Mythen des seelsorglichen Selbstverständnisses

Beitrag von Isabelle Noth, Erstveröffentlichung in: Schaut hin! Missbrauchsprävention in Seelsorge, Beratung und Kirchen, hg. von Isabelle Noth, Ueli Affolter, Zürich 2015, S. 89–93.  

«Weil Habitusprägungen jenseits der Bewusstseinsschwelle verlaufen, bleibt es in der Regel auch erfolglos, an ‹Einsicht› und ‹Vernunft› zu appellieren. Die Welt funktioniert kantianisch nur in dem schmalen Ausschnitt, den das wache Bewusstsein erfasst; Einsicht dringt meist nicht bis zum Verhalten vor, weil das Verhalten nicht auf Einsicht beruht. So einfach ist das.»1

Nicht nur Staaten und Völker hegen Mythen, die der kollektiven Identitätsstiftung und der ideologischen Selbstvergewisserung dienen, sondern auch Wissenschaftsdisziplinen und ihre Vertreter und Vertreterinnen pflegen sie. Im Folgenden möchte ich anhand von Fallbeispielen zwei davon vorstellen. Es handelt sich einerseits um den in der Seelsorge wirksamen (Aber-)Glauben der Unverletzbarkeit, der zur Gefahr der eigenen Person werden kann, und andererseits um die Vorstellung, dass ein Seelsorger nicht verletzen bzw. nicht zur Gefährdung anderer werden kann.2

I Der Mythos eigener Unverletzbarkeit

Eine Seelsorgerin tritt ihre neue Stelle im Strafvollzug an. Ihr fällt auf, dass sämtliche Mitarbeitende der Institution – vom Gärtner bis zum Direktor – aus Sicherheitsgründen einen Knopf bei sich tragen, um im Falle einer Gefahr Alarm auslösen zu können, mit einer Ausnahme: die Seelsorgenden. Als sie den römisch-katholischen Kollegen darauf anspricht und ihm ihre Beobachtungen mitteilt, meint er erstaunt im Brustton der Überzeugung, er benötige kein solches Gerät. Er fühle sich sicher. Als Geistlicher habe er nichts zu befürchten. In verschiedenen Gesprächen mit weiteren Kollegen erfährt die Seelsorgerin, dass es ihrer Überzeugung zufolge gar der beruflichen Identität widerspräche, als Seelsorger mit einem Alarm im Gefängnis herumzulaufen. Diese Auskünfte und Reaktionen geben ihr zu denken.

Der Blick in verschiedene Reglemente3 scheint jedoch die Vorstellung, dass Seelsorgende qua Amt einen besonderen Schutz geniessen und deshalb keiner besonderen Vorsichtsmassnahme bedürfen, zu bestätigen. Über das Thema Sicherheit schweigen sie sich nämlich aus. Solange jedoch das Sicherheitsdispositiv allein der Verantwortung der jeweiligen Institution zugerechnet wird und der Anteil an Eigenverantwortung unreflektiert bleibt, kann jene Grauzone entstehen, in der Mythen zum Tragen kommen. Es ist längst erwiesen, dass eine wie auch immer verstandene Geistlichkeit keinen Schutz vor krankheitsbedingten tätlichen Übergriffen bietet. Genauso wenig wie Seelsorgende davor gefeit sind zu verunfallen, mit dem Flugzeug abzustürzen oder an Krebs zu erkranken, genauso wenig schützt sie ihr Status, ihre besondere «Heiligkeit» oder ihr character indelebilis davor, niedergeschlagen oder als Geisel gepackt zu werden.

Eigentlich ist es ganz einfach: Nehmen wir zur besseren Veranschaulichung den Besuch einer Baustelle. Wer eine solche betritt, muss die Vorschrift der Helmpflicht erfüllen – ausnahmslos. Ebenso sollte sich jede/r Mitarbeitende im Strafvollzug den Sicherheitsstandards unterziehen und sich keine falschen Vorstellungen machen, so sehr sie – hier der Mythos des Besonderen im Sinne von Übermenschlichen – ihm auch schmeicheln mögen. Alles andere hiesse, einen theologisch wie psychologisch nicht zu begründenden Mythos der eigenen Unverletzlichkeit zu pflegen. Ein solcher zeugt nicht von Profession oder Glaube, sondern grenzt an Fahrlässigkeit. Im Folgenden möchte ich mich einem weiteren professionsspezifischen Mythos zuwenden, der wider besseren Wissens tief sitzt und nach wie vor eine grosse Anhängerschaft besitzt. Handelte der soeben geschilderte Mythos davon, dass Seelsorgende unverletzbar sind, so das nun folgende zweite Fallbeispiel davon, dass Seelsorgende nicht verletzen können.

