Reformstau in der katholischen Kirche*

1. Aktuelle Reformforderungen und ihre Erfolgsaussichten

Reformforderungen in der heutigen katholischen Kirche sind sehr unterschiedlich bis gegensätzlich. Zu erwähnen wären z. B. jene Minderheiten, für welche die wahre Reform ein Zurück zur einzig wahren, angeblich tridentinischen Kirche mit vorkonziliärer lateinischer Messe wäre. Gewichtiger sind die "Reformbemühungen" jener, welche das Zweite Vatikanische Konzil primär als Fortsetzung der Tradition verstehen und nachkonziliären Neuerungen kritisch bis ablehnend gegenüberstehen, was seit den 1980er-Jahren amtskirchlich zur Dominante geworden und mit ein Grund für den heutigen Reformstau ist.

Dahinter steht die zweifellos bedeutsame Überzeugung, dass die Reform der Kirchenordnung gegenüber der dringlichen Erneuerung des geschwundenen (Gott-)Glaubens sekundär sei; die kirchliche Aufgabe schlechthin sei heute die Neuevangelisierung. Und: Was hierzulande gefordert wird, ist in den katholischen Kirchen Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas vielleicht kein (dringendes) Anliegen oder stösst sogar auf Widerspruch, wie die Bischofssynode 2014 gezeigt hat.

Ich beschränke mich auf einige aktuellen Forderungen von Neuerungen in unseren Breitengraden. Auffallend ist, dass diese Reformforderungen stark strukturbezogen und damit typisch katholisch romzentriert sind. Erwartet wird eine tiefgreifende Strukturreform der katholischen Kirche. Gemeint ist neben einer Kurienreform besonders die Dezentralisierung der auf Rom zentrierten Kirchenleitung. Konkreter geht es etwa um die Form der Bischofsernennungen. Sie sollen nur noch mit lokalkirchlicher Mitsprache möglich sein und keinesfalls mehr gegen den Willen von Seelsorgerinnen und Seelsorgern und dem Kirchenvolk erfolgen. Gefordert wird der Abbau der absolutistischen Monarchie primär auf päpstlicher, aber auch auf bischöflicher Ebene, sofern die nötige Verlagerung von Kompetenzen von Rom an die Teilkirchen realisiert würde. Die strikte Trennung zwischen Klerus und Laien, zu welchen kirchenrechtlich auch unsere Pastoralassistentinnen und -assistenten gehören, müsse überwunden werden. Verlangt wird der erweiterte Zugang zu den kirchlichen Weihe- und Leitungsämtern, nämlich ohne Pflichtzölibat für Weltpriester, und das auch für Frauen. Die diskriminierende Ungleichbehandlung von Frauen müsse endlich aufhören.

Schon seit Jahrzehnten wird gefordert, dass die Kirche ihre Sexualmoral mit den bekannten absoluten Verboten revidieren müsse, was auch für die Sicht der Homosexualität gilt. Die pauschale Verurteilung von nichtehelichen Partnerschaften hetero- und gleichgeschlechtlicher Art sei nicht mehr haltbar. Mindestens Segnungen solcher Paare sollten möglich sein, auch für wiederverheiratete Geschiedene. Letztere sollten wenigstens zur Kommunion zugelassen werden. Auch die kirchliche Ehe- und Familienlehre müsse angepasst werden. Das Familienbild sei viel zu idealistisch.

Insgesamt wird moniert, die kirchliche, besonders die römische Hierarchie habe den Kontakt zur heutigen Lebensrealität, auch zum Leben und zur Seelsorge in den Pfarreien verloren. Das gilt auch in ökumenischer Hinsicht. Die Institution Kirche müsse die Menschen von heute in ihren andersartigen Situationen und Problemen endlich ernst nehmen und das Menschenrecht auf Selbstbestimmung respektieren, individuell und sozial.

Papst Franziskus hat seit seinem Amtsantritt mit seinem menschlichen Auftreten, mit seinen mutigen und ermutigenden Worten und Gesten, mit kritischen Bemerkungen auch zu kirchlichen Strukturen und Gesetzmässigkeiten, mit ersten Aufräumarbeiten in der römischen Kurie, mit seiner Antrittsenzyklika "Evangelii gaudium" (2013) und mit seinem neuen kollegialeren Stil der Kirchenleitung grosse Hoffnungen auf endliche Realisierung von Reformen geweckt. Was dürfen Reformfreudige an Reformen in der katholischen Kirche erwarten?

