Provokantes zum Schluss

Sabine Rüthemann, Kommunikationsverantwortliche des Bistums St. Gallen, geht Ende August in Frühpension. In ihrem letzten Beitrag für diese Rubrik schaut sie zurück und nach vorn.

Vor gut 20 Jahren habe ich mich nach Anfrage für die Stelle der Kommunikationsbeauftragten Bistum St. Gallen beworben. Im Dekanatsflügel mit grossen Heiligenfiguren und alten Bildern war mir klar: Das ist nicht meine Welt. Fast eine Stunde Telefongespräch mit dem damaligen Bischof Ivo Fürer später sagte ich doch zu. Zeitweise bereut habe ich es erst im vergangenen Jahr.

Eine objektive, sinnvolle und gleichzeitig emphatische Kommunikation über die Vorstudie Missbrauch war eine entkräftende, eigentlich unlösbare Aufgabe. Nicht allein wegen der belastenden Resultate, wegen der teils oberflächlichen Berichterstattung oder wegen internen wie externen Pauschalurteilen. Die grösste Ernüchterung und Enttäuschung lösten bei mir kircheninterne Kreise aus.

Jeder Missbrauch, egal zu welcher Zeit, ist ein Verbrechen und Betroffene leiden oft ein Leben lang, das möchte ich vorausschicken, und es ist mir sehr ernst damit. Ich habe mit mehreren Betroffenen gesprochen, habe Unterlagen studiert und alles zusammen hat mich tief getroffen. Die Enttäuschung, dass in «meiner Kirche» so viel Leid verursacht wurde und vermutlich auch immer wieder wird, bleibt. Trotzdem muss auch die sachliche Einordung der Vorstudien-Ergebnisse ihren Platz haben ohne den Vorwurf nur abzuwiegeln, zu vertuschen oder zu verteidigen.

Meine nachfolgenden und zugegeben provokativen Sätze richten sich vor allem an kircheninterne Kreise:

Hört auf so zu tun, als ob im Jahr 2024 noch alles so ist wie vor 30, 40, 50 oder 70 Jahren. Die Verantwortlichen der Kirche haben furchtbare Fehler gemacht, sie machen immer noch Fehler, das ist nie ganz zu vermeiden. Nirgends! Und die von den Bischöfen im September 2023 versprochenen Massnahmen sollten schneller umgesetzt werden können. Doch die Institution Kirche mit all ihren Verantwortungsträger/innen hat aus diesen schlimmsten Erfahrungen heraus auch dazu gelernt, vielleicht sogar mehr als andere Organisationen. Das ist meine konkrete Erfahrung über die letzten 20 Jahre.

Hört auf zu verschweigen, dass die allermeisten Verbrechen Jahrzehnte zurückliegen oder dass die Studie von den Bischöfen, der RKZ und den Ordensgemeinschaften selber in Auftrag gegeben wurde. Hört auf, betreffend Kirche vor allem die Defizite zu betonen. Ich bin nicht naiv oder unkritisch. Aber diese teilweise Schwerpunktsetzung seit der Studienveröffentlichung wird dem kirchlichen Leben und Engagement, insbesondere an der Kirchenbasis nicht gerecht. Aber genau dort schadet sie sehr.

Hört auf so zu tun, als habe es in den vergangenen 70 Jahren (die Studiendauer) keine Veränderungen gegeben. Auch wenn dringende Reformen wie eine Gleichberechtigung aller Katholikinnen und Katholiken ausstehen, es ist nicht nichts passiert. Mein persönlicher Wunsch wäre allerdings kein erweiterter Kleriker/innen stand, sondern eine echte Gleichberechtigung.

Hört genauso auf so zu tun, als ob irgendjemand gezwungen wäre, zölibatär zu leben. Oder in einem anderen kirchlichen Dienst auf (überfällige) Veränderungen zu warten, auch wenn die Geduld aufgebraucht ist und das Leiden zu gross wird. Jeder und jede ist für die eigene Lebensgestaltung verantwortlich, sie kann nicht der Institution Kirche übergeben oder gar angelastet werden. Ich gebe zu, auch ich habe in schlimmen Stunden daran gedacht, dieser Kirche den Rücken zu kehren. Ich habe es nicht getan, denn für mich überwiegt immer noch sehr deutlich das Positive.

Ende August ist Schluss, ich gehe in Frühpension und nehme mir jetzt erst recht die Freiheit, zu provozieren. Vielleicht trägt Provokation bei zu einer ehrlichen, vertieften Diskussion und sogar wieder zu mehr Frieden in der (offiziellen) Schweizer Kirche. Das wäre mein grosser Wunsch zum Abschied.

Sabine Rüthemann


Sabine Rüthemann

Sabine Rüthemann (Jg. 1962) ist seit 2003 Kommunikationsbeauftragte des Bistums St. Gallen.