Mit Pauken und Trompeten

Oder: Weshalb die Barockmusik ein katholisches Phänomen ist.1

Bei der Wertung der Kulturleistungen des Barock gibt es einen Gemeinplatz. Er besagt, dass zwar in der bildenden Kunst aller Sparten das katholische Europa massgeblich, in der Barockmusik aber der Protestantismus führend gewesen sei. Unter Musikwissenschaftern ist dieses Urteil zwar inzwischen widerlegt oder wird mindestens nicht mehr mit der gleichen Vehemenz wie einst vertreten. Im populären Verständnis aber führt die Legende ein zähes Leben, selbst bei Katholiken, die es eigentlich besser wissen müssten.

Ich möchte in einem ersten Teil meiner Ausführungen diese protestantische Legende widerlegen. In einem zweiten Teil versuche ich, mit einer Untersuchung der Institutionen und Anlässe die Dominanz der katholischen Barockmusik quantitativ und andeutungsweise auch qualitativ aufzuzeigen, insbesondere am Beispiel der sakralen Musik in Italien, das die Führungsrolle einnimmt. In einem dritten Teil stelle ich diese Ausführungen in einen grösseren politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und religiös-kulturellen Kontext: Mich interessieren die aussermusikalischen Rahmenbedingungen, welche diese erstaunliche Entwicklung der Musik überhaupt möglich gemacht haben.

Bach und Händel

Zu Bach und Händel, den beiden Säulenheiligen der Barockmusik, zunächst eine nicht zu bezweifelnde Feststellung: Sie waren beide tiefgläubige Menschen und eben als solche von ihrer Geburt her in der protestantischen Religiosität verwurzelt. Damit unterscheiden sie sich aber überhaupt nicht von anderen Menschen ihres Zeitalters. Dass bei Bach diese protestantische Religiosität auch in das Werk einfloss, ist selbstverständlich, denn es gehörte zu seinem Dienstauftrag, für jeden Sonntag eine Kirchenkantate zu schreiben. Gerade bei ihm, dem "fünften Evangelisten ", muss aber die Rolle des Protestantismus relativiert werden. Sein Wirken als Thomaskantor war keineswegs der Höhepunkt seines musikalischen Lebens, im Gegenteil. Bach selber hat den an und für sich angesehenen Posten in Leipzig eher als Abstieg gewertet, denn der Status eines Hofkapellmeisters, den er vorher hatte, war höher als derjenige eines Kantors. Trotzdem hat er sich mit Elan der neuen Aufgabe gewidmet. Das Engagement des Meisters wich aber einer herben Enttäuschung, weil der Rat auf seine Forderungen für eine bessere Musik nicht einging. Er zog sich in eine Art innere Emigration zurück und widmete sich wieder mehr der Instrumentalmusik. Allerdings arbeitete er auch ständig an seinen vier grossen geistlichen Werken, den beiden Passionen, dem Weihnachtsoratorium und der h-moll-Messe. Letztere war für den katholischen Dresdner Hof bestimmt und steht im Zusammenhang mit Bachs Versuch, dort die angesehene Hofkapellmeisterstelle zu erlangen. Den blossen Titel erhielt er zwar schliesslich, aber nicht die Funktion. Die vier grossen Werke möchte ich aber nicht als spezifisch protestantische sehen, sondern als allgemein christliche. Es ist Zeit, Bach als protestantischen Säulenheiligen – als solcher ist er in der neugotischen Ausstattung des Ulmer Münsters zu bewundern – zu stürzen. Seine ausserordentlichen und unbestrittenen kompositorischen Fähigkeiten bleiben davon unberührt. Den Zeitgenossen galt er allerdings weder als besonders eifriger Kirchenmusiker noch als berühmter Komponist, sondern als der grösste lebende Virtuose auf den Tasteninstrumenten.