1.1. Strukturreformen

Stellt man die dringliche Kurienreform in den Zusammenhang mit dem ebenso dringlichen Abbau des römischen Zentralismus, dann müsste das Problem grundsätzlicher angegangen werden, als dies bisher unter Papst Franziskus geschehen ist. Neuorganisation der vatikanischen Finanzverwaltung, Auswechslung von Köpfen und mehr Beratung durch neue Beratungsgremien reichen nicht aus. So bleibt die Kurie im Prinzip, was sie vorher war, und macht weiter, was sie schon seit langem getan hat: Zu viel und zu wenig. Es müsste zuerst grundsätzlich im Gespräch mit den Ortsbischöfen und den Ortskirchen gefragt werden, was denn überhaupt von Rom aus gesamtkirchlich gesteuert, entschieden, kontrolliert oder gar selbst durchgeführt werden muss. Nur das würde zu einer erheblich abgespeckten römischen Kurie führen.

Ob Papst Franziskus aber bereit ist, so viele Machtfäden aus der Hand zu geben, ohne dann doch über alles die Kontrolle auszuüben und die letztverbindlichen Entscheide zu fällen, wird sich noch zeigen müssen. Franziskus ist ein sehr machtbewusster Papst, der sich daran freut, mit seiner Macht Gutes bewirken zu können, was glücklicherweise geschieht. Aber auch für Franziskus gilt: "cum et sub Petro", wie er am Ende der Bischofssynode 2014 explizit betont hat.

Bei Bischofsernennungen ist Papst Franziskus bislang sowohl bei der Absetzung von Bischöfen wie bei Neubesetzungen betont eigenständig vorgegangen, auch wie längst üblich unter Umgehung von lokalen Mitspracherechten. In der Wahl von Bischöfen hat er aber bisher recht erfolgreich gewaltet.

Die Freiwilligmachung des Priesterzölibates wäre seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil an sich möglich, an sich … Weil alle Päpste nach dem Vatikanum II die "Unmöglichkeit" der sakramentalen Weihe von Frauen mit dem Verweis auf Christi Praxis bei der Berufung von Aposteln faktisch dogmatisiert haben, sind aktuelle diesbezügliche Erwartungen leider eine – vorläufige? – Illusion.

1.2. Sexual- und Ehemoral/-recht

Papst Franziskus hat mit der Ansetzung einer internationalen Bischofssynode und durch deren neuartige Vorbereitung mittels eines weltweit breit gestreuten Fragebogens zum Titelthema grosse Erwartungen geweckt. Wichtig war die Frage, was denn die aus kirchenamtlicher Sicht irregulär Lebenden und das Kirchenvolk überhaupt von der kirchlichen Lehre noch wissen, wie sie dazu stehen und wie die kirchliche Pastoral aktuell mit diesen Problemen umgeht. Dass die Umfrageergebnisse publiziert worden sind, war neu und erfreulich, auch, dass an der vergangenen Bischofssynode auf Geheiss des Papstes sehr offen informiert und auch diskutiert wurde.

Es besteht die begründete Hoffnung, dass an der kommenden Bischofssynode vom Oktober 2015 zu der stark diskutierten Frage der Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zu den Sakramenten ein gewisser Fortschritt erreicht werden könnte. Weil aber unter den teilnehmenden Bischöfen "sub et cum Petro" offenbar Konsens herrscht, dass die kirchliche Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe, die Scheidung und Wiederheirat ausschliesst, unverändert bleiben muss, will man das ernstzunehmende Problem pastoral lösen, etwa im Sinne des von Kardinal Walter Kasper für den Einzelfall vorgeschlagenen Weges über eine Art klärende Busszeit mit anschliessend möglicher Zulassung zur Kommunion im Namen der Barmherzigkeit. Diese Lösung erhielt aber an der Bischofssynode keine genügende Mehrheit. Für zu viele Bischöfe stünde diese "Lösung" im Widerspruch zur Unauflöslichkeit der Ehe.

