Potenzial Kirchenmusik

Notenschlüssel

Dass die Musik nicht nur einen unterhaltenden oder einen strukturierenden, sprich «zwischenspielenden» Charakter hat, ist sich besonders die Kirche bewusst.

Vor gut 50 Jahren erklärte sie die Musik zum «notwendigen und integrierenden Bestandteil» des Gottesdienstes, der seinerseits im Tun der Kirche «Quelle» und «Gipfel» ist. Die Kombination dieser beiden Artikel SC 112 und 10 der Liturgiekonstitution von 1963 zeigt dies eindeutig. Die Kirche braucht und will für ihre Feierpraxis Musik, in den Charakteren verkündigend, liturgisch aktiv («Aktionsgesang»), begleitend und auch pastoral-seelsorgend. Die Anleitung und Ausübung dieses liturgischen Dienstes ist üblicherweise den Kirchenmusikern und Kirchenmusikerinnen vorbehalten.

Für den Fall, dass Sie Gottesdienste leiten oder in diesen mit einer besonderen Beauftragung mitgestaltend sind, bitte ich Sie zunächst um folgende Überlegungen: Wann haben Sie letztmals Kirchenmusik in den vier erwähnten Charakteren bewusst wahrgenommen, eingesetzt, erlebt und diese allenfalls auch von Ihrem Kirchenmusiker, Ihrer Kirchenmusikerin gewünscht – bis eingefordert? Sind Sie sich des künstlerischen wie auch pastoralen Potenzials Ihrer musikalisch Mitarbeitenden bewusst? Und besonders: Nutzen Sie dieses Potenzial?

Potenzial nutzen

Bitte lassen Sie sofortiges Klagen und Anklagen beiseite. Jammern Sie nicht über die liturgische wie spieltechnische Unfähigkeit Ihrer Organistin und über die alleinige Orchestermessenpflege Ihres Chorleiters, der «aus künstlerischen Gründen» keine Gemeindelieder will und dem jede «blue note» ein Gräuel ist. Falls Sie dennoch soeben ein Klagelied angestimmt haben, so gehen Sie bitte unverzüglich zur Nachfrage, wie weit diese Situation auch selbstverschuldet ist. Entscheiden Sie dann, ob Ihre unbefriedigende kirchenmusikalische Situation auf einer falsch verstandenen Anstellungsbarmherzigkeit gründet oder Sie sich Ihrer Kirchenmusikerin, Ihrem Kirchenmusiker schlichtweg ausgeliefert haben, zwischenzeitlich gar resigniert und klein beigegeben haben. Bitte vergessen Sie nicht, dass wir uns soeben mit dem «Gipfel des kirchlichen Tuns» befassen.

Nutzen Sie das Potenzial Ihres Organisten, Ihrer Chorleiterin! Diesen Satz beschliesse ich hier nicht mit Fragezeichen. Werden Sie sich zunächst bewusst, was Ihnen selbst die Kirchenmusik bedeutet, was Sie sich von der Kirchenmu sik in Ihrer Pfarrei erhoffen und was Sie von ihr wollen. Dazu müssen Sie die Kirchenmusik nicht einmal zwingend lieben, Sie dürfen sich selbst sogar als «unmusikalisch» bezeichnen. Aber – und hier setzt das ganz grosse Aber ein: Als gottesdienstleitende und -gestaltende Person sollten Sie erkennen oder wenigstens erahnen, was geistliche Musik (auch jene auf hohem Qualitätsniveau stehend) für andere Menschen bedeuten kann. Und vertrauen Sie nicht zuletzt Ihrer Kirche, die diese Sache bereits mit zwei Artikeln 112 und 10 ganz gut hingekriegt hat.

Wünsche äussern

Äussern Sie gegenüber den Ausführenden der Kirchenmusik Ihre Wünsche, und verlangen Sie etwas von ihnen. Dann aber – es folgt das zweite grosse Aber: Unterstützen Sie Ihre Organistin und Ihren Chorleiter, begleiten Sie sie. Ermöglichen Sie ihnen die Teilnahme an den Schweizerischen Kirchenmusikwochen, fördern Sie sie mit dem Abonnement einer Fachzeitschrift, und leisten Sie auch in finanzieller Hinsicht Unterstützung für Aus- und Weiterbildungen. Nutzen Sie alle Kanäle – denn die Kirchenmusik kennt leider keine Weiterbildungspflicht! Und achten Sie darauf, dass auch Sie selbst regelmässig ein liturgisches Update erfahren. Erkennen Sie Ihre gemeinsamen Stärken, und spornen Sie sich gegenseitig an.

