Niklaus von Flüe – Wort der Schweizer Bischöfe auf den 1. August 2017

Die Schweiz gedenkt 2017 in reicher Vielfalt des Niklaus von Flüe, der vor 600 Jahren das Licht der Welt erblickte. Die Schweizer Bischöfe richten mit diesem Schreiben ein Wort an das Volk, das den heiligen Eremiten in seiner spirituellen Eigenart zu umreissen und seine Botschaft für die heutige Zeit zu skizzieren versucht.

Das Leben von Niklaus von Flüe

Niklaus von Flüe kam 1417 auf dem Flüeli in Sachseln OW zur Welt. Seine Eltern waren Bauern. Auch er wuchs zum Landwirt heran und besass einen stattlichen Eigenbetrieb. 1447 heiratete er Dorothea Wyss. Dem Paar wurden zehn Kinder geschenkt. Niklaus war angesehen und versah Ämter in Sachseln und im Land Obwalden, für das er als Landammann vorgesehen war. An den Landesauszügen jener Zeit nahm er als Rottmeister teil. 1467 gab Niklaus von Flüe Familie, Heim und Hof, auch alle Ämter auf und zog sich in den Ranft zurück, um Gott in Einsamkeit und Gebet näher zu sein. Innerlich geläutert, wirkte er als Menschenfreund und Friedensmahner in politisch stürmischer Zeit. 1487 beendete Niklaus von Flüe sein Leben. Die Verehrung setzte sogleich ein. Sie ist in katholischen, reformierten und weiteren christlichen Konfessionen sowie in nichtchristlichen Religionen lebendig. 1649 erfolgte die Selig-und 1947 die Heiligsprechung. Bruder Klaus gilt heute in der Schweiz und weit über die Grenzen hinaus als Schutzpatron des Friedens.

Wir richten einen dreifachen Blick auf den Eremiten vom Ranft: auf den Beter und Mystiker; auf den Mahner zu Friede und Gerechtigkeit; schliesslich auf den Ehemann und Vater sowie den menschenfreundlichen Helfer in mannigfacher Not.

Botschaften des Heiligen

Beter und Mystiker

Niklaus hörte die innere Stimme, die ihm seit der Jugendzeit ein Leben nahelegte, das in besonderer Weise mit Gott verbunden ist. Und er folgte ihr. Er brach die aussichtsreiche politische Karriere ab und verliess alles, um dem Rufe zu gehorchen. Er brach als Pilger in eine ungewisse Zukunft auf, um dann nach dem Scheitern dieses Versuches im Ranft, wo er für seine Familie erreichbar blieb, seine Abgeschiedenheit zu finden. Er lebte fortan in strenger Askese. So soll er sich jeglicher Speise und jeglichen Trankes enthalten und einzig von der Eucharistie ersättigt haben.

Der Tagesablauf des Einsiedlers ist nirgends überliefert. Doch steht fest, dass das Gebet sehr bestimmend war. Die ältesten Bilder des Heiligen zeigen ihn immer mit der Gebetskette, der Vorgängerin des Rosenkranzes. Niklaus pflegte das «Vater unser» zu beten, wobei er an die einzelnen Bitten Betrachtungen anschloss. Vertraut gewesen sein dürfte dem Beter Niklaus auch das «Grosse Gebet der Eidgenossen».

Der grosse Beter war mit der Gabe der Mystik begnadet. An Anregungen fehlte es Niklaus nicht. Die Mystiktradition seit der Zeit der Wüstenväter bis ins Spätmittelalter, als besonders Heinrich Seuse und die Laienbewegung der «Gottesfreunde» einflussreich waren, berührten, über verschiedene Kreise vermittelt, auch Bruder Klaus. Oft und oft sprach er vom «Einig Wesen», mit dem sich zu verbinden sein tiefstes Verlangen war. Darum bat der Mystiker im Gebet, das auch wir heutige Christen mitsingen und mitbeten:

Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir.
Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert zu dir.
Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.

In Not und Bedrängnis vertiefte sich Niklaus vor allem in die Betrachtung der Passion Christi. Zu jeder kanonischen Stunde von der Vesperzeit am Abend bis zur Non am Nachmittag des nächsten Tages hielt er inne und vergegenwärtigte sich den Leidensweg Jesu vom Ölberg bis zur Hinrichtung auf Golgotha und zum Tod am Kreuz. Der Mensch solle das Leiden Christi im Herzen tragen, so der Gottsucher, dies sei der grösste Trost am letzten End.