Man wird am Ende der Bischofssynode einmal mehr versuchen, die für unabänderlich gehaltene kirchliche Lehre den heutigen Menschen verständlicher und gekonnter nahezubringen. Man wird das Schöne an Ehe und Familie und am Kinderhaben betonen und wird an der nach lehramtlichem Verständnis nur in der "gültigen" Ehe erlaubten und ohne künstliche Empfängnisverhütung vollzogenen Sexualität festhalten. Sicher wird gesagt werden, dass die Menschen, die nach Kirchenverständnis irregulär handeln oder leben, von der Kirche nicht verurteilt werden, zumal viele Situationen auch mit Leid verbunden sind. Die Seelsorge müsse diese Menschen mit mehr Einfühlung begleiten.

Mein eher skeptisches Fazit zu den zu erwartenden Reformen im Bereich von Sexualität, Ehe und Familie lautet: Das Ganze wird auf eine pastoral wattierte Form der Anwendung der beständigen kirchlichen Lehre hinauslaufen. Dann wird aber die pastorale Lösung weder für die Betroffenen noch für die Kirche stimmen. Letzteres hat die kritische bischöfliche Opposition zu vorgeschlagenen pastoralen Lösungen an der letzten Bischofssynode durchaus logisch gezeigt. Und was die betroffenen Menschen betrifft: Was hilft es Homosexuellen, wenn sie zwar als homosexuelle Menschen nicht (mehr) verurteilt werden, wenn aber die praktizierte homosexuelle Neigung auch in festen Partnerschaften nach wie vor mindestens "objektiv" schwere Sünde bleibt?

Eine überzeugende gute Botschaft für die Betroffenen wäre das nur, wenn die kirchliche Sexualmoral explizit geändert würde. Das Gleiche gilt für die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion. Davon ausgeschlossen sind sie nicht einfach im Gefolge ihrer zivilen Scheidung und Zweitehe, sondern weil sie in der kirchlich unerlaubten, eigentlich unmöglichen Zweitehe oder der neuen Lebenspartnerschaft wegen ihrer Sexualgemeinschaft kirchenamtlich als dauernde Ehebrecher gelten. Die meisten der betroffenen Wiederverheirateten, die nach ihrem Gewissen in einer guten dauernden Partnerschaft leben, werden die kirchlich gewährte Barmherzigkeit kaum zu würdigen wissen.

Der neuerdings kirchlich auch von Papst Franziskus wieder forcierte Weg über die kirchenrechtliche Nichtigerklärung der ersten Eheschliessung wäre von Einzelfällen abgesehen in den meisten Fällen die Verstärkung einer sehr problematischen Lösung.

2. Warum tut sich die Hierarchie der katholischen Kirche mit gewissen Reformen so schwer?

Wie war es möglich, dass die durch das Zweite Vatikanum (1962–1965) mutig und umfassend angestossene Kirchenreformbewegung, welche weltweit in vielen Regionen zu einem erstaunlich erstarkten und vielfältigeren Kirchenleben in Gemeinden, Diözesen und Kirchenprovinzen führte, angeführt durch selbstbewusster gewordene Bischöfe und eine starke Theologie, seit Ende der 1970er-Jahre erlahmte und dann vollends ins Stocken geriet?

2.1. Die Angst vor unkontrollierbaren Entwicklungen und ihre Folgen

Angesichts dessen, was sich nach dem Konzil sehr rasch und unvorhergesehen weltweit tat, insbesondere, wenn es sich um Neuerungen handelte, die nach der Auffassung vieler mit katholischer Tradition nicht mehr im Einklang standen und als im Widerspruch zur kirchlichen Lehre und zu kirchenrechtlichen Regelungen stehend gewertet wurde, machte sich primär in Rom, aber weltweit auch in konservativen Kreisen die Angst vor einer unaufhaltsamen ungeordneten Entwicklung hin zur ungebührlichen Anpassung an die sog. Welt, an Libertinismus, Werterelativismus und Pluralismus breit. Die integrale Fortdauer der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche schien ernsthaft gefährdet.

Die unbestreitbar wichtige Sorge um die Einheit der Kirche, die zwar nicht gleich Einheitlichkeit ist, aber auf eine gewisse Einheitlichkeit nicht verzichten kann, führte dann besonders unter dem Pontifikat von Johannes Paul II. seit Ende der 1970er- Jahre, fortgesetzt durch Papst Benedikt XVI., zu einer innerkirchlichen Disziplinierung. Das Ganze war nur möglich mittels verstärkter Kontrolle von oben, durch Einschränkung oder Entzug von bischöflichen Kompetenzen und Übernahme vieler Aktivitäten des "universalkirchlich" verbindlichen Lehrens, Leitens und Richtens durch die kuriale Ebene unter Oberaufsicht des Papstes. Das strukturelle Ergebnis war eine bisher nie dagewesene Zentralisierung.

