Recht auf Ehe, Lebensgemeinschaft und Familie

 

Die Ehe für alle hat längst eine gesellschaftliche Mehrheit. Selbst die CVP hat ihren Widerstand aufgegeben, und die Schweizer Bischofskonferenz erklärt sich für nicht zuständig. Man akzeptiert die Realitäten. Doch für die Kirche geht es um mehr. Demokratie, Menschenrechte, Religionsfreiheit, Gleichberechtigung – jetzt die Ehe für alle … All diese Standards unseres Zusammenlebens haben sich gegen kirchlichen Widerstand durchgesetzt. Manchmal hiess es später: die Kirche sei Verteidigerin der Demokratie, der Menschenrechte und der Religionsfreiheit. Dieses Muster kann unterschiedlich gedeutet werden: hier der schmerzhafte Niedergang kirchlicher Deutungsmacht, dort der Sieg von Säkularisierung und Emanzipation.

Theologisch scheint mir eine dritte Position sinnvoll. Sie interpretiert das Ringen zwischen Kirche und Gesellschaft als Praxis der Evangelisierung. Es geht um den zuweilen schmerzhaften Prozess der Inkulturation, der geschichtlichen Konkretisierung des Evangeliums. Alle oben genannten gesellschaftlichen Entwicklungen haben starke Wurzeln im jüdisch-christlichen Erbe. Immer geht es um die Würde der Menschen, um Leben, Anerkennung, Gerechtigkeit und Recht – und damit um Kernanliegen der jüdisch-christlichen Tradition. Es geht um zentrale Hoffnungsthemen des Glaubens an Gottes Heilsversprechen eines Lebens in Fülle.

Hier zeigt sich eine ebenso konfliktreiche wie missionarische Erfahrung der Kirche: Sie kann die frohe Botschaft, die sie bezeugt, nicht in ihren eigenen Grenzen einmauern. Das Versprechen des Evangeliums, die Fülle des Lebens, übersteigt alle Grenzen – auch die der Kirche. Deshalb ist eine missionarische Kirche keine geschlossene Heilsanstalt, sondern Sauerteig. Das zeigt sich auch bei der Ehe. Die religiös gedeutete Ehe ist eine Konkretisierung der Heilszusage Gottes an alle Menschen. Deshalb versteht die katholische Tradition die Ehe als Sakrament. Mit der Einführung der Zivilehe, 1874, wurde die Ehe jedoch der kirchlichen Deutungshoheit entzogen. Sie ist in fremde Hände geraten. Hier setzt sich die Inkulturation der Ehe fort. Das Heilszeichen Gottes ist weiterhin präsent, aber es zeigt sich in neuen Formen. Die Ehe wird zeitgenössisch. Viele Menschen erkennen heute in der Ehe für alle genau diejenigen Werte, um die es der jüdisch-christlichen Tradition im Kern geht: Würde, Leben, Anerkennung, Gerechtigkeit und Recht.

Zu dieser Situation muss die katholische Kirche ihr Verhältnis finden. Sie könnte jetzt ihr Eheverständnis z. B. auf Heterosexualität engführen. Als Heilszeichen würde eine so verstandene Ehe dann kaum anerkannt werden, eher als Ausdruck von Diskriminierung. Die Kirche könnte sich auch mit der gesellschaftlich erreichten Situation zufrieden geben. Dann schrumpfte ihre Rolle auf das Mass dekorativen Zubehörs bei Eheschliessungen. Schliesslich könnte sich die Kirche über die Inkulturation des Evangeliums freuen und zugleich das je grössere Versprechen des Evangeliums wachhalten und kritisch einbringen.

Arnd Bünker

 

Arnd Bünker (Jg. 1969) studierte Theologie in Münster und Belo Horizonte (Brasilien) sowie Sozialpädagogik in Münster. Seit 2009 ist er Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI) und geschäftsführender Sekretär der Pastoralkommission der Schweizer Bischofskonferenz. (Frontbild: www.unsplash.com)