Bei Händel fällt es noch leichter, ihn als Gewährsmann der protestantischen Barockmusik zu entthronen. Man hat gesagt, bei keinem anderen Komponisten habe der Nachruhm so sehr auf einem einzigen Werk beruht wie bei ihm: auf das Oratorium "Der Messias". Zu Händel ist als erste Korrektur zunächst der in seiner Biografie oft kleingeredete mehrjährige Aufenthalt in Italien zwischen 1706 und 1710 zu erwähnen. Er komponierte während dieser Zeit auch kirchenmusikalische Werke für seine Gönner. Hernach widmete er sich während 30 Jahren leidenschaftlich der von ihm geliebten Oper, rund 45 schrieb er. Erst der finanzielle Zusammenbruch der Opernbühne der Royal Academy, die Konkurrenz durch die neue Adelsoper und ein zunehmendes Desinteresse des Publikums veranlassten Händel danach, den Weg zum Oratorium zu beschreiten. Aber das Oratorium war abgesehen von der Möglichkeit des Aufführungsorts in keinerlei Weise an die Kirche gebunden. Händel hat übrigens in gewisser Hinsicht nicht den "Messias" für sein bestes Oratorium gehalten, sondern die spätere (nichtbiblische) "Theodora".

Warum konnte die Legende der Barockmusik als genuin protestantische Leistung entstehen? Tatsache ist ja, dass fast sämtliche Formen des musikalischen Barock in Italien erfunden, dort zum erstenmal erprobt und zur Blüte gebracht wurden. Rein quantitativ überwiegt in der Sakralmusik der katholische Raum und hier wiederum Italien bei weitem. Aber auch qualitativ waren Italiener als Komponisten und als Ausführende, vor allem im Gesang, auch ausserhalb ihrer Heimat führend. In Italien entstanden die Konservatorien als erste Musikschulen für Hochqualifizierte, ebenso nahm das Land im Bau von Streichinstrumenten den ersten Platz ein. Wer im Norden eine musikalische Karriere anstrebte, legte mit einem längeren Studienaufenthalt in Italien die beste Grundlage dazu.

Bach kam erst Jahrzehnte nach seinem Tod wieder zu Ehren. Bei der Wiederaufführung seiner Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn im Jahre 1817 empfand das Publikum diese Musik als spezifisch deutsch und gleichzeitig protestantisch. Die beiden Wertungen wurden im nationalistischen Klima des 19. Jahrhunderts immer mehr einander gleichgesetzt und im Kulturkampf zusätzlich konfessionell aufgeladen. Katholisch war gleich undeutsch, ultramontan. Damit wurde eine adäquate Würdigung der italienischen, aber auch der süddeutsch-östereichischen Komponisten der Barockzeit unmöglich, vor allem in Preussen. Eben zu dieser Zeit aber entstand dort die moderne Musikwissenschaft; ihre protestantischen Wurzeln hat eine kritische Forschung aufgezeigt. Konsequenterweise wurden dann etwa im Quellenwerk "Denkmäler der deutschen Tonkunst" nur Werke von Protestanten veröffentlicht. Die süddeutsch- österreichische Barockmusik existierte einfach praktisch nicht, und die Italiener wurden vor allem dann gewürdigt, wenn Bach sie gekannt hatte. Protestantische Autoren wie Friedrich Spitta oder Albert Schweitzer machten den Komponisten dann endgültig zum erwähnten Säulenheiligen. Diese Situation änderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Situation in Italien