Dennoch, es gibt sie: weiterbildungsresistente Personen. Jene, die zum Beispiel die Begleitung von «so simplen» Gemeindeliedern unter ihrer Würde finden und völlig unkreativ mit ihnen umgehen. Dazu mein Rat: Verabschieden Sie sich von diesen Personen. Suchen Sie die beste Lösung für Ihre Gemeinde. Wir sind noch immer beim «Gipfel des kirchlichen Tuns».

Ich freue mich für Sie, wenn Sie die letzten Abschnitte überspringen durften und Sie die Kirchenmusik in Ihrer Pfarrei als geglückt, passend und in der Relevanz zum liturgischen Tun derart stimmig erleben, dass sie je nach Situation die Schönheit der Liturgie unterstreicht oder im Dialog mit vielen Rollenträgerinnen und -trägern eine gemeinsame oder dialogisierende Mitmachmusik ermöglicht. Ich freue mich für Sie, wenn Anbetung und kommunikatives Geschehen in vielerlei musikalischen Stilen erklingt und Sie Ihre Kirchenmusiker zu Ihren wichtigsten pastoralen Mitarbeitenden zählen.

Kirche braucht Musik

Einige von Ihnen, besonders jene, die den letzten Abschnitt überspringen mussten, werden mir entgegenhalten, dass dies ja alles schön und gut sei, aber schlichtweg nicht der Realität entspreche. Schliesslich müsse man um jede orgelspielende und dirigierende Person dankbar sein, die sich zum Dienst in der Kirche finden lasse. Sie haben nicht Unrecht. Die Kirchenmusik kennt tatsächlich ein Problem: Die Kirche braucht mehr Musik, als Kirchenmusizierende diese in einer fachgerechten Ausübung leisten können. So hat auch die Kirchenmusik eine Personalsorge – und dies, obwohl sich mancherorts die berufsmässigen Anstellungsbedingungen in den letzten Jahren zu Gunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entwickelt haben. Dennoch ist die Studierendenzahl in der Kirchenmusik vergleichsweise niedrig. Weshalb? Traut man der Kirche nicht? Traut man der Politik nicht? Dies obwohl 2014 die kantonalen Trennungsabstimmungen in Graubünden und Zürich sowie die diesjährige Unternehmungssteuerreform für die Kirche glatt ausgegangen sind.

Oder ist Kirchenmusik einfach zu anspruchsvoll? Der Anspruch ist in der Tat sehr hoch, da sie weitaus mehr als «nur» von der musikalischen Funktion bestimmt ist. Sie steht zwischen hohem künstlerischen Anspruch und einer Einfachheit, die aber gerade dadurch das Mittun aller ermöglicht – wobei die Kunst nun darin besteht, beides fachgerecht einzusetzen. Sie steht theologisch zwischen «verdichteter Theologie», wie diese in vielen Kirchenliedtexten zugegen ist und einer manchmal bewusst einfachen, zugänglichen Sprache: «Singt dem Herrn alle Völker und Rassen» (KG 536). Sie steht stilistisch zwischen Gregorianik, geht über die Schubert-Messe bis hin zum gerappten Gloria. Sie pflegt den musikalischen wie menschlichen und oft auch (kirchen-) pädagogischen Umgang mit Altersklassen von etwa 5 bis 95 Jahren.

Und dann ist ja noch das Eigentliche: Das Spielen, Dirigieren, Singen – das künstlerische Handwerk, das in vielen, vielen Stunden des Übens erlernt und erarbeitet werden muss. Es kommt in der Kirchenmusik ganz schön viel zusammen! Es ist gut, sich dies im gemeinsamen Vorbereiten und Feiern hin und wieder zu vergegenwärtigen.

Nicht nur Können, auch Wollen

Im Wissen darum, dass in der Liturgie vieles vom Können und von Erfahrungen bestimmt ist, gehen Sie bitte noch einen Schritt weiter: Stellen Sie sicher, dass Liturgie über das Können hinaus zu mindestens gleichen Anteilen auch ein Wollen ist. Von Kirchenmusikern und Kirchenmusikerinnen, die diese umfassende Benennung tatsächlich verdienen, muss und darf das Können selbstverständlich vorausgesetzt werden – und das Wollen hat mindestens gegenseitig zu geschehen. Zusammen mit Ihnen.

 

Martin Hobi

Martin Hobi ist Professor für Kirchenmusik an der Hochschule Luzern und Dozent an der Diözesanen Kirchenmusikschule St. Gallen. Lehrauftrag Kirchenmusik an der Universität Luzern. Redaktor der schweizerischen Fachzeitschrift «Musik und Liturgie». Kirchenmusiker/Organist in Hinwil und künstlerischer Leiter des Badener Vokalensembles.