II Der Mythos eigener Ungefährlichkeit

In einer Gesprächsrunde im Rahmen eines Seelsorgekurses erzählt ein Teilnehmer, man habe ihn des sexuellen Kindsmissbrauchs bezichtigt. Er erinnere sich noch genau an das damalige Geschehen. Er sei mit einer seiner Töchter in der Badewanne gewesen, sie habe seinen Penis «entdeckt», und es sei für sie «nur ein Spiel» gewesen. Er habe seiner Frau sogar nachher lachend davon erzählt. Die Sache sei völlig absurd, und er habe ein absolut reines Gewissen. Der Kursleiter, der daneben sitzt, nickt und quittiert die Beteuerungen zustimmend und mit der Bemerkung, unter Kollegen vertraue man einander. Einige der anwesenden Seelsorger fühlen sich unwohl. Sie werden beim Wort «Spiel» und bei der Reaktion des Kursleiters hellhörig. Sie gewinnen den Eindruck, der Kursleiter wolle das Thema möglichst schnell verlassen – auch das macht sie stutzig. Einer von ihnen erinnert sich plötzlich daran, dass der betreffende Teilnehmer schon früher einmal am Tisch erzählt hatte, er sei von Schülerinnen beschuldigt worden, immer auf ihre Brüste zu schauen.

In der anschliessenden Feedbackrunde sagt dieser Seelsorger, ihm falle auf, dass sich beim be treffenden Kollegen vieles um das Thema Sexualität drehe. Er habe erzählt, was das in der Badewanne Erlebte für seine Tochter bedeutet habe, was sei es denn aber für ihn gewesen? Dieser antwortet, es sei einfach ein Spiel gewesen, sie habe mit seinem Penis in aller Harmlosigkeit und Unschuld gespielt. Einige Anwesende halten die Luft an, und da er seiner Frage ausgewichen war, fährt der Seelsorger fort und fragt ihn nun direkt, ob er denn eine Erektion gehabt habe. «Selbstverständlich!» kommt die Antwort. «Ist doch klar!» Nach dieser Reaktion geht es in der Gruppe los. Jemand ruft, er habe auch einen Penis, und er habe auch Töchter, aber diese hätten nicht damit zu spielen. Der betreffende Teilnehmer wehrt sich und meint, sein Sohn sei seiner Frau auch eine Zeitlang an die Brüste gesprungen, worauf ein anderer wiederum sagt, davon habe sie doch wohl keinen Orgasmus bekommen. Die Situation eskaliert. Der Seelsorger, der nachgehakt hatte, wird von Seiten der Kursverantwortlichen in der Folge zum Gespräch aufgefordert. Der Kursleiter teilt ihm mit, seine Frage sei für einen Seelsorger schlichtweg unangebracht gewesen. «So etwas» frage man nicht. Niemand wisse, was wirklich geschehen sei, ob der betreffende Teilnehmer sich womöglich abgewendet habe. Der Gesamtleiter wiederum wiederholt mehrfach, er sei ja nicht dabei gewesen. Eine seriöse nachträgliche Reflexion oder Aufarbeitung in der Gruppe findet nicht statt.

Es stellt sich bei diesem Fallbeispiel die Frage, wie es möglich ist, dass ausgerechnet in einem Seelsorgekurs, d. h. also trotz des vorhandenen Faktenwissens und der in anderen Belangen hohen Bewusstheit und Reflektiertheit, die Schilderung eines Übergriffs – sei es durch aktives Handeln oder durch passives Zulassen – nicht als solcher erkannt wurde. Zu den zentralen Erkenntnissen im Themenbereich des sexuellen Kindsmissbrauchs muss der Umstand zählen, dass es Fachleute wie z. B. Spezialseelsorger/innen gibt, die trotz der inflationären Berichterstattungen und erschreckend hohen Opferzahlen nicht wissen, wo Übergriffe eigentlich beginnen. Das heisst, sie verstehen unter sexuellem Kindsmissbrauch allein das Penetrieren eines Kindes. Dies erklärt, warum in dem geschilderten Fallbericht viele nicht merkten, dass es sich bei dem vom Kursteilnehmer geschilderten Verhalten um sexuellen Missbrauch handelt.

Es geht nicht darum, ob man mit seinen Kindern gemeinsam baden darf oder nicht, und auch nicht darum, dass Kinder neugierig sind und sich auch für die Geschlechtsteile der Eltern interessieren. Der entscheidende Punkt ist, dass man Kindern auch körperliche Grenzen setzen muss und ihnen als Erwachsener die eigenen sexuellen Organe nicht zur Verfügung stellen darf. Es ist die Aufgabe des Erwachsenen, auf freundliche, aber bestimmte Weise klarzustellen, wo man sich nur selber berühren und nicht von anderen angefasst werden möchte. Zuzulassen, dass ein Kind mit den väterlichen Geschlechtsteilen «spielt», ist in fachlicher Hinsicht als ein Übergriff zu werten.

III Reflexion

Die beiden Fallbeispiele stehen in einem auffälligen und erklärungsbedürftigen Widerspruch zu zwei allgemein bekannten und unumstösslichen Erkenntnissen: einerseits zur Einsicht, dass auch Seelsorgende Menschen und deshalb verwundbar sind, und andrerseits zu dem aufgrund von zahlreichen Medienberichten verbreiteten Wissen um pädosexuelle Priester, übergriffige Seelsorger und missbrauchende Familienväter.