Diese zumindest versuchte Disziplinierung aller Kirchenglieder und ihrer Organisationseinheiten auf allen Ebenen vom Kardinal bis hinunter zum nicht ganz "einfachen" Kirchenvolk sollte durch einen umfassend verstandenen "kindlichen" Gehorsam – "äusserlich und innerlich", "mit Verstand und mit dem Herzen" – erreicht werden, und zwar zugespitzt auf den Gehorsam gegenüber dem obersten Lehr- und Leitungsamt der Kirche. Ein Umsetzungsmittel für die geforderte totale Identifizierung mit Rom ist bis heute der sog. Treueeid. Alle, die in irgendeinen bedeutsamen innerkirchlichen oder von der kirchlichen Obrigkeit approbierten Dienst (Professur an einer Theologischen Fakultät) gestellt sind, müssen diesen Eid seit 1989 neben einem buchstäblich festgelegten römischen Glaubensbekenntnis ablegen. Damit soll jegliche Abweichung von Vorgaben "der Kirche" a priori unterbunden werden, präventiv auch so, dass kritische Nachwuchskräfte keine Chance mehr hatten (und haben?), Bischof zu werden oder eine Professur in Theologie mit römisch-bischöflichem "Nihil obstat " zu erhalten. Gegebenenfalls wurden nicht ganz romkonforme Bischöfe degradiert und Theologen gemassregelt, bis hin zu Schreib- oder Schweigeverbot oder gar Absetzung.

Die Angst um die traditionstreue Universalkirche hat sich dann als Angst, etwas falsch zu machen oder zu sagen, auch unter Kardinälen, Bischöfen und Theologen und Theologinnen verbreitet, seis in gewissenhafter Kirchen- oder besser Romtreue oder seis wegen gefürchteter Sanktionen, ein begehrtes Amt gar nicht zu bekommen oder im Amt gemassregelt zu werden. Sehr viele Bischöfe und ganze Bischofskonferenzen getrauten sich nicht mehr, sich für ihre vom Zweiten Vatikanischen Konzil zugesprochenen Rechte und Pflichten in der Leitung ihrer Lokalkirchen zu wehren und nötige Reformen in ihren Teilkirchen anzupacken. Die Antwort der Bischöfe auf Reformforderungen ihrer Seelsorger und Gläubigen wurde immer gleicher: "Wir sehen das Problem, aber wir können leider nichts machen. Das ist Sache der Universalkirche." Und allzu viele Professoren und Professorinnen der Theologie wag(t)en nicht mehr, auch heisse Eisen aufzugreifen und sich kritisch zu äussern, insbesondere zu Fragen der Sexual- und Ehemoral oder zur Weihe von Frauen.

Aus diesem Grund sind – von löblichen Ausnahmen abgesehen – sowohl die Bischöfe wie auch die Theologie zu lahmen Enten in Sachen Reform geworden, was im Gegenzug dazu den Ruf nach Reformen aus dem sog. Kirchenvolk immer stärker anschwellen liess. Immer mehr Kirchenglieder sind nicht mehr Schafe in der Herde ihrer (Ober-)Hirten. Sie beugen sich nicht mehr stumm der kirchlichen Befehlsgewalt, wie sie im Kirchenrecht von 1983 nochmals drastisch festgeschrieben wurde: "Was die geistlichen Hirten in Stellvertretung Christi als Lehrer des Glaubens erklären oder als Leiter der Kirche bestimmen, haben die Gläubigen im Bewusstsein ihrer eigenen Verantwortung im christlichen Gehorsam zu befolgen" (can. 212).