Bruder Klaus hatte in seiner Einsiedelei auch ein Betrachtungsbild. Dieses bezeichnete er, er war ja des Lesens unkundig, als «mein Buch, darin ich lerne und suche die Kunst dieser Lehre». Das Bild wird von den vier Evangelistensymbolen umrahmt, was unterstreicht, dass die Evangelien die Grundlage des Bildgehaltes sind. Die Darstellung zeigt in der Mitte die ungeteilte Gottheit, die als Schöpfervater, als eingeborener Sohn und als heiliger Geist die Geschichte leitet. Das Heilsgeschehen wird, in sechs Bildern verdichtet, ausgedrückt durch: Schöpfung, Verkündigung, Geburt, Verrat im Ölberg, Kreuzestod, Messopfer. In Symbolen sind die Werke der Barmherzigkeit angetönt, mit denen die Menschen als Antwort auf die Liebe Gottes beauftragt sind. Niklaus von Flüe war diese Glaubenslehre wichtig, er mahnte, Anfeindungen im Glauben ritterlich zu widerstehen.

Mahner zu Friede und Gerechtigkeit

Niklaus von Flüe zeichnete sich aus durch sein mutiges, von christlicher Überzeugung geprägtes politisches Engagement. Er stellte sich für Dorf- und Landesämter zur Verfügung. Auch in der Einsiedelei im Ranft war er über die Zeitläufe bestens informiert und von eidgenössischen Orten wie auswärtigen Herrschaften als Ratgeber aufgesucht. Seine Kernbotschaften waren: Selbstbestimmung; Kompromissfähigkeit; Friede und Gerechtigkeit.

Auf Gemeindeebene war dem Politiker Niklaus von Flüe die Loslösung der Dorfschaften von adeligen und kirchlichen Feudalstrukturen ein Anliegen. Die Menschen sollen, so wollte es Niklaus von Flüe, ihren eigenen Lebensraum selbst gestalten können. Deshalb setzte er sich für freie, von den Betroffenen selbstbestimmte öffentliche Strukturen ein. Damit nahm Bruder Klaus vorweg, was die neuzeitliche Soziallehre der Kirche als Subsidiaritätsprinzip zu Recht stark gewichtet.

Niklaus’ Ratschlag von 1481 an die Tagsatzung von Stans ermöglichte eine Einigung unter den eidgenössischen Orten, woraus das bis 1798 gültige Stanser Verkommnis hervorging. Nun konnte die Eidgenossenschaft wieder wachsen und neue Städte- wie Länderorte aufnehmen. Die Worte des Eremiten an die Tagsatzungsgesandten sind zwar nicht bekannt. Was aber feststeht: Sie bewirkten bei den zerstrittenen Lagern rasch einen Kompromiss, ein Verzichten einerseits auf Rechtsansprüche und ein Aufeinander-Zugehen anderseits. Der Gottesmann Bruder Klaus vermochte zu vermitteln. Seine Abgeklärtheit und seine Weisheit verliehen ihm ein Ansehen und eine Überzeugungskraft, die jegliche parteiische Starrheit überwanden.

Niklaus von Flüe trat als Friedensmahner hervor. «Friede ist immer in Gott, denn Gott ist der Friede. Friede wird nicht zerstört werden, Unfriede aber wird zerstört. Darum sollt ihr den Frieden suchen.» So lautete Niklaus’ knappe und klare Botschaft. Sie drückt aus, dass Gott der Gott des Friedens sei (Röm 15,33), dass Friede dem Wesen Gottes entspreche. Friede, ein biblischer Begriff, besagt: Wohlwollen, Einvernehmen, Freundschaft, Befreiung, Heil, Treue. Wolle man Frieden, so Bruder Klaus, solle man in Händeln das Rechtsverfahren nur als äusserstes Mittel beschreiten. Besser sei, gütlich zu wirken, denn Gutes erzeuge wieder Gutes. «Seid einander gehorsam», riet Niklaus weiter. Gehorsam sei die grösste Ehre. Damit in Verbindung brachte der Gottesmann die Weisheit, die alles zum Besten anfange. Für das Gelingen des Friedenswerkes nannte Niklaus als unverzichtbare Voraussetzungen: offenes Unrecht abwehren; der Gerechtigkeit beistehen; Schwache, namentlich Witwen und Waisen, beschirmen; Dankbarkeit gegenüber Gott für irdisches Glück, damit es sich auch im Himmel mehre.

