig aufs Eis gelegt hat, ist eine Veränderung spürbar: Mit dem «Movimento 5 Stelle» hat ein neues Medium politischer Kommunikation die Bühne betreten, das einige Sprengkraft birgt: das Internet.

Transparenz als Gegenmittel

Dazu habe ich mich jüngst in einem Artikel in der «NZZ» geäussert.9 Hier möchte ich nur einen Aspekt herausheben: Im Netz lässt sich nichts verstecken, es herrscht volle Transparenz. Anders als Fernsehen und Zeitungen hat das Internet ein ewiges Gedächtnis, alles ist für die Nachwelt gespeichert. Der hinreichend informierte Bürger kann von den Parteien nicht mehr für dumm verkauft werden. Und hier haben wir das wirksame Mittel gegen das Korruptionsvirus: Das Ende der Parteienherrschaft und die Geburt neuer Bürgerbewegungen, die direktdemokratische Meinungsbildung durch Vernetzung anstreben und dadurch eine von Korruption befreite Politik zu verwirklichen versuchen. Eine Politik ohne Trennmauern zwischen Machtträgern und Bürgern, ganz nach dem Motto: «Ehrlichkeit ist wieder angesagt!» Droht nun digitaler Moralismus? Ich möchte mit einer philosophischen Antwort schliessen: Für Kant vermochte sogar ein Volk von Teufeln einen Staat zu begründen. Wir könnten die Korrupten zu ihnen rechnen. Der erste, der die Moral als notwendige Bedingung staatlicher Koexistenz betrachtete, war Hegel, der sie in seiner Rechtsphilosophie als Bindeglied zwischen dem (abstrakten) Recht der Privatpersonen und dem Staat verstand. Ich glaube, Hegel hatte Recht. In einem Staat, in dem Korruption grassiert, verliert nicht in erster Linie der einzelne Bürger seinen guten Ruf, sondern der Staat als Ganzes seine innen- und aussenpolitische Glaubwürdigkeit.

 

Der vorliegende Beitrag gibt den Vortrag von Paolo Becchi wieder, den der Autor am 28. Oktober 2014 im Rahmen einer Veranstaltung der Paulus-Akademie mit dem Generalthema "Korruption – Ein unvermeidliches Übel?" in Zürich gehalten hat. Die Zwischentitel sind von der SKZ-Redaktion gesetzt.

 

 

1 Vgl. N.H. Left: Economic development through bureaucratic corruption, in: American Behavioral Scientist 82 (1964), 337–341; S. Huntington: Political Order in Changing Societies. New Haven 1968.

2 J. Elster: The Cement of Society. A Study of Social Order. Cambridge 1989.

3 "Die Zeit" vom 30. Dezember 1994.

4 Vgl. G. Mannozzi: Tangentopoli non è mai finita, in www.lavoce.info, 2010; N. Fiorino / E. Galli: La corruzione in Italia. Bologna 2013.

5 "Corriere della Sera" vom 3. August 2014: "Potevamo corrompere chiunque", Interview von A. Pasqualetto.

6 Vgl. P. Gomez: Roma e le mazzette rosso-nere, per favore non parlate di mele marce, www.ilfattoquotidiano.it, 5.12.2014.

7 Vgl. S. Rizzo / G.A. Stella: Così i politici italiani sono diventati intoccabili. Milano 2007.

8 Vgl. oben, Anm. 6 sowie: Dopo Tangentopoli nessun meccanismo per arginarla, www.ilfattoquotidiano.it, 15.12.2014.

9 Paolo Becchi: Cyberspace und Demokratie, in: NZZ vom 16. Juni 2014, 13.

Paulo Becchi

Prof. Dr. Paolo Becchi
ist Ordinarius für Rechtsund
Staatsphilosophie an der
Universität Luzern und für
Rechtsphilosophie an der
Universität Genua.