2.2. Warum sich die Kirche bei gewissen Reformen selbst im Wege steht

Ich beschränke mich jetzt auf Moral- und Rechtsfragen. Das grösste Hindernis für dringliche Reformen, soweit sie Änderungen kirchlicher Lehren und Rechtsnormen verlangen, liegt an einem überholten Verständnis der Entstehung und Begründung von Moral und Recht und einem monarchisch-hierarchisch überzeichneten Kirchen- und Lehramtsverständnis "der Kirche" als "Mutter und Lehrmeisterin der Völker". Das Ganze ist sorgsam überdeckt durch einen nach dem Ersten Vatikanischen Konzil (1870/1871) entstandenen, offiziell nie zugegebenen "Schleier der Unfehlbarkeit" über immer weitere Teile der kirchlichen Lehre. Das gilt besonders in den heute umstrittenen ethischen und rechtlichen Fragen der Ehe- und Sexualmoral, und zwar deswegen, weil die Ehe- und Sexualmoral schon seit der christlichen Frühzeit zum absoluten Schwerpunkt der kirchlichen Moral geworden ist. Auch was nie explizit "unfehlbar" erklärt wurde, ist laut römischen Mahnschreiben im strikten Gehorsam zu glauben und zu leben!

Das hier immer noch geltende lehramtliche Hintergrundverständnis basiert auf folgendem Muster, geprägt durch die sog. Neuscholastik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts:

  • "Die Kirche" – in der lehramtlichen Sprache meist identisch mit dem Lehr- und Leitungsamt – ist der absolut sichere Hort der durch Gott gegebenen Wahrheit. Gott hat seinen ewigen Willen zuerst wortlos geoffenbart in der Schöpfungsordnung, erkennbar im sog. Naturrecht. Dieses kann von allen Menschen durch die Vernunft erkannt werden auch ohne Glauben und ist darum universal gültig. Das ist lehramtlich bis heute aktuell, wenn es um Sexual- und Ehemoral geht.
  • Gott hat seinen Willen später auch ausdrücklich geoffenbart, endgültig in Jesus Christus. Diese Offenbarung ist gespeichert in der Bibel.
  • "Die Kirche" gibt die geoffenbarte Wahrheit in der kirchlichen Lehre unverfälscht weiter. Die Hauptverantwortlichen dafür sind die Bischöfe als Nachfolger der Apostel (Mt 28,16–20), immer unter Leitung des Papstes als Nachfolger Petri mit dem absoluten Primat (Mt 16,18 f.; Joh 21,17).
  • Damit die Kirche als Ganze in der Wahrheit bleibt und jedenfalls im Mark des Glaubens und der Moral nicht in die Irre gehen kann, wurde insbesondere dem Lehramt der Heilige Geist als Beistand geschenkt, als Garant der von der Kirche verkündeten gottgegebenen Wahrheit.

Die ethisch-rechtliche Pointe dieses Ansatzes ist die: Wenn das Lehramt seine Lehre in so wichtigen Fragen wie der Sexual- und Ehemoral ändern würde, wenn sie also jetzt z. B. neu lehren würde, die bisher unter Todsünde verbotene künstliche Empfängnisverhütung sei nun erlaubt, dann hiesse das doch, dass sich das Lehramt fast 2000 Jahre lang in einer wichtigen Sache geirrt hat. Das wäre ein ungeheurer Autoritätsverlust "der Kirche". Aber: Wenn der Heilige Geist die Kirche mit Sicherheit vor Irrtum bewahrt, dann war die kirchliche Sexual- und Ehemoral immer richtig. Sie kann und darf nicht geändert werden, Reformforderungen hin oder her. Man lese zum Beleg des skizzierten lehramtlichen Denkens z. B. die Enzyklika "Humanae vitae" von 1968, insbesondere die Schrift "Zu einigen Fragen der Sexualethik" von 1975 oder die späteren Verlautbarungen von Johannes Paul II. und seiner Glaubenskongregation unter Leitung von Josef Kardinal Ratzinger zu Fragen der "Familie", wie es seit einiger Zeit allumfassend heisst.

Was die Entstehung und Begründung von Moral und Recht betrifft, hat das Zweite Vatikanische Konzil in "Gaudium et spes" ein erfreuliches "Aggiornamento " geschafft: Es gebe eine Autonomie der gesellschaftlichen Bereiche, d. h. eine Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft, der Politik, der Wirtschaft usw. Auch die offizielle katholische Soziallehre hat diesen Schritt mitvollzogen und seitdem öfter ungewohnt bescheiden festgehalten, dass das Lehramt abgesehen von wichtigen Prinzipien (Personalität, Solidarität, Subsidiariät) nicht einfach sagen könne, was die richtige Gesellschafts- oder Wirtschafts- oder Staatsordnung sei, was nicht heisst, dass die Kirche da nicht mitreden darf und sogar soll. Am Konzil wurde verstanden, dass die soziale Moral oder Ethik des gerechten Lebens im Laufe der Geschichte in unterschiedlichen Zeiten, Kulturen, Räumen und Situationen allmählich entstanden ist und dem ständigen Wandel unterworfen ist.

