«Nicht mehr Mann und Frau…»: Weit mehr als eine Vision

12. Sonntag im Jahreskreis: Gal 3,26–29 (Sach 12,10–11; 13,1; Lk 9,18–24)

Als ich 1995 nach bereits mehrjährigem Aufenthalt in der Schweiz nach Bern umzog, stellte ich fest, dass ich als getaufter Christ in der Berner Landeskirche uneingeschränkte Kirchenmitgliedschaft inklusive Stimm- und Wahlrecht hatte – unabhängig von meinem ausländerrechtlichen Status. Dieser Zuerkennung voller Gleichberechtigung in einer öffentlich- rechtlichen Körperschaft hat mich damals mehr berührt als ein üblicher Verwaltungsakt. Zurückzuführen ist dies nicht zuletzt auf den Abschnitt aus dem Galaterbrief, der hier zur Diskussion steht. Mit der Feststellung, dass in der Taufe alle trennenden Unterschiede zwischen Menschen aufgehoben sind, erreicht die fortlaufende Lesung aus dem Gal erneut einen «Leuchtturm» paulinischer Theologie (vgl. die Einleitung zu den Gal-Lesungen in SKZ 20/21).

Gal 3,26–29 im jüdischen Kontext

Paulus kämpft im Gal mit dem Problem, dass nach seiner (Erst-)Mission andere Jesus-messianische Prediger in Galatien aufgetreten sind, die nicht nur die Taufe, sondern zudem die vollständige Einhaltung der Tora gefordert haben. Diese Position macht den galatischen «Heidenchristen » die Zugehörigkeit zum endzeitlichen, weit über Israel hinausreichenden Volk Gottes (E. Schüssler-Fiorenza: «toratreue Völkerkirche ») streitig. Paulus wendet nun in Gal 2–3 seine ganze Schriftgelehrsamkeit auf und argumentiert nach allen Regeln pharisäischer Auslegungskunst, dass und warum auch Menschen aus den «Völkern» ohne Einschränkungen zum endzeitlichen Gottesvolk gehören können. In Gal 3,26 kommt er zu einem Zwischenergebnis: «Ihr seid alle durch den Glauben Söhne [und Töchter] Gottes in Christus Jesus.» Damit konstituiert Paulus Zugehörigkeiten und stiftet Identitäten zu Gunsten von Menschen, die durch die Hinwendung zum Messias Jesus aus ihren bisherigen polytheistischen Bezugssystemen herausgefallen sind. Die «himmlische» Seite der Zugehörigkeit zum Gottesvolk korrespondiert mit der «irdischen »: Als Kinder Gottes, vermittelt über die Zugehörigkeit zum Messias Jesus, sind die Menschen in Galatien auch Nachkommen Abrahams und (Mit-)Erben der an Abraham ergangenen Verheissungen (3,29). Das alles wird, so Paulus, über die Taufe vermittelt (3,27). Aus mehrheitsjüdischer Sicht hingegen dürfte jedoch Protest laut werden: Geht Paulus hier nicht allzu leichtfertig mit den biblischen Verheissungen um? Zugehörigkeit zum Gott Israels und zum Gottesvolk entsteht doch durch Geburt oder durch vollen Übertritt zum Judentum! Müsste die scharfsinnige Argumentation, die Paulus zuvor in Gal 3 entfaltet, im vielstimmigen Konzert jüdischer Schriftauslegung nicht als allzu eigenwilliges, unverbindliches Sondervotum markiert werden? Paulus jedoch ist hier schon einen Schritt weiter. Er argumentiert nicht mehr, sondern zieht bereits Schlussfolgerungen. Er tut dies als pharisäisch geprägter Jude, mit dem Anspruch eschatologischer, von Gott beglaubigter Geltung – und konzipiert damit ein erweitertes Gottesvolk des Gottes Israels, in dem sich das Mehrheitsjudentum freilich nicht mehr wiedererkennt. Z uinnerst charakteristisch für dieses erweiterte Gottesvolk, so Paulus, ist die Aufhebung aller trennenden Grenzen zwischen Menschen. Exemplarisch verkündet Paulus das Ende für drei zentrale Ausschlussmechanismen des 1. Jahrhunderts n. C hr.: Die Gegenüberstellung «Juden – Griechen» markiert aus jüdischer Sicht religiöse Schranken, «Sklaven – Freie» steht für gesamtgesellschaftliche Ausgrenzungen aufgrund ökonomischer Kriterien, und «Mann – Frau» (wörtlich: «männlich – weiblich ») bildet Grenzen und Hierarchien im Spannungsfeld von Geschlecht und Macht, intimprivatem Lebensvollzug und Körperlichkeit ab. Paulus könnte das Ende dieser Grenzziehungen nicht so grundlegend konstatieren, wenn er selbst (und seine Adressatinnen und Adressaten in Galatien!) diesbezüglich nicht auf konkrete Erfahrungen im alltäglichen Gemeindeleben zurückgreifen könnte: Die Menschen in Galatien haben erfahren, dass in der Gemeindeversammlung alle Unterschiede von Religion und Status, Besitz und Geschlechterhierarchie aufgehoben sind. Was zählt, ist nur noch die Einheit und Gemeinschaft «im Messias Jesus» (3,28) als real vorweggenommene, eschatologisch geprägte Lebensform voller Lebendigkeit. Für die Jesus-Nachfolge einige Jahrzehnte zuvor hat die Bibelwissenschaft diese grenzüberschreitende Lebensform u. a. als «Gottesreichs-Gemeinschaft» und «Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten» bezeichnet. Gegenüber der Nachfolge zu Lebzeiten des irdischen Jesus ist durch die Verkündigung des Paulus nun eine zusätzliche Ent-Grenzung hinzugekommen: die völker- und religionsübergreifende Aufhebung der Trennung zwischen «Juden und Griechen».