Doch begeben wir uns nun nach Italien. Seit dem Mittelalter gehörte es zu den Aufgaben der Domkapitel, für einen feierlichen Gottesdienst mit Musik in den Kathedralen zu sorgen. Die Domkirchen wurden daher zu den wichtigsten Pflegestätten der geistlichen Musik und hatten auch Ausbildungsfunktionen. Nun muss man sich bei der Rolle der Domkirchen vor Augen halten, dass es in Italien in der frühen Neuzeit annähernd 300 Bistümer gab, mehr als im ganzen übrigen katholischen Europa, darunter allerdings, vor allem im Süden, viele Zwergbistümer. Hier war die musikalische Ausstattung sicher recht bescheiden: Vielleicht ein Organist mit zwei oder maximal vier Sängern, dazu allenfalls noch Chorknaben – Genaueres wissen wir nicht. An den grossen römischen Kirchen, angefangen mit St. Peter, an den Kirchen San Marco in Venedig, San Petronio in Bologna oder in Neapel etwa wurde aber mit grösseren Sängernsembles und fast immer auch zusätzlichen Instrumentalisten Musik höchster Qualität geboten. In Rom gab es im Barock rund 25 Kirchenkapellen, ungefähr gleich viel waren es in Neapel und in Bologna immerhin neun. Im Durchschnitt waren diese Kapellen zwar nicht gross: Acht Sänger und einige Instrumentalisten, ein Organist und ein Kapellmeister waren die Normalausstattung. Viel mehr hatten aber auch ein Bach in Leipzig oder ein Telemann in Hamburg nicht zur Verfügung. In diesen beiden Städten wurde aber nur an zwei bzw. fünf Kirchen sonntags musiziert; ein deutlicher quantitativer Unterschied. Hinzu kommt aber noch ein weiteres wichtiges Element. In der lutherischen Kirche konnte es neben den Hofkirchen nur an den städtischen Pfarrkirchen einen musikbegleiteten Gottesdienst geben. In der katholischen Kirche kamen dazu aber noch die Ordenskirchen. In keinem anderen Land jedoch gab es so viele Klöster wie in Italien. Gemäss einer Zählung von 1650 existierten 6238 Männerklöster mit rund 70 000 Mönchen. Die Zahl der Frauenklöster wird kaum geringer gewesen sein. Auch in vielen von ihnen wurde eifrig musiziert. Die Jesuiten, die der Kirchenmusik zuerst skeptisch gegenüberstanden, entwickelten sich später zu einem ihrer grössten Förderer. Selbst die Bettelorden, die eigentlich bescheiden auftreten sollten, pflegten die Kirchenmusik. Im katholischen Norden, in Österreich, der Schweiz, Süddeutschland und Böhmen waren ausserhalb der grossen Städte die Stifte die hauptsächlichsten Pflegestätten der Kirchenmusik. Mehr und mehr wurde dort erwartet, dass neueintretende Kandidaten ein Instrument spielen konnten, und diese wurden bevorzugt aufgenommen. Den Männerklöstern standen die Frauen nicht nach, sowohl in Italien wie im deutschsprachigen Raum. Nachdem die tridentinische Reform die strikte Klausur gefordert und nach längeren Streitereien mehr oder weniger auch durchgesetzt hatte, konnten männliche Musiker in den Frauenklöstern nicht mehr auftreten. Die Nonnen waren daher gezwungen, die Kirchenmusik mit hauseigenen Kräften zu bestreiten. Es ist dies ein frühes Beispiel der Emanzipation, denn sonst galten viele Musikinstrumente in Frauenhänden als unschicklich. Die singenden Nonnen in Italien waren eine vielbesuchte Touristenattraktion. In deutschen Klöstern wurde im 18. Jahrhundert bei Festanlässen oder Besuchen auch weltliche Musik gespielt; die Bestimmungen des Tridentinums wirkten sich also paradox aus.

Doch nicht genug. In Italien, besonders im Norden, war die spezifisch katholische Einrichtung der Bruderschaften weit verbreitet, bei einer Schätzung kommt man auf etwa 50 000 solcher Organisationen im ganzen Land. Mindestens eine gab es in jeder Pfarrei, in den mittleren Städten waren es bereits Dutzende und in den grossen gegen 200 (Venedig 400). Besonders die reichen Bruderschaften des Adels und des besseren Bürgertums erwiesen sich dabei als Mäzene der Musik, die sie in ihren eigenen Oratorien, in anderen Kirchen oder Privatpalästen aufführen liessen.

Musiziert wurde in Italien schliesslich neben den Pfarr- und Ordenskirchen in vielen sozialen Einrichtungen, die ja stets auch eine Kirche zu eigen nannten. In keinem anderen Land waren sie so dicht vertreten; für alle irgendwie Benachteiligten existierten solche Auffangstationen, in den grösseren Städten Dutzende bis Hunderte. Auch die Konservatorien hatten als Waisenhäuser ja einen sozialen Hintergrund, und dieser blieb, auch wenn sie später zusätzlich zahlende Schüler aufnahmen. Zuletzt möchte ich noch das private Mäzenat erwähnen. Dass die Höfe auch die Kirchenmusik pflegten, ist bekannt, hier unterscheiden sich aber Protestanten und Katholiken nicht grundsätzlich. Wir sehen also, dass es im katholischen Raum unvergleichlich viel mehr Aufführungsorte für die Sakralmusik gab. Die konkreten Anlässe dazu waren zwar in beiden Konfessionen nicht grundsätzlich verschieden. Es gab den Gottesdienst am Sonntagmorgen, nachmittags die Vesper, die musikalisch ausgeschmückt wurde. Letztere wurde im katholischen Raum immer wichtiger und übertraf schliesslich mit rund zwei Stunden reiner Musik die Messe. Die Vesper gab es auch bei den Lutheranern, sie fand aber dort seltener und mit weniger Aufwand statt. Im Katholizismus kamen aber noch andere Andachten, die Marienantiphonen, Litaneien, Prozessionen mit Musik usw. hinzu.