In Wirklichkeit gibt es aber diese Eigengesetzlichkeit nicht nur in gesellschaftlichen und darum sozialethischen Sachbereichen. Moral ist wie das Recht eine menschlich autonome Grösse. Sie ist weder einfach ein Diktat Gottes noch eine Vorgabe der Natur. Moral ist verbindlich nicht wegen einer Autorität, sondern aufgrund menschlicher Einsicht in Gut und Böse, Richtig und Falsch. Moral und Recht sind geworden durch Menschen in einem sozialen Prozess, getragen vom jeweiligen Wissen und von guten oder schlechten Erfahrungen auf der Suche nach dem individuellen Glück und dem Allgemeinwohl. Die entstehende Moral war immer beeinflusst und getragen von irgendeinem Glauben je nach Raum, Zeit und Kultur. Moral und Recht waren und bleiben trotz bleibenden Grundsätzen – etwa als Zehn Gebote, heute als Menschenrechte – immer im Wandel. Es gab faktisch schon immer, aber seit der Aufklärungszeit bewusster als früher eine sozial verankerte, auch personale Autonomie (wörtlich: Selbstgesetzgebung; Gewissen!) in moralischen und rechtlichen Fragen, und zwar auch in den Bereichen, welche als ureigene Domäne der Kirche gesehen werden: Sexualität, Weitergabe des Lebens, Ehe und Familie.

Schaut man nun historisch genauer hin, dann zeigt sich, dass in der katholischen Kirche das Lehramt im Laufe der Zeit die kulturell unumgängliche – gottgeschaffene und gewollte! – menschliche Autonomie monopolisiert hat und mit vermeintlich ewig gültigen naturrechtlichen wie mit biblischen Vorgaben und der ganzen Tradition schon immer ziemlich autonom umgegangen ist. Darum wurden die lehramtliche Moral und die Gesetzgebung im Laufe der Geschichte in verschiedener Hinsicht auch geändert. Das gilt auch in der heute umstrittenen Sexual- und Ehemoral. Die gängige lehramtliche Behauptung einer "beständigen kirchlichen Lehre" vernebelt diesen Sachverhalt.

Wers nicht glauben kann, möge mal die Geschichte der kirchlichen Sexual- und Ehemoral und des kirchlichen Eherechts im Detail studieren. Da musste (!) seit neutestamentlicher Zeit immer wieder neu interpretiert, präzisiert, ergänzt oder auch mal grosszügig übersehen oder weggelassen werden, immer in der Überzeugung, dem Naturrecht als Schöpfungsordnung, der Bibel im Allgemeinen und den Herrenworten im Besonderen und der kirchlichen Tradition die Treue gehalten zu haben. So galt z. B. in der rigiden Sexualmoral bis ins 16./17. Jahrhundert absolut, dass ein ehelicher Geschlechtsverkehr nur in Zeugungsabsicht (!) sündlos sein könne. Die Sündigkeit eines Verkehrs in der Ehe allein der Lust wegen blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein moraltheologisch umstritten. Seit "Casti connubii" 1930 ist auch die – unausgesprochen: lustvolle – "Regelung des natürlichen Verlangens" ein legaler, sekundärer "Ehezweck " (Nr. 50). Man sehe sich auch die historische Entwicklung der heute geltenden moralischen und kirchenrechtlichen Vorschriften an zum Verständnis der Ehe, zu ihrem gültigen Zustandekommen (Ehehindernisse, Freiheit, Ehewille, Formpflicht, Dispensen), zum endgültigen Gültigwerden der Ehe durch Geschlechtsverkehr (erst) in der Ehe, zur Definition der Unauflöslichkeit, zur Sakramentalität, zum "Privilegium Petrinum". Das ist weder Naturrecht noch "Herrenwort", noch "ius divinum" noch das jetzt propagierte "Evangelium (!) der Familie". Es sind autonome kirchliche Festlegungen!

