Nachruf Bruder Anton Rotzetter OFMCap

Am 1. März ist Br. Anton Rotzetter in seinem Heimatkloster in Fribourg völlig unerwartet an einem Herzversagen verstorben. Wir stehen vor einem Lebenswerk, das äusserst reich und vielfältig ist, das aber in seiner Vielfalt letztlich und zutiefst genährt und inspiriert ist vom Geist des heiligen Franz von Assisi. "Wer eine Mitte hat, kann weite Kreise ziehen" – dies war sein Motto. Der Geist des heiligen Franz hat ihn bis in seine letzten Fasern seiner Existenz geprägt. Das ist die grosse Klammer, die sein Werk, seine Person, seine Überzeugungen zusammenhält und ihnen Ausrichtung gab.

Schulzeit

Br. Anton ist am 3. Januar 1939 in Basel als Sohn des Grenzwächters Emil Rotzetter und der Maria geb. Grossrieder geboren. Er ist das erste von sieben Kindern. Anton deutet dieses Lebensdatum für sich symbolisch, indem er von sich sagt: Schon seit dieser Zeit sei er "Pilger", "Wanderer von Ort zu Ort" gewesen, mit der Versuchung, Grenzen zu überschreiten. Wohl bedingt durch die Arbeit des Vaters wohnte die junge Familie zuerst in Roggenburg im Laufental, dann in Burg im Leimental. An beiden Orten besuchte Anton die Primarschule und ganz kurz nur die Bezirksschule in Mariastein. Wiederum sollte ein Wechsel nach Bern-Bümpliz erfolgen – wir sind im Jahr 1956 – und einige Jahre später nach Schmitten im Kanton Fribourg. Von dort aus besuchte er die ersten drei Klassen am Kollegium St. Michel in Fribourg, und die restlichen vier Gymnasialklassen absolvierte er am Kapuzinergymnasium in Appenzell. Diese Lebensabschnitte mögen in ihm das Verständnis für unterschiedliche Kulturen und Lebensweisen geweckt haben. In der Tat: es war ihm zeitlebens ein Leichtes – sprachbegabt, wie er war – zwischen den Kulturen zu wechseln, etwa zwischen der romanischen und der alemannischen. Dies ist den Brüder- und Schwesterngemeinschaften in Fribourg, aber auch in Italien, Frankreich und anderswo sehr zugute gekommen.

Ordenseintritt und Studium

1959 trat er in Luzern in den Kapuzinerorden ein und durchlief in Solothurn bis 1965 die ordensüblichen Studien in Philosophie und Theologie. Sein Theologiestudium war geprägt durch das gleichzeitig stattfindende Konzil. Mancher mag sich an die Zeit erinnern, wo Anton zusammen mit einigen Mitbrüdern die Initiative ergriff und in abendlichen Vorträgen in der Klosterkirche die theologischen Aufbrüche jener Zeit mit grosser Begeisterung zu vermitteln versuchte. "Kirche war ein Ereignis!" Die der Bildung gegenüber aufgeschlossenen Ordensobern erkannten sehr bald seine Begabungen und schickten ihn zum Hochschulstudium nach Fribourg. Weitere Studienaufenthalte erfolgten ab 1967 in Bonn und Tübingen. Diese Zeit, die zusammenfällt mit den grossen gesellschaftlichen Umbrüchen und Veränderungen, bezeichnet Anton für sich selbst als Befreiung aus dem "Ghetto" in die "katholische Weite". In dieser bewegten Zeit wird er in Belgien zum Präsidenten der franziskanischen Jugend Europas gewählt. Seither war er massgeblich beteiligt an der Durchführung der internationalen, franziskanischen Begegnungswochen, so beispielsweise in Holland, Jugoslawien, Belgien und Italien. Dieses frühe Engagement in der franziskanischen, europäischen Jugendbewegung sollte sich später fortsetzen in seiner Funktion als Leiter der Jungterziaren der deutschen Schweiz, in der Betreuung der Jungterziarengruppen in Zürich, Luzern und Sursee sowie in der Bildungstätigkeit im Antoniushaus Mattli in Morschach und in der Duns-Skotus-Akademie in Mönchengladbach. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass er von 1968 bis 1993 theologischer Assistent der internationalen franziskanischen Bewegung "Marienthal" war. Wohl prägend war für ihn 1972 ein mehrwöchiger Aufenthalt in den Favelas von Rio de Janeiro; er war beeindruckt von der unbeschreiblichen Armut und der deprimierenden, allerdings von überströmender Lebensfreude grundierten Hoffnungslosigkeit auf eine bessere Zukunft. Diese für ihn zutiefst existenzielle Erfahrung führte zu dem, was er selbst bezeichnete: zur Befreiung aus einem bürgerlich gedeuteten Evangelium zum Evangelium der Armen. Die Entdeckung der dortigen "Befreiungstheologie" bzw. die Relecture der Evangeliumstexte mit den Augen des Poverello von Assisi veränderte fortan seine Wahrnehmung, seine Theologie und sein Engagement. "Ich entdeckte noch einmal die Bibel, das Evangelium – und die Bibelinterpretation des Franz von Assisi. Keiner hat so sehr wie er die Religion der Menschwerdung an der Seite der Armen entdeckt." So erstaunt es nicht, dass er über all die Jahrzehnte mit Leonardo Boff, dem grossen Vertreter und Inspirator der Befreiungstheologie, in Freundschaft verbunden war – auch wenn er nicht jede seiner späteren theologischen Ansichten teilte.