Der konfessionelle Unterschied besteht aber vor allem in der Anzahl der Feiertage. Denn diese mussten selbstverständlich mit Musik abgehalten werden, und zwar mit einem noch grösseren Aufwand als am Sonntag. Die Lutheraner behielten die Apostel- und einige Marienfeste, die Anzahl der Feiertage betrug unterschiedlich etwa 15 bis 25. Im katholischen Raum waren 35 Feiertage gesamtkirchlich vorgeschrieben. Es kamen aber noch lokale sowie jene der einzelnen Patrone, der Ordensheiligen oder spezieller Gruppen, wie eben der Bruderschaften, hinzu. So muss man im Norden mit 40 bis 50 Feiertagen im Jahr rechnen. In Südeuropa waren es deutlich mehr, nämlich gegen 80, mit Spitzenwerten um die 90. Das Minimum an musikalisch gestalteten Feiertagen dürfte in Italien bei gegen 50 liegen.

Schwieriger als die quantitative Überlegenheit der katholischen Musik ist natürlich die qualitative auszuweisen, da hier immer subjektive Wertungen einfliessen. Ein Qualitätsmerkmal ist sicher die Wertschätzung der italienischen Musik im Ausland. Sie war in allen Ländern mit der einzigen Ausnahme Frankreich sehr gross. Die hohe Wertung der italienischen Musik im deutschsprachigen Raum sieht man nicht nur an den vielen dort tätigen italienischen Musikern, sondern auch an den Urteilen der Musikschriftsteller und der Beschäftigung mit den Noten. Einer der ersten, der Pergolesis "Stabat Mater" kennenlernte und wieder aufführte, war kein Geringerer als Johann Sebastian Bach. Der Import italienischer Musiker nach Norden war zwar, besonders bei den Sängern, eher der Aufführungspraxis geschuldet, weniger den kompositorischen Leistungen.

Das Umfeld für die Blüte in Italien

Im dritten Teil, dem allgemeinen Kontext dieser erstaunlichen musikalischen Blüte, sind politische, wirtschaftliche und religiös-kulturelle Faktoren zu berücksichtigen. Bei den politischen ist die Abwesenheit von grösseren Kriegen am auffallendsten. Nach den grossen Auseinandersetzungen zwischen Habsburg und Frankreich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erlebte Italien eine ausserordentlich lange Friedenszeit, nämlich bis zur Französischen Revolution und Napoleon. Die türkische Bedrohung zur See forderte zwar vor allem Venedig grosse Anstrengungen ab. Der Mantuanische Erbfolgekrieg (1627–1631) betraf wie auch spätere Auseinandersetzungen eigentlich nur Piemont sowie den Streitgegenstand Montferrat und das Veltlin. Frankreich war immer der grösste Ruhestörer, und deshalb erfolgten auch im Spanischen Erbfolgekrieg einige Feldzüge in Italien, die ebenfalls das Musikleben tangierten, etwa in Modena. Die übrigen Erbfolgefragen nach dem Aussterben einiger alter italienischer Dynastien wurden friedlich geregelt. Es kann kaum ein Zweifel bestehen, dass die weitgehende und in den meisten Regionen sogar totale Absenz kriegerischer Handlungen das kulturelle Leben in Italien, sowohl in der bildenden Kunst wie in der Musik, enorm begünstigt hat: Es war einfach viel mehr Geld dafür verfügbar. Das Gegenbeispiel bietet Deutschland durch den Dreissigjährigen Krieg. In diesen Zusammenhang muss noch ein weiterer Sachverhalt genannt werden: Im Barockzeitalter rüsteten neben Frankreich, das auch hier einen Sonderfall darstellt, vor allem protestantische Mächte auf, womit diese weniger Geld für die Kultur übrig hatten.