Ehemann und Vater, Menschenfreund

Dass Niklaus von Flüe, um dem inneren Verlangen nach einem Leben in Einsamkeit zu folgen, seine Frau Dorothea mit der zehnköpfigen Kinderschar verliess, wurde immer schon kritisch hinterfragt. Konnte darin der Wille Gottes bestanden haben? Wir werfen einen Blick auf die wichtigsten zeitgenössischen Quellen. Niklaus rang mit diesem Entscheid. Er öffnete sich seiner Frau, sie wusste um die Gewissensnot ihres Gatten. Betriebliche und finanzielle Probleme konnten gut gelöst werden, da bereits erwachsene Söhne für die Führung des Bauernbetriebes da waren. Nach zweijährigem Suchen willigten Dorothea und die Familie in das Vorhaben des Gatten und Vaters ein, was Niklaus später als eine der grössten Gnaden, die Gott ihm geschenkt habe, wertete. Im nahen Ranft war Niklaus für seine Lieben immer erreichbar. Dorothea blieb ihm in Liebe verbunden. Man traf sich in der Einsiedelei zur gelegentlichen Messfeier oder zu Gesprächen und Beratungen. Der fromme Sinn lebte in der Familie weiter. Das jüngste Kind Nikolaus entschied sich zum Priesterstand und wurde später Pfarrer von Sachseln.

Es beeindruckt, wie Niklaus von Flüe trotz Einsamkeit, strengster Askese und intensiver spiritueller Lebensführung weltoffen blieb, sich für alles interessierte und über alles informiert war. Besucher erlebten ihn keineswegs «traurigen Mutes, sondern in allem seinem Tun und Wandeln und Handeln leutselig, mitteilsam, behaglich, fröhlich und zu allen Dingen freundlich». So vermochte er den vielen Menschen, die zu ihm kamen, zu helfen. Er teilte ihre politischen Sorgen und konnte Lösungen vorschlagen. Er half Ungezählten in inneren Nöten und tröstete. Bruder Klaus war nicht nur ein «Gottesfreund», sondern in besonderem Masse auch ein «Menschenfreund».

Niklaus von Flüe und wir

Niklaus von Flüe, die Gestalt aus dem ausgehenden Mittelalter, ist in unserer so andersartigen Zeit bekannter denn je. Das zeigen allein schon die zahlreichen Kirchen und Kapellen in der Schweiz, im benachbarten Ausland und in entfernten Kontinenten, die Bruder Klaus geweiht sind. Was hat der Heilige heute zu sagen? Wir weisen im Folgenden auf einige Botschaften hin, die aus dem Leben und der Spiritualität von Niklaus von Flüe zu uns sprechen können.

Die strenge Askese des Eremiten deutet einen Weg an, von der oft drückenden Befangenheit in Zerstreuung und Konsumsucht frei zu werden. Beherrschen von Leidenschaften, Masshalten in allen Dingen sind für jeden Menschen wichtige Tugenden. Sie befähigen uns, unsere innere Bestimmung zu erkennen und ihr nachzuleben, sie helfen, die eigene Identität zu finden und ganz Person zu werden.

Der Mensch möchte ruhig werden und in sich gehen. Niklaus hat dies vorgelebt im Verzichten auf Unwichtiges und im Beten. Erfüllte Innerlichkeit ist ein menschliches Grundbedürfnis. Darin berühren sich alle Menschen, über Konfessions-, Religions- und Kulturgrenzen hinweg.

Dabei können wir schöpfen aus der spirituellen Tradition des christlichen Abendlandes und aus dem Leben der Kirchen. Die seit der Väterzeit reiche mystische Tradition dauerte auch nach Niklaus von Flüe an, in der katholischen wie in der reformierten Glaubensgemeinschaft. Der über Jahrhunderte gewachsene spirituelle Reichtum erlaubt, die Mystik gemeinsam zu pflegen. Dies kann ein ökumenischer Ansatz sein, auf dem Weg zur Einheit im Glauben Fortschritte zu erzielen.

Das Betrachtungsbild von Bruder Klaus mündet – wie aufgezeigt – aus in den Werken der Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Nackte bekleiden, Kranke besuchen, Fremde beherbergen, Gefangene besuchen, Tote begraben. Sind unsere Kirchen nicht gerade heute aufgerufen, im nahen und fernen Bereich dieser Aufforderung vermehrt nachzuleben? Überzeugende Diakonie gehört zur Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft. Schauen wir auf den österlichen Jesus, wie er seinen nach langer und erfolgloser Fischerei müden Jüngern frühmorgens am See Tiberias begegnet: Er macht Feuer, backt Brot und brät Fische und lädt ein: «Kommt und haltet das Mahl! Niemand aber unter den Jüngern wagte, ihn zu fragen: Wer bist du? denn sie wussten, dass es der HERR war. Da kommt Jesus und nimmt das Brot und gibt es ihnen, desgleichen auch die Fische» (Joh. 21,9–13). Die christliche Tradition ergänzt die sieben in der Endzeitrede von Jesus genannten leiblichen (Mt 25, 34–46) mit den geistlichen Werken der Barmherzigkeit: lehren, beraten, trösten, zurechtweisen, verzeihen, ertragen, für Lebende und Verstorbene beten. Leibliche wie geistliche Werke tun not, in jeder Gemeinschaft und zu allen Zeiten