Studium der franziskanischen Quellen

Die Jahre 1967 bis 1974 können mit seinen Worten überschrieben werden mit: Wissenschaftliche Aus einandersetzung mit Franz von Assisi. Diese fand ihren vorläufigen Abschluss in der Dissertation mit dem Titel: "Die Funktion der franziskanischen Bewegung in der Kirche. Eine pastoraltheologische Interpretation der grundlegenden franziskanischen Texte" (1976). Hier stehen im Vordergrund: die Verbindung von franziskanischer Mystik und Politik, von franziskanischer Theologie und Praxis. Wissenschaftliche Auseinandersetzung hiess für ihn nie nur Beschäftigung mit den Quellen von und über Franziskus, sondern immer auch Suche nach einer neuen Spiritualität, nach einer neuen Sprache, nach einer authentischen Praxis für heute. Seine über 80 Buchpublikationen – etliche sind in mehrere Sprachen übersetzt – stehen ganz im Zeichen dieser beiden Pole: Geschichte und Gegenwart. Nicht nur als Meister der Sprache und der Theologie, sondern auch als grosser Kenner der franziskanischen Tradition und Geschichte, war er wohl einer der grossen Meister der Spiritualität unserer Tage. Für viele ist sein Buch unvergesslich geblieben mit dem Titel: "Franz von Assisi. Ein Anfang und was davon bleibt" (1982), das immerhin in 15 Sprachen übersetzt wurde. Darin kündigen sich die grossen Linien einer Spiritualität an, die er später in Publikationen wie: "Gotteserfahrung und Weg in die Welt" (1984), "Leidenschaft für Gottes Welt. Aspekte einer zeitgemässen Spiritualität" (1988), weiterentwickeln sollte. Darin kündigt sich aber auch eine neue spirituelle Sprache an, die wir später wieder in vielen poetischen Essays und Gebetstexten entdecken können, wie zum Beispiel im Bändchen: "Gott, der mich atmen lässt" (2012). Überaus geschätzt waren seine Gebete ("Wenn ihr um Brot bittet"), die selbst in evangelischen Pfarrhäusern am Tisch vorgetragen werden. Und es ist wohl kein Zufall, dass Anton aufgrund seiner Sprachbegabung und seines Sinnes für Poesie und Lyrik im Vorstand der Innerschweizer Schriftsteller und Schriftstellerinnen war. Bis 2000 war er während sieben Jahren am Fernsehen SRF vielbeachteter Sprecher zum "Wort zum Sonntag" – mit rekordverdächtigen Einschaltquoten; gleichzeitig war er aber auch regelmässiger Sprecher in "Erfüllter Zeit" am ORF1. Eine erstaunliche Öffentlichkeitsarbeit!

Vielfältiges franziskanisches Engagement

Von 1978 bis 1988 war Anton intensivst beschäftigt mit dem Aufbau und der Leitung des "Instituts für Spiritualität" an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Kapuziner in Münster. Dieses Institut war ihm ein Herzensanliegen und gehörte – bis zuletzt – zu einer seiner zentralen Tätigkeiten. Von 1988 bis 1998 war er Präsident der Franziskanischen Akademie, eines Zusammenschlusses der franziskanischen Dozenten und Professoren. Im Zusammenhang dieser Tätigkeiten entsteht nicht bloss ein vierbändiges Grundlagenwerk zur Spiritualität, sondern entstehen auch die über den ganzen Globus verbreiteten franziskanischen Fernkurse, die er mit Leonhard Lehmann und Wilhelm Egger, zwei anderen bekannten Kapuzinern, konzipiert und redigiert hatte. Ab 1982 führte er über zehn Jahre auch verschiedene Funktionen aus im Rahmen eines gross angelegten, interfranziskanischen, englischsprachigen Lehrprogramms zum Thema: "Franziskanisches, missionarisches Charisma" (Course on the Franciscan Mission Charisme = CCFMC). Diese Aktivität war verbunden mit ausgedehnten Reisen nach Nordamerika und nochmals in verschiedene Länder Südamerikas, die für ihn wiederum sehr prägend waren. Hier entstanden verschiedene Projekte mit dem von ihm so geschätzten Leonardo Boff.