Wichtig ist die damalige wirtschaftliche Situation. Im Mittelalter war Italien auf diesem Feld die absolut führende Macht in Europa gewesen, und zwar auf allen Gebieten, in Gewerbe, Handel und Finanzwesen. Es konnte diese führende Stellung auch während des 16. Jahrhunderts trotz zunehmender Konkurrenz grösstenteils noch bewahren. Das ökonomische Imperium krachte dann jedoch im frühen 17. Jahrhundert, endgültig nach der ersten grossen Pest von 1630 bis 1631, rasch und fast vollständig zusammen. Trotzdem war Italien, nach Jahrhunderten der Prosperität, immer noch mit Abstand eines der reichsten Länder Europas, und dieser Reichtum ging trotz Verlusten in der grossen Krise keineswegs gänzlich verloren, wurde aber danach anders eingesetzt.

Interessant ist nämlich, was die Italiener mit diesem Reichtum nach der grossen Krise gemacht haben. Sie verzichteten darauf, die marode Wirtschaft wieder aufzubauen. Ihr Geld investierten sie einerseits in Kultur, andererseits in die Landwirtschaft. Für die Musik gilt in der Tat dasselbe, was von der Kriegsführung gesagt wurde: Sie braucht Geld, Geld und noch einmal Geld, und dies dauernd. Der Zusammenhang zeigt sich auch umgekehrt: Musste man aus irgendeinem Grund, etwa durch Krieg oder andere katastrophale Ereignisse, die verfügbaren Mittel zwangsläufig anderweitig verwenden, so wurde vorübergehend bei Musik gespart, etwa durch Streichung von Aufführungen und Entlassung von Musikern.

Untersuchen wir noch den auf den ersten Blick nicht so einsichtigen Zusammenhang zwischen Landwirtschaft und Musik. Parallel zur erwähnten Deindustrialisierung fand nämlich in Italien nach einer gewissen Schockpause eine eigentliche Reagrarisierung statt. Das infolge der Wirtschaftskrise frei gewordene Kapital wurde vor allem für den Aufbau einer damals modernen Landwirtschaft eingesetzt. Die Agrarwirtschaft wurde technisch verbessert: Im Norden durch Bonifikationen von Sumpfland, andererseits künstliche Bewässerung, in der Toskana durch die sogenannte doppelstöckige Landwirtschaft. Der ausserordentliche Bevölkerungsrückgang durch die Pest ermöglichte es, auf dem frei gewordenen Boden statt viel Korn marktgängige, gesuchte und entsprechend kostspielige Spezialprodukte zu erzeugen. Ein verhältnismässig grosser Teil dieser landwirtschaftlichen Erzeugnisse war für den Export bestimmt. Statt wie bisher gewerbliche Produkte auszuführen und im Handel reich zu werden, wurde Italien zum grössten Agrarexporteur in Europa. Essen musste ja jedermann.

Der gewerbliche Sektor war demgegenüber vielen Konjunkturschwankungen ausgesetzt. Infolgedessen war der Landbau im Gegensatz zum zweiten und dritten Sektor eher in der Lage, einen zwar unter den damaligen Voraussetzungen nicht grossen, aber dafür relativ stabilen Zufluss an Geldmitteln zu gewährleisten. Davon konnte unter anderem die darauf angewiesene Musikpflege profitieren, auch wenn bei der heutigen Forschungslage kaum direkte Zusammenhänge aufgezeigt werden können. Jedenfalls aber hatte in Europa Italien hier die besten Voraussetzungen.

Zwei weitere Fakten sind hier noch zu erwähnen. Wie bei vielen Dienstleistenden im Barockzeitalter war es auch bei Musikern üblich, einen Teil ihres Lohnes in Naturalien auszuzahlen. Diese Naturalleistungen machten nun den Arbeitgebern am wenigsten Kosten, wenn sie diese aus der eigenen Landwirtschaft liefern konnten, statt auf dem Markte zu beschaffen. Interesse an der Landwirtschaft und der Kultur ergänzten sich somit gegenseitig. Via Adel und Kirche als Verteiler floss ein ständiger Geldstrom von den Bauern nach oben zu den kulturell Tätigen.