Nun beruht Verhalten allerdings weder auf Einsicht noch auf Wissen, wie das Zitat zu Beginn dieses Beitrags festhält. Vielmehr kann das in den beiden Beispielen geschilderte Verhalten, so die These dieses Beitrags, auf zwei im Bereich helfender Berufe allgemein und in der Seelsorge besonders wirksamen Mythen zurückgeführt werden, nämlich auf jenen, keinen Schaden zu erleiden, sowie auf jenen, keinen Schaden zufügen zu können. Das Potenzial nicht nur der eigenen Gefährdung wie im Beispiel des Strafvollzugs, sondern auch der eigenen Gefährlichkeit wird allzu leicht ausgeblendet. Dies zeigen aktuell eindrücklich auch die erschreckenden Enthüllungen über sexuelle Übergriffe auf Kinder durch UNO-Blauhelmtruppen. Paula Donovan, Co-Direktorin der Hilfsorganisation Aids-Free World, berichtet: «Sexueller Missbrauch durch Soldaten, Blauhelmtruppen und zivile Helfer sind alles andere als eine Ausnahme. (…) Das Absurde ist, dass diese Menschen entsandt wurden, um die Bevölkerung zu beschützen, nicht um sie auszubeuten und sexuell zu missbrauchen.» Und auf die Frage, was denn die UNO dagegen unternehme, antwortet sie: «Ihre instinktive Reaktion genau in dieser Reihenfolge ist: übergehen, abstreiten, vertuschen und sich verstellen.»

Wieso fällt es offenbar besonders schwer hinzuschauen, wenn einem die Täter bekannt sind? Wieso ist es gerade die Nähe zu ihnen, sei es aufgrund von Berufs-, Familien- oder Gruppenzugehörigkeit, die die Wahrnehmung ihnen gegenüber so stark trübt? Die Erklärung dafür scheint in dem Umstand zu liegen, dass man sich mit einem Kollegen oder Standesgenossen etc. instinktiv zu einem gewissen Grad identifiziert. Es scheint einerseits ein unbewusstes Gefühl der Mitschuld und der Scham wirksam zu werden wie auch eine bedrohliche Angst vor der Wahrheit, die man das Bedürfnis hat abzuwehren. Abwehrmechanismen des Ichs, zu denen Verdrängung und Verleugnung gehören – das Wegschauen –, sind bekannte und schon in der Frühzeit der Psychoanalyse ausführlich geschilderte psychische Mechanismen. In dem hier geschilderten Prozess wird das eigene Selbstverständnis, per definitionem und qua Amt zu den «Guten» zu gehören, angefochten bzw. widerlegt. Es entpuppt sich als leerer Mythos.

Das Selbstbild – in unserem Fall des guten Seelsorgers, dem niemand etwas antun und der auch selbst niemandem Schaden zufügen könnte – wird erschüttert und infrage gestellt. Die Vorstellung zuzulassen, dass ein Seelsorgekollege sich eines Übergriffs schuldig gemacht hätte, hiesse, sich eingestehen zu müssen, dass man auch selbst nicht von vornherein schuldfrei ist. Es hiesse unter Umständen, mit Tätern am Tisch gesessen und gemeinsame Sache mit ihnen gemacht zu haben. Dagegen dient die Abwehr einer solchen Vorstellung der Stabilisierung des eigenen Ichs. Gefestigte Selbstbilder, die uns stützen und Halt geben, infrage stellen zu lassen, ist schmerzhaft und unangenehm. Es ist jedoch genau dieser Schmerz, der die Bewusstseinsschwelle erreichen kann und den wir in Kauf nehmen müssen, wenn es entmythifizierte Seelsorge geben soll – und nur eine solche Seelsorge vermag überhaupt erst aufmerksam hinzuschauen. Die Sorge um die Beschädigten muss grösser werden als die Angst vor dem eigenen Schmerz. Der Glaube vertraut der Zusage Gottes, gerade auch im Schmerz mit uns zu sein, und es ist seine Verheissung, dass es die Wahrheit ist, die uns frei machen wird (Joh 8,32).

 

 

1 Harald Welzer [20144]: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt a. M., 57.

2 Beide Beispiele sind so weit verfremdet, dass keinerlei Rückschlüsse auf Personen möglich sind.

3 Vgl. z. B. Gefängnisseelsorge. Qualitätssicherung in den Heimen und Anstalten des Straf- und Massnahmenvollzugs sowie in den Regional- und Bezirksgefängnissen des Kantons Bern, genehmigt und zum Gebrauch empfohlen durch die Interkonfessionelle Konferenz am 30. 11. 2009 (http:// www.refbejuso.ch/fileadmin/user_upload/Downloads/Sozial-Diakonie/SGN/SD_PUB_d_2010_Qualitaetssicherung_Gefaengnisseelsorge_Druckversion_deutsch. pdf; Zugriff am 9. 5. 2015). «Kein UNO-Beamter redet über die missbrauchten Kinder», Interview von Martina Meister mit Paul Donovan.

Isabelle Noth

Prof. Dr. theol. habil. Isabelle Noth leitet die Abteilung Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik des Instituts für Praktische Theologie an der Universität Bern und präsidiert die Programmleitung der Aus- und Weiterbildung in Seelsorge (AWS).