Die Art und Weise, wie Niklaus von Flüe zum Frieden rät, ist heute, wo manche Bereiche der Politik zu erstarren drohen und weltweit Konflikte schier unlösbar scheinen, von grösster Aktualität. Wir können vom Eremiten lernen: Nicht aus Rechthaberei Frieden verhindern; Frieden schaffen nicht als Diktat des Stärkeren. Frieden im Geiste von Bruder Klaus wächst hervor aus dem Geist des Gehorsams. Gehorsam ist die Tugend des Hörens, des sich Verständigens, des sich Verstehens. Und wichtig ist ferner, so Niklaus von Flüe: Friede, als dauerhafter Zustand des Heils, ruht auf Gerechtigkeit und auf der Solidarität mit den Schwachen. Gerechtigkeit und Solidarität sind überall, in kleinen und grossen Gemeinschaften, Voraussetzung von friedlichem Zusammenleben. Sie beanspruchen heute, im Zeitalter der Globalisierung, zudem eine weltweite Gültigkeit. Sie schliessen auch das Postulat der Erhaltung der Schöpfung mit ein. Papst Franziskus hat diese drängende Thematik in der Enzyklopädie «Laudato si’» von 2015 umfassend zum Ausdruck gebracht.

Der Heilige vom Ranft sagt uns auch: Wir sollen uns bemühen, in allen Lebenslagen, auch in angestrengtesten Berufs- und Arbeitssituationen, menschenfreundlich, mitteilsam, aufmerksam und einfühlend, hilfsbereit zu bleiben. Wichtig ist immer der Augenblick. Denn im flüchtigen, nicht wiederkehrenden Augenblick hat sich der Mensch zu bewähren.

Und noch ein Wort zu Dorothea, der Ehefrau von Niklaus von Flüe. Die schwere Entscheidung zur Einsamkeit im Ranft wurde vom Einverständnis der Ehefrau mitgetragen. Sie nahm ihren Mann in seinem tiefsten Wesen an und liess ihn frei, dem Ruf Gottes zu folgen. Die Eheleute blieben in Liebe mit einander verbunden. Dorothea war eine gläubige, starke Frau. Die Bindung von Niklaus und Dorothea und die Freiheit, die sie sich in verantworteter Liebe zugestanden, sind eindrücklich und vorbildlich. Liebe und Verantwortung sind für jede Lebensgemeinschaft in ihrem wechselvollen Verlauf notwendig und gerade in der heutigen Zeit gefordert.

Die Botschaften von Niklaus von Flüe werden in diesem Gedenkjahr ins Bewusstsein gerufen. Es ist uns Anlass, auf die Stimme des Heiligen vom Ranft zu hören und seine Ratschläge zu befolgen. Es wird unserem Land und dem Schweizervolk zum Nutzen gereichen. Das Beispiel und die Tugendlehren von Bruder Klaus, die nichts von ihrer Aktualität verloren haben, können die christlichen Kirchen und die weiteren Religionsgemeinschaften in der Schweiz mit frischer Kraft erfüllen. Mögen sie auch für jene zum Segen gereichen, die, aus ihrer Heimat vertrieben, bei uns Schutz und Schirm erbitten.

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Grundlagen

Eine Vielzahl von Quellen und Studien ist im Bruder-Klaus- Gedenkjahr zugänglich. Die SKZ verweist auf ihre Sonderausgabe 48/2016 und die via Online-Archiv www.kirchenzeitung.ch auffindbaren Beiträge.

Weitere Zugänge finden sich über die von Werner T. Huber verantwortete Website www.nvf.ch und www.mehr-ranft.ch.

Darüber hinaus verweisen wir auf folgende Auswahl:

W. Oehl: Bruder Klaus und die deutsche Mystik, in: ZSKG 11, 1917, 161–174, 241–254.

M. L. von Franz: Die Visionen des Niklaus von Flüe, Zürich und Stuttgart 1959 (Studien aus dem C. G. Jung-Institut Zürich).

Peter Ochsenbein: Die Vaterunser-Betrachtung im verlorenen Bettbuoch des Bruder Klaus, in: Gfr. 140, 1987, 43–80.

Peter Ochsenbein: Das grosse Gebet der Eidgenossen. Überlieferung – Text – Form und Gehalt. Bern: Francke, 1989 (Bibliotheca Germanica 29).

Werner T. Huber: Dorothea. Die Ehefrau des hl. Niklaus von Flüe. Freiburg 1994.

Ernst Walder, Heinrich Stirnimann, Niklaus von Flüe: Flüe, Niklaus von, in: HLS 4, 2005, 574–575.