Schöpfungsmystik

Wie präsent dieser befreiungstheologische Aspekt bzw. der Armutsaspekt bei ihm auch immer war, so rückte ab Mitte der 90er-Jahre die Schöpfungsmystik und Schöpfungsspiritualität des Franz von Assisi immer mehr in den Vordergrund. Dazu schreibt er: "Als Forscher im Bereich der franziskanischen Spiritualität wurde mir bald einmal deutlich, dass ökologische und tierethische Fragestellungen von Franz von Assisi her nicht nur nicht ausgeklammert werden können, sondern zum unveräusserlichen Bestand gehören. Diese Einsicht verband sich mit einem ‹angeborenen freundlichen Verhältnis› zu Tieren, stamme ich doch aus einer naturverbundenen Bergfamilie." Entscheidend ist für ihn der grosse Zusammenhang, die Verbundenheit alles Lebendigen, die Gott in die Schöpfung eingestiftet hat. Und mit Franziskus betont er immer wieder, dass alles miteinander geschwisterlich verbunden ist und dass alles Leben ein Geheimnis ist, dem wir mit Ehrfurcht zu begegnen haben. Es war eine der ihm eigenen Konsequenzen, dass er ab dieser Zeit vegetarisch lebte. Schliesslich liess er sich zuerst in Deutschland in den Theologischen Beirat von AKUT (der Aktion Kirche und Tier) wählen, 2006 wurde er zum Präsidenten der AKUT Schweiz gewählt.

Im Jahr 2009 hat er zusammen mit Rainer Hagencord an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Kapuziner in Münster das Institut für Theologische Zoologie gegründet. Er verband dabei das Anliegen, den Tierschutz aus jener Ecke herauszuholen, in die er sich selbst mit aggressiven, politischen Aktionen hineinmanövriert hatte. Vielmehr ging es ihm um einen neuen theologischen und ethischen Zugang, geleitet von der Schöpfungsmystik des Franz von Assisi: Tier und Mensch sind Angesprochene Gottes und haben deshalb einen grossen Teil an Lebendigkeit gemeinsam. Und dies ist auch der Grund, warum dem Tier eine besondere Ehr furcht entgegengebracht werden muss. Die Nächstenliebe – so war er überzeugt – gilt nicht nur dem Menschen, sondern auch dem Tier. Ja, Ehrfurcht gebührt auch jeder Pflanze, jedem Stein, denn alles, was ist, offenbart ein Geheimnis, das sich letztlich jeder Manipulation entzieht. Dies blieben aber nicht nur hehre Worte, sondern in unzähligen Aktionen, Vorträgen, Fastenbriefen, Leserbriefen hat er diese seine Grundüberzeugung mit seinem Freundeskreis zu vermitteln versucht – auch oft gegen den Widerstand offizieller Kreise.

Studienkloster Fribourg

Just im Jahre 2009, als er dieses Institut gegründet hatte, musste er aufgrund eines Provinzbeschlusses den Kapuzinerkonvent von Altdorf aufgeben, sein geliebtes Kloster, dem er während Jahren als Guardian vorstand. Das hat bei ihm verständlicherweise Wunden hinterlassen, die nie ganz verheilten und von denen er noch bis in die letzten Tage sprach. Viele Verbindungen nach Altdorf sind ihm jedoch erhalten geblieben, und seien es auch nur die bekannten Quatemberkonzerte. Auf der andern Seite hat durch seinen Wechsel nach Fribourg die hiesige Kommunität enorm profitieren können: auch wenn er häufig unterwegs war, so war er, wenn er hier war, äusserst präsent, dienstbereit, bereit für die verschiedensten Dienste, die in einem Kloster anfallen. Im Studienkloster hatte er den Auftrag, die Kapuzinerstudenten, die aus verschiedenen nichteuropäischen Provinzen stammen, in franziskanischer Spiritualität zu unterrichten. Dies tat er mit viel Hingabe, indem er die Studierenden auch hinführte zu den wichtigen Orten der franziskanischen Geschichte. Wir hatten weitere Pläne mit ihm bezüglich des Studienklosters in Fribourg. Der "Bruder Tod" hat seiner fast unerschöpflich scheinenden Schaffenskraft und seinem unversiegbaren visionären Engagement ein unverhofftes Ende gesetzt. Ist es nicht bezeichnend, dass sein letztes Buch, das er selbst nicht mehr zu Gesicht bekam, den Titel trägt: "Alles auf den Kopf stellen – neue Wurzeln schlagen"?