Heute mit Paulus im Gespräch

Mich beeindruckt an Gal 3,26–29, wie grundlegend Paulus hier inklusiv denkt, wie er sich gegen alle nur denkbaren Ausschlussmechanismen wendet. Paulus greift darin ein Kernanliegen der Gottesreichs-Praxis Jesu auf und transformiert es zugleich in ganz neue Kontexte und Herausforderungen hinein. Das ist «pastoralpraktische» Theologie und Christologie, die aus einer unmittelbaren Gotteserfahrung heraus nicht um «wenn», «aber», «vielleicht », «mal sehen» und andere Einschränkungen kreist, sondern in einem kühnen Wurf der mystisch ent-grenzten Gotteserfahrung ein ent-grenztes Menschen- und Kirchenbild zur Seite stellt. Dass dies für Leben, Glauben und Kirche – damals wie heute – gleichermassen herausfordernd war, ist und bleibt (und dass auch Paulus selbst diesem Programm nicht immer in vollem Ausmass gerecht geworden ist), schmälert die lebendig-kreative Dynamik dieser Sätze nicht.

Für heute stellen sich (mir) zwei Fragen:

1. Wo, wie, in welchen konkreten Begegnungen, Gemeinschaften, Lebenskontexten, in welchen diakonischen, katechetischen, liturgischen Vollzügen machen Menschen in unseren Kirchen heute derartig ent-grenzte Lebens- und Glaubenserfahrungen?

2. So kostbar und unaufgebbar die Aufhebung aller Unterschiede «im Messias Jesus» auch ist – angesichts unserer zunehmend multiethnischen und multireligiösen Gesellschaften darf auch über Paulus hinaus gedacht und geglaubt werden: Müssten wir heute nicht auch eine ähnlich grundlegende Würdigung des/der «Anderen» gerade in seiner, ihrer Andersartigkeit vornehmen? Wie gelingt es, der Aufhebung aller (trennenden) Unterschiede nach Gal 3,28 eine ähnlich unaufgebbare Wertschätzung von Differenz, Vielfalt, Vielstimmigkeit und Unterschiedlichkeit an die Seite zu stellen? Dann wäre – über multikulturelle Fragen hinaus – zudem gerade mit diesem Text, der das Mehrheitsjudentum derart herausfordert, vielleicht auch ein Neuansatz im christlich-jüdischen Gespräch möglich: Mit unseren «älteren Schwestern und Brüdern», die damals wie heute an ihrem Recht auf eigenständigen Lebens- und Glaubenswegen aufgrund ihrer Erfahrungen von Gottes Führung und Begleitung festhalten.

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Hinweis für Lektorinnen und Lektoren: Es ist angebracht, in 3,26 «Söhne und Töchter Gottes» zu lesen. In Röm 8,16 f.; 9,8 und Phil 2,15 verwendet Paulus in ähnlichen Zusammenhängen selbst die explizit geschlechterübergreifende Formulierung «Kinder Gottes». Allen Klischees gegenüber einem (angeblich) frauenfeindlichen Paulus und (s)einer tatsächlich bisweilen ambivalenten Haltung zum Trotz kennen wir keine andere Persönlichkeit aus dem frühen Christentum, die beim Aufbau von Gemeinden so selbstverständlich und dankbar wie Paulus mit Frauen zusammengearbeitet und ihre Bedeutung in Leitungsrollen in den Gemeinden gewürdigt hat.


Detlef Hecking

Lic. theol. Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich. Seit 2021 ergänzt er mit seiner bibelpastoralen Kompetenz das Team in der Abteilung Pastoral des Bistums Basel.