Dieser autonome Umgang mit Jesusworten und Bibel überhaupt ist kirchlich auch sonst belegt. Laut dem Matthäus-Evangelium hat Jesus in der Bergpredigt unmittelbar nach dem Ehescheidungsverbot auch das Schwören radikal verboten (Mt 5,35–37). Es wird aber in keiner religiösen Institution dieser Welt mehr geschworen als in der katholischen Kirche. Auch mit den kritischen Worten Jesu zur Wahrnehmung der Macht, zur Gewaltanwendung und zu den Gefahren des Reichtums hat man bei Päpsten, Bischöfen und Fürstäbten kaum je Probleme gehabt. Das war Sache der Orden, und auch hier fand man immer autonome Auswege.

Ich will mit all diesen kritischen Hinweisen nicht sagen, die Kirche hätte sämtliche Worte Jesu und biblische Aussagen überhaupt immer 1:1 umsetzen müssen. Das gelingt nicht einmal ausgekochten Fundamentalisten. Christen (und Juden) können mit der Bibel gar nicht anders als autonom umgehen, gestützt auf Glaube und Vernunft, nach jeweiligem Wissen und Gewissen in Anpassung an die Situation. Das kann auch mit Irrtum verbunden und für das menschliche und kirchliche Leben unnötig belastend sein. Das Problem ist, den Heiligen-Garantie- Geist immer auf seiner Seite zu wissen und damit "die" Wahrheit sicher zu besitzen.

3. Ausblick

Solange das Lehr- und Leitungsamt der katholischen Kirche glaubt, an umstrittenen traditionellen Regelungen ohne Abstriche festhalten zu müssen, kann "die Kirche" vielen heutigen Menschen, die sich in ihrer oft leidigen Lebenssituation von "der Kirche" nicht verstanden und ernst genommen fühlen, nicht hilfreich begegnen. Um aus der Blockade herauszukommen, sollten die Träger des Lehramts den neuen Denkansatz des Zweiten Vatikanischen Konzils aufnehmen und im Sinne der modernen philosophischen und theologischen Ethik, gestützt durch Geschichtswissenschaft und Soziologie, weiterdenken. Lehramtsträger sind mit der ganzen Kirche in Abhängigkeit von der jeweiligen Kultur und gestützt auf den Glauben ein Teil der autonomen menschlichen Normfindung. Sie haben darum in der Findung der in der Kirche geltenden Lebensordnung mehr Freiheit, als sie sich selbst zutrauen.

Sie sind nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, im Gehorsam gegenüber dem Willen des Schöpfer-Gottes und dem Wort Jesu sowohl ihre Lehre wie die Disziplin zu ändern, wenn das angesichts menschlicher Not nottut. Das müsste in intensiver Zusammenarbeit des Papstes mit den Bischöfen, mit den Seelsorgern und Seelsorgerinnen, den direkt Betroffenen und eigentlich mit den christlichen Gemeinden geschehen. Dafür gibts gewichtige "Herrenworte". Jesus hat nicht nur zu Petrus gesagt: "Was du auf Erden binden (…) lösen wirst, soll auch im Himmel gebunden (…) gelöst sein" (Mt 16,19), er hat das Gleiche (!) zur ganzen Christengemeinde gesagt: "Was ihr auf Erden binden (…) lösen werdet, soll auch im Himmel gebunden (…) gelöst sein" (Mt 18,18). Und: Wer den Menschen im Namen Gottes Verpflichtungen auferlegt, möge sich Jesu Wehe-Worte zu Herzen nehmen: "Weh euch Gesetzes- lehrern! Ihr ladet den Menschen Lasten auf, die sie kaum tragen können, selbst aber rührt ihr keinen Finger dafür" (Lk 11,46).

Wir dürfen hoffen, dass der nicht domestizierbare, Neugeburten schaffende Heilige Geist (Joh 3,7 f.) die Kirche – uns alle – weiter in die ganze Wahrheit führen wird (Joh 16,13), denn die werden wir nie ganz besitzen.
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* Der Beitrag ist eine stark gekürzte und bearbeitete Version des Vortrages an der Seniorenuniversität Luzern vom 23. Oktober 2014.

 

 

Hans Halter

Der Churer Diözesanpriester Hans Halter war von 1977 bis 1990 Professor für Moraltheologie und Sozialethik an der Theologischen Hochschule Chur und von 1990 bis 2004 Professor für Theologische Ethik mit Schwerpunkt Sozialethik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.