In den protestantischen Ländern wurde durch die Reformation der Kirchenbesitz verstaatlicht, in den katholischen bekanntlich nicht. Die Kirchenkapellen am Lateran und Santa Maria Maggiore wurden z. T. direkt aus dem Ertrag von landwirtschaftlichen Domänen unterhalten, und das Vermögen des Kapitels von St. Peter in Rom war zu 70 bis 80 Prozent in landwirtschaftlichen Grundstücken angelegt. Die Kirche war damit direkt an der Entwicklung der Landwirtschaft interessiert; vielfach waren Geistliche auch Verwalter grosser Güter oder Verfasser von Agrartraktaten. Andere Vermögenswerte kommen noch hinzu. Diese Vermögenswerte und die reichen Erträge waren die Grundlage dafür, dass in Italien eine gut ausgestattete Kirchenmusik unterhalten werden konnte. Sonst hätten, wie im protestantischen Deutschland, die Kommunen die Finanzierung übernehmen müssen.

Eine andere Konfessionskultur auch in der Musik

Die enorme Zahl des geistlichen Personals ist ein weiterer wichtiger Grund für die Entwicklung der barocken Kirchenmusik in Italien. Priesteramt und Musikerberuf waren nämlich dort häufig gekoppelt. Für Knaben aus einfachen Verhältnissen war der Eintritt in den geistlichen Stand fast die einzige Möglichkeit zu einem sozialen Aufstieg. Über die Dichte der freiberuflich tätigen Musiker haben wir wenig Angaben, doch war sie ebenfalls sehr gross.

Das Musikleben muss in Italien im Barock eine aussergewöhnliche Breite gehabt haben; ich habe bereits bei den verschiedenen Kirchen darauf hingewiesen. In den Städten sind die Opernhäuser ein Gradmesser. In Deutschland gab es neben den Hoftheatern nur in Hamburg und Leipzig bürgerliche Opernbühnen, die allen offen standen. Beide existierten aber nur ein paar Jahrzehnte lang. In London, damals schon eine Halbmillionenstadt, wurde die Lage kritisch, als eine zweite konkurrierende Oper eröffnet wurde – beide machten schliesslich Konkurs. Die Blüte der barocken Musik in Italien war neben den Finanzen und dem Personal letztlich eine Frage der verschiedenen Wertung der Kultur. Dies kann an einem letzten Beispiel, den Akademien, gezeigt werden. Die Akademien waren fast immer gesellschaftliche Treffpunkte des gehobenen städtischen Bürgertums, der freien Berufe und der Intellektuellen. Diese interessierten sich vor allem für die Antike, die Poesie, die Künste, Philosophie, eine idealisierte Geschichte und eben auch für die Musik.

Auch in der Musik zeigen sich die grundlegend verschiedenen Konfessionskulturen Europas in der frühen Neuzeit. Italien war im Barock wie in eine Wolke von omnipräsenter Musik eingehüllt. Auch die Minderbemittelten konnten durch die kirchlichen Veranstaltungen, aber auch viele Feste im Freien mit Musik daran teilnehmen, ein weiterer Grund für deren breite Rezeption. Für die oberen Schichten aber war sie eine standesgemässe Beschäftigung, die offenbar weit mehr als andere geliebt wurde. Hohe Politik und Kriegführung, Kolonialunternehmungen und Überseehandel, Nationalökonomie und wirtschaftlicher Fortschritt, Börsenspekulation und Naturwissenschaften interessierten die Italiener kaum. Sie überliessen das den Protestanten, den Holländern und Engländern. Für sie war viel wichtiger, ob der Kastrat oder die Primadonna die halsbrecherischen Arien in der neuesten Oper wirklich bravourös bewältigte. 

 

1 Der hier abgedruckte Text ist eine Kurzfassung des Vortrags, den Peter Hersche am 31. Januar 2015 am Römischen Institut der Görres-Gesellschaft in der Aula des Campo Santo Teutonico (Vatikan) gehalten hat.

Peter Hersche | ©Bertram Walter

Peter Hersche

Prof. Dr. em. Peter Hersche lehrte Geschichte an der Universität Bern. Er gehört zu den bekanntesten Erforschern der Mentalitäts- und Sozialgeschichte des frühneuzeitlichen Katholizismus. Berühmt wurde er durch sein Standardwerk "Musse und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter " (Herder-Verlag 2006, angezeigt in der SKZ-Ausgabe Nr. 27–28 / 